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3.4.1. Aby Warburg und der Warburg-Kreis

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Die Weiterentwicklung verdankt die ikonographische Methode Aby Warburg und Erwin Panofsky. Den aus einer Bankiersfamilie stammenden Warburg, dessen Kunstgeschichtestudium einer Familienrevolte glich, faszinierte von Jugend an das Nachleben der antiken Kunst in der Renaissance. Das Thema wurde für ihn seit einem mehrjährigen Aufenthalt in Florenz zu einem lebenslangen Forschungsprojekt. Das zentrale Element war, dass Warburg für das Verständnis der Kunst eine umfangreiche kulturwissenschaftliche Kontextualisierung forderte. Nur mit einer derartigen geistesgeschichtlichen Rüstung könne man die zahlreich verborgene Symbolik entschlüsseln. Vielleicht regte ihn das Renaissance-Konzept des uomo universale, des universell gebildeten Künstler-Wissenschaftlers, dazu an.


617 Aby Warburg

Neuplatonismus und Dynamismus

Hülk 2012, 169

Sein spezieller Beitrag zur Kunstgeschichte in diesem größeren Zusammenhang war die Orientierung auf den fundamentalen Einfluss des Neuplatonismus auf die Kunst, insbesondere auf jene der Renaissance. Berühmt wurden seine in der Doktorarbeit (1893 erschienen) durchgeführten Deutungen der Botticelli-Bilder Die Geburt der Venus und Der Frühling als Illustrationen des neuplatonisch inspirierten unvollendeten Gedichtes Stanze per la giostra von Angelo Poliziano. Die neuplatonische Deutung, die er den Bildern gab, lebte von einer Deutung, die den Dynamismus der neuplatonischen Systeme in den Vordergrund rückte und so grundlegend den Vorgaben Winckelmanns widersprach. Die Arbeit Warburgs über Botticelli war »der Beginn seiner radikalen Bildwissenschaft der Bewegung sowie der Umdeutung und Dynamisierung der Winckelmann’schen Antikenrezeption […].«

Warburg 2010, 294

Ebd., 305

Ebd., 307f

Dabei hatte ihn das, worauf er stieß, anfangs selbst erheblich irritiert. Die Renaissance war nicht – so musste er konstatieren – der ruhigen Besonnenheit eines Piero della Francesca gefolgt, sondern in ein »dämonisches Pathos« Pollaiuolos verfallen. In Florenz um 1490 drängte alles darauf hin, »das bewegte Leben im höhern Stile der grossen Kunst heidnischer Vorfahren zu fassen und umzuprägen.« Warburg empfand das gerade so, als würde er den Barockstil in dem von uns gerne als naive Ruhe interpretierten Quattrocento und dessen antikem Vorbild entdecken. »Wir entschliessen uns jetzt allmählich, diese klassische Unruhe als eine wesentliche Eigenschaft der antiken Kunst und Kultur anzusehn; durch die religionswissenschaftliche Durchforschung des griechisch-römischen Altertums lernen wir aber mehr u. mehr, die Antike gleichsam im Symbol einer Doppelherme von Apollo und Dionysos zu schauen.«

Rösch 2010, 30

Astrologie und Magie

Die Irritation Warburgs rührte nicht zuletzt von da her, dass das Pathos, das er entdeckte, seiner Vorstellung von Aufklärung und menschlicher Evolution widersprach. Lange Zeit blieb eine »lineare[n] Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vom magischen zum vernünftig-rationalen Denken [ist] für Warburg – ebenso wie z.B. für Cassirer – zentral […].« In Studien zu Dürer und Leonardo da Vinci fand Warburg die Errungenschaft der antiken Sophrosyne (Gelassenheit) gegen das Pathos in Stellung gebracht. Ein solch einfaches Weltbild zerbrach für Warburg endgültig als er sich Studien zum magischen Anteil der Renaissance zuwandte, den er vorher gerne ins Mittelalter abgeschoben hatte. Die Neusichtung war unvermeidlich geworden, als er sich der Deutung der rätselhaften astrologischen Fresken des Francesco del Cossa im Palazzo Schifanoia (Ferrara) zuwandte. Er stellte die Ergebnisse 1912 auf einem Kunsthistorikerkongress in Rom vor. Rationalität der Wissenschaft und Mythos waren hier ein schwieriges Verhältnis eingegangen. Warburg begab sich auf einen Pfad, der bis zu Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung reicht.


618 Sandro Botticelli, Der Frühling; GU

Bialostocki 1973, 31

Das Anliegen der neuen Methode war, die verborgene Symbolik vor allem der Kunst der Renaissance kunstgeschichtlich adäquat abbilden zu können. War die mittelalterliche Kunst aufgrund des einheitlichen christlichen Weltbildes mit einer ähnlich einheitlichen Symbolik und einer klaren didaktischen Funktion scheinbar einfach zu entschlüsseln, begann man in der Renaissance, die Kunst zu verrätseln. Als Folge der Wiederentdeckung der Antike ging es auch um Demonstration der Bildung. »Je verfeinerter das Konzept war, je schwieriger die Symbolik, umso enger der Kreis derer, die das Werk tatsächlich verstehen können.«

II.2.7.

1419 entdeckte man die Hieroglyphica des Horapollon. Emblembücher entstanden in großer Zahl. Erst eine umfassende Kenntnis der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge ermöglicht es, die komplexe Symbolik zu entschlüsseln und sie im Kontext der Kunstgeschichte zu würdigen. Aus dieser Motivation begann Warburg, eine umfangreiche Bibliothek zur gesamten Geistesgeschichte aufzubauen. Sie war ab etwa 1918 allgemein zugänglich und bildete die Grundlage des Warburg-Instituts in Hamburg.

Warburg 2010, 538

Zwischen 1918 und 1924 laborierte Warburg an einer schweren psychischen Krankheit. Er musste die Jahre in einer geschlossenen Anstalt in Kreuzlingen verbringen. Beinahe symbolhaft vollzog sich dabei ein Umdenken in der Einstellung zum Magischen. Er beendete den erfolgreichen Kampf gegen seine Krankheit mit einem Vortrag 1923 in Kreuzlingen, wo er aus seinem neu gewonnenen Blickwinkel das Material einer 27 Jahre zurückliegenden Forschungsreise zu den Pueblo-Indianern neu auswertete. Inzwischen mit dem Symbol-Begriff Cassirers vertraut, sah Warburg die Indianer als symbolisch handelnde Menschen, zwischen »zupackenden Greifmenschen und verharrenden Begriffsmenschen«.

Mnemosyne

Diers 2009, 181ff

Ebd., 184

Sein letztes großes Projekt, begonnen um 1926, war die Erstellung eines enzyklopädischen Bilderatlas, der vom 2. Jt. vor Christus bis zum 7. September 1929 reichen und die Kulturepochen von Mesopotamien über Rom bis Hamburg umfassen sollte. Er gab ihm den Namen der Erinnerung, der griechischen Mutter der Musen: Mnemosyne. Den gleichen Namen zierte übrigens der Eingang zu seiner Bibliothek in Hamburg. Zu Studienzwecken für diesen Atlas reiste er unter anderem 1928/29 neun Monate nach Italien und baute im Palace-Hotel in Rom ein Arbeitsatelier in seinem Zimmer auf, das er in seinem Tagebuch skizzierte. Als nicht eben eleganten, aber das gesamte Anliegen in einen Satz verdichtenden Untertitel meldete Fritz Saxl folgenden Formulierungswunsch an den Verlag: Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance.

Ebd., 200

III.2.3.3.2.

Rösch 2010, 99

Er ging mit großem Ernst und voller Energie daran, innere und äußere Bewegungen, auf die er in der Renaissance-Kunst ständig stieß, mit kulturgeschichtlichen Hintergründen zu erklären. Dabei benützte er unter anderem die Rede von vorgeprägten Ausdruckswerten. Sie erinnert an den von Panofsky in seiner Gotikdeutung verwandten Begriff mental habit. Das gewaltige Projekt mit zuletzt 63 Tafeln mit knapp 1000 Abbildungen blieb unvollendet, weil Warburg bald nach seiner Italienreise starb. Keineswegs war der Bilderatlas als eine Kunstgeschichte ohne Worte gedacht, wie manchmal gemutmaßt wird, vielmehr war das erläuternde Wort unabdingbar, dessen Verstehen aber eine gründliche Kenntnis des Anliegens Warburgs voraussetzt. Das Projekt zollte auch der Tatsache Respekt, dass das Bild in der Kunstgeschichte einen zentralen Platz hat und nicht in die Sprache aufgelöst werden kann. Vielleicht könnte man von einem frühen iconic turn in der Kulturwissenschaft sprechen, was insbesondere auch für Warburgs Vortragsstil gilt, der »eine Form performativen Sprechens und ›Demonstrierens‹« annahm – Warburg selbst sprach einmal von seiner »oratorischen Ballistik«. Insofern könnte man (ähnlich wie Eric A. Havelock dies für die Fragmente der Vorsokratiker einforderte) in der fragmentarischen und hauptsächlich bildlichen Arbeit am Atlas ein methodisches Interesse vermuten: »Diese anderen Arten des Schreibens [gegenüber dem wissenschaftlich-exakten Schreiben; BB] aber sind augenblickshaft, transitorisch, ausschnitthaft, und stellen keine Gefahr der ›Fixierung‹ und ›Stillstellung‹ dar.«

Diers 2009, 188f

Das Forschungskonzept des Instituts beschreibt Michael Diers folgendermaßen: »Es zielt darauf ab, den Werken der bildenden Kunst und der Bilderwelt im allgemeinen jenen kulturellen historischen Kontext zurückzugewinnen, der häufig abgespalten oder verlorengegangen, zum angemessenen Verständnis aber erforderlich ist.«

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten übersiedelte das Institut 1933 unter der Leitung des in Wien geborenen Fritz Saxl nach London. Saxl und Warburg waren 1910 zusammengetroffen, 1914 war Saxl in die Bibliothek eingetreten und zu einem engen Mitarbeiter und Freund Warburgs mit großem Organisationstalent geworden. Der Ausbau der Warburg-Bibliothek zu einem renommierten Forschungsinstitut wurde vor allem von ihm betrieben.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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