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Acht

- 1691 -

Inzwischen war ein neues Jahr angebrochen und Sean hatte seinen zwölften Geburtstag gefeiert. Der letzte Tag im Januar war in diesem Jahr ein verregneter Mittwoch gewesen und Sean durfte zum ersten Mal Arthur zum Fest mit einladen. Sean freute sich sehr, dass ein Kind (besonders sein bester Freund) dabei war, aber Arthur saß schüchtern auf seinem Stuhl an dem langen Esstisch und kaute stumm seine Torte. Er hatte zwar noch nie Torte gegessen, aber das große Haus und Seans Eltern schüchterten ihn doch stark ein.

Seans Großmutter konnte leider nicht mitfeiern, sie war wieder schwächer geworden. Die letzten Besuche bei ihr bedrückten Sean sehr, obwohl er sie schon oft schwach erlebt hatte. Sie wirkte noch teilnahmsloser als je zuvor.

Um sich von dem traurigen Besuch bei seiner Großmutter aufzumuntern, wollte Sean zu Jaimie gehen, was er sich schon so lange vorgenommen hatte. Jaimie hatte mit seinen Eltern die Übereinkunft getroffen, dass er noch ein paar Jahre mit seinen Musikerfreunden umherziehen durfte, bis er ganz auf der Burg bleiben würde, um sich seinem künftigen Beruf, der Stallmeisterei, zu widmen.

Bis dahin sollte er sich immer wieder auf der Burg einfinden. Von Arthur wusste Sean, dass Jaimie gerade eine Weile zu Hause war und so wollte Sean die Chance nutzen. Er stapfte durch den frischen, feuchten Schnee zum Burton-Haus. Als er klopfte, öffnete Fiona die Tür mit dem kleinen Angus auf dem Arm. Er entwickelte sich prächtig.

„Hallo Sean. Komm rein, Arthur ist oben“, begrüßte sie ihn freundlich.

„Guten Tag, Mrs. Burton, ist Jaimie da? Ich wollte schon lange einmal seinen Dudelsack sehen.“

Dabei zog er seinen Mantel und seine Stiefel aus.

Etwas überrascht antwortete Fiona: „Ja, Jaimie ist auch oben. Geht es dir gut?“

Liebevoll blickte sie dabei auf Angus, der vor sich hin gluckste und sie mit seinen großen blauen Augen ansah.

„Ja, danke“, sagte Sean freundlich und ging die schmale Treppe hinauf.

Kurze Zeit später, im größeren Kinderzimmer, war Jaimie voll in seinem Element und Sean lauschte gespannt.

„Und das hier ist die Spielpfeife. Mit ihren Grifflöchern kann man die Melodie spielen. Manche Dudelsäcke haben auch zwei Spielpfeifen, aber das war mir zu teuer.“

Er zeigte und erklärte Sean mit leuchtenden Augen und großen Gesten die Funktionsweise seines Dudelsacks. Staunend betrachtete Sean die Pfeife, die an einem Sack aus Ziegenleder befestigt war. Windsack hieß dieser, hatte Jaimie ihm erklärt.

„Und das hier sind die beiden Bordunpfeifen. Damit werden die gleichbleibenden Grundtöne erzeugt.“

Jaimie klemmte sich den Sack unter seinen linken Arm, pustete Luft hinein und presste sie in die Pfeifen. Er spielte eine schöne Melodie und Sean war begeistert.

„Das klingt ja wunderbar!“, staunte Sean.

„Die Pfeifen sind aus Hartholz und die Schmuckringe aus Tierhorn. Welche aus Silber oder Elfenbein konnte ich mir nicht leisten.“

„Ich finde sie trotzdem wunderschön“, ermutigte ihn Sean. „Es kommt doch auf den Klang an, und der ist wirklich erstklassig.“

Hocherfreut spielte Jaimie noch eine Weile und Sean ließ sich in die Musik fallen. Er bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Arthur, der sich nicht einmischen wollte, las ein Buch.

„Willst du es auch mal probieren?“, fragte Jaimie plötzlich. Sean reagierte erst gar nicht, er war mit seinen Gedanken ganz woanders.

„Wie bitte? Was hast du gesagt?“

„He, du Träumer! Ob du auch mal spielen willst, hat er gefragt!“

Das war Arthur, den es insgeheim etwas störte, dass Sean seine Aufmerksamkeit einem anderen schenkte.

„Äh ja, gern“, stammelte Sean.

Umständlich nahm er den Dudelsack in die Hand und wusste erst gar nicht, wie er ihn halten sollte. Nach einer Weile schaffte Sean es irgendwie, sich den Windsack zu Jaimies Zufriedenheit unter den Arm zu klemmen. Aber pusten, pressen und spielen war einfach zu viel für ihn. Sean gab auf.

„Wie hast du das nur gelernt, Jaimie?“, fragte Sean ehrfurchtsvoll.

„Am Anfang habe ich mich genauso wie du angestellt. Aber ich hatte zum Glück einen geduldigen Lehrer und da ging es dann irgendwann. Man muss natürlich sehr viel üben“, antwortete Jaimie stolz.

Nach einer Weile fragte Sean:

„Hast du Lust, mir von deinen Abenteuern zu erzählen?“

Das interessierte ihn brennend.

„Natürlich! Hm, mal überlegen. Ich habe so viel erlebt…. Aha. Mir fällt etwas ein. Also: Einmal haben wir in Edinburgh gespielt.“

„Edinburgh? Da wohnt mein Onkel Ennis. Er ist Professor“, sagte Sean stolz. Arthur verdrehte die Augen, Jamie nickte und erzählte weiter.

„Ich fand es sehr beeindruckend und hatte vorher noch nie so eine große Stadt gesehen. Sie ist ja die Hauptstadt von Schottland.“

Sean nickte eifrig.

„Schon von Weitem konnten wir den Burgberg sehen. Von drei Seiten fallen die Felsen fast senkrecht herab, nur von der Ostseite ist er erreichbar. Auf diesem gigantischen Bergplateau ragt das Edinburgh Castle in die Höhe. Es bildete den Ausgangspunkt der Besiedlung von Edinburgh. Wir wollten es uns anschauen, aber leider ist die Burg seit Anfang dieses Jahrhunderts unbewohnt, da der König nun in London lebt.“

„Das ist ja schade“, sagte Sean bedauernd.

„Aber wir konnten etwas anderes Interessantes erleben. Als wir auf der High Street Richtung St. Giles Cathedral mit unserem Wagen fuhren, strömte eine Masse Menschen in Richtung des Kirchplatzes. Dort muss irgendetwas passieren, dachten wir uns. Je näher wir zu dem Platz kamen, desto schwerer war das Durchkommen. Also stellten wir unseren Wagen in eine Gasse und zählten aus, wer von uns dortbleiben musste, um unsere wertvollen Instrumente, unser Pferd, unseren Wagen und unsere anderen Habseligkeiten zu bewachen. Ich war es zum Glück nicht, den es getroffen hatte.

Als wir bei der Kathedrale ankamen, in der früher die Könige von Schottland gekrönt wurden, war der Platz voll. Man konnte das hohe Stadtkreuz aus den Menschenmassen herausragen sehen. Aber noch eindrucksvoller war ein großer Apparat aus Holz, der auf einer Bühne stand. Wir fragten uns, für was er da sein könnte. Zwei große Balken standen senkrecht in die Höhe und wurden von einem dritten waagerechten gestützt. Zwischen den senkrechten Balken befand sich eine dünne Platte, die man hinauf und hinunter ziehen konnte. Doch weiter konnte ich den Apparat nicht betrachten, da etwas anderes meine Aufmerksamkeit verlangte. Ein Mann mit einem Sack über dem Kopf wurde unter lautem Rufen der Menge auf die Bühne gestoßen. Wir verstanden erst nicht, was die Leute riefen, aber dann hörten wir eindeutig die schaurigen Worte: Tötet ihn, tötet ihn! Wir waren doch tatsächlich bei einer Hinrichtung dabei!“

Sean lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auch Arthur zeigte jetzt seine Aufmerksamkeit. Diese Geschichte kannte er von seinem Bruder noch nicht.

„Und wie ging es weiter?“, fragte Sean gespannt.

„Ein Mann rief ein paar Sätze über die Vergehen des Gefangenen, dann wurde der Verbrecher gezwungen, sich vor einen Holzblock unten am Apparat hinzuknien. Die Menge jubelte immer lauter, aber mir war entsetzlich übel geworden. Doch ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Schließlich ging alles ganz schnell. Der Kniende schrie verzweifelt irgendetwas Unverständliches und dann sauste die Platte, die eigentlich ein dünnes Beil war, herab und schon kullerte der Kopf des Verbrechers blutig über die Bühne. Sein Körper sackte zusammen und aus seinem Hals spritzte das Blut in Fontänen. Nie wieder habe ich so etwas Schreckliches beobachtet.“

Sean schwieg betreten, die Bilder des geköpften Mannes vor Augen. Auch Arthur blieben die Worte im Halse stecken.

„Später habe ich erfahren, dass diese Tötungsmaschine Scottish Maiden - schottische Jungfrau heißt. Furchtbar, was sich Menschen alles ausdenken!“

Sean konnte immer noch nichts sagen.

Jaimie, unsicher, ob es richtig war, den Jungen so etwas zu erzählen, fragte: „Soll ich dir noch etwas erzählen, Sean?“

„Ähm, erst einmal nicht. Das muss ich erst verdauen.“

Er hatte vorerst genug von Jaimies Abenteuern.

„Aber wenn du magst, kannst du mir noch etwas vorspielen“, sprach er diplomatisch. Jaimie setzte begeistert den Dudelsack in Gang.

Nach einer Weile, als es bereits dunkelte, wurde Sean unruhig. „Ich muss nach Hause. Vielen Dank, Jaimie! Deine Musik ist traumhaft schön.“

Jaimie, dankbar für das Kompliment, winkte fröhlich zum Abschied. „Danke, bis bald!“

Arthur bot Sean an, ihn nach Hause zu begleiten, was Sean dankend annahm. Auf dem Weg erholten sie sich von ihrem Schreck und unterhielten sich wortreich über die gehörten Grausamkeiten.

***

Mitte September sprach eines Tages Alistair McCunham zu seinem Sohn, als die Familie gerade am Frühstückstisch saß: „Sean, ich habe eine Überraschung für dich.“

Dieser verschluckte sich fast an seinem Bissen Brot und fragte neugierig: „Was ist es, Vater?“ Er schaute zu seiner Mutter, die etwas säuerlich lächelte. Irritiert blickte Sean wieder zu seinem Vater. Was freut meinen Vater so sehr und verärgert gleichzeitig meine Mutter?

„Heute nehme ich dich mit zur Jagd. Friseal ist schon ganz aufgeregt“, antwortete Alistair.

Friseal, deren Name Erdbeere bedeutete, war die Hündin der Familie und ein Schottischer Deerhound. Wie der Name dieser ältesten Hunderasse Schottlands verrät, wurden die Tiere für die Hirschjagd gezüchtet. Die Hunde konnten eine Schulterhöhe von bis zu 30 Zoll16 erreichen und rannten bei der Jagd vor dem Pferd her. Friseal war schon etwas älter, aber immer noch topfit. Alistair, der Tiere sehr mochte, hatte sie selbst zum Jagdhund ausgebildet. Wenn man sagen kann, dass der Laird von Dunnottar Castle Freunde hatte, dann war dieser Hund einer davon.

„Ich darf mit zur Jagd? Wie konntet Ihr Mutter dazu überreden?“, sprudelte es aus Sean heraus. Sean wurde sofort rot, weil er so frech gefragt hatte.

„Dein Vater und ich haben uns darauf geeinigt, dass es gut für dich ist, eine solche Erfahrung zu machen. Er versicherte mir, dass du inzwischen sehr gut im Sattel sitzt und es keinerlei Gefahr gibt“, antwortete Raelyn hochnäsig und etwas missmutig. Ihr war es alles andere als recht, dass ihr Sohn wie wild durch den Wald ritt und schon die Anwesenheit von Armbrüsten ließ sie erschauern. Aber sie wollte ihrem Gemahl dieses Vergnügen nicht verderben.

Nach dem reichhaltigen Frühstück ging es los. Jagden im Morgengrauen waren in Schottland nicht üblich. Sean hatte seine Reitkleidung angezogen und den von Kirstie vorbereiteten Proviant in seine Tasche gepackt.

Vika, die ihn schon gewittert hatte, schnaubte aufgeregt, als er mit seinem Vater und den anderen Jägern zu den Stallungen kam. Sie stand schon bereit in ihrer Box. Friseal bellte und hüpfte ebenfalls aufgeregt. Sie schnupperte neugierig an den anderen Hunden, die sie bereits kannte.

Alistairs Pferd Beira war ebenfalls bereits von Tevin gesattelt worden. Seans Vater hatte seine Stute nach der Riesin benannt, die in einer alten schottischen Sage Ben Nevis, den höchsten Berg des Landes, erschaffen hatte. Beira aus der Sage liebte Schnee und Eis und da passte der Name zu dem grau-weißen Fell des Pferdes sehr gut, fand Sean. Außerdem war die Stute ebenfalls sehr groß.

Sean sah die Waffen der Jäger: kostbare Jagdarmbrüste aus edlem Holz und poliertem Horn. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, wie diese funktionierten und Sean hatte aufmerksam gelauscht. Zuerst musste der Bogen gespannt und der Bolzen aufgelegt werden und dann löste der Stecher nach einem kleinen Fingerdruck den Bolzenschuss aus.

Alistair und seine Jagdkollegen benutzten keine Feuerwaffen. Sie fanden diese unritterlich und außerdem störte sie der laute Büchsenknall und der unangenehme Pulverdampf.

Die Armbrust war laut Alistair die ideale Jagdwaffe, weil sie nahezu geräuschlos schoss und so das Wild nicht vertrieb. Außerdem kam es durch die Bogenspannung zu einer hohen Durchschlagskraft und man konnte das Wild lange mit gespannter Armbrust verfolgen, ohne dass die Bogenspannung und damit die Schussweite nachließen.

Jeder Jäger hatte einen Köcher mit etwa zwölf Bolzen dabei. Diese Bolzen waren mit verschieden geschliffenen Eisenspitzen bestückt und die Schäfte wiesen unterschiedliche Befiederung auf. So gab es für jeden Zweck einen eigenen Bolzen. Man konnte die Tiere entweder nur betäuben oder unterschiedlich tief in deren Körper eindringen.

Sean hatte sich oft schon vorgestellt, einmal solche Waffen im Einsatz zu sehen. Obwohl er Tiere sehr mochte, empfand er es nicht als schlimm, diese zu töten. Nun war er also mit dabei und konnte auf die Pirsch gehen. Natürlich würde er keine Waffe in die Hand nehmen, das hatte er seiner Mutter versprochen, aber allein das Zuschauen würde bestimmt sehr aufregend werden.

Als alle Pferde gesattelt und die Jäger aufgestiegen waren, setzte sich die Jagdgesellschaft in Bewegung. Sean durfte mit seinem Vater an der Spitze reiten. Stolz hob er das Kinn und lenkte Vika den schmalen Pfad mit den vielen Stufen zum Festland entlang. Die Hunde rannten aufgeregt um die Gruppe herum. Es waren alles Deerhounds und ähnlich groß. Ihr langes braun-graues Fell glänzte im leichten Regen. Trotz des Regens war es noch erstaunlich warm und Sean kam schnell ins Schwitzen in seiner ledernen Reitkleidung, die mit Kaninchenfell gefüttert war. Er hatte schon wesentlich kältere Tage in dieser Jahreszeit erlebt.

Sean drehte sich um und betrachtete die Jagdgesellschaft. Er zählte zehn Männer unterschiedlichsten Alters und erinnerte sich, einige davon schon einmal gesehen zu haben. Sean hatte immer gern beobachtet, wenn sein Vater zur Jagd auszog. Und heute war er selbst dabei! Seans Vater hatte ihm erzählt, dass sie vorwiegend Rothirsche jagten. Zahlreiche Geweihe konnte man in der Eingangshalle von Dunnottar Castle bewundern.

Die Jagd war von jeher sehr beliebt bei den Männern höheren Standes. Und schon oft hatte Alistair stolz seinem Sohn die Trophäen gezeigt. Es befanden sich viele Sechs-, Acht- und Zehnender darunter. Doch der wahre König der Hirsche, ein sogenannter Kronenzwölfer, hing majestätisch in der Mitte. Seans Onkel Ennis hatte ihn vor fünf Jahren geschossen, als er ein paar Tage auf der Burg verweilte.

Eine ganze Weile ritt die Jagdgesellschaft auf dem Küstenweg entlang, der nach Stonehaven führte. Sean genoss die fabelhafte Aussicht auf das stürmische Meer. Es regnete jetzt stärker und kalter Wind pfiff ihm um die Ohren. Sean schaute zurück und sah, wie Dunnottar Castle immer kleiner wurde.

Plötzlich lenkte Alistair Beira nach links und sie kamen auf einen breiteren Weg, der ins Landesinnere führte. Die Gegend wurde zunehmend hügeliger und Sean fragte sich, ob dies schon die Ausläufer der Grampian Mountains wären. Von diesem weit ausgedehnten Gebirge aus Granit, Gneis, Marmor und anderen Gesteinen hatte ihm einmal Mr. Sutton erzählt. In dem Gebirge war auch Ben Nevis zu finden, der mit seinen 4413 Fuß17 als höchster Berg Schottlands über der Landschaft thront.

Eine Weile mussten sie leicht bergauf reiten, bis am Horizont ein Wald auftauchte. Scheinbar war dieser ihr Ziel.

Sean schaute angestrengt in Richtung Wald und erkannte beim Näherkommen schließlich, dass es sich größtenteils um Kiefern und Eiben handelte. Sein Vater erzählte ihm, dass es früher in der Gegend weit ausgedehnte Wälder gab, diese aber wegen zunehmendem Ackerbau und der Gewinnung von Weideland immer mehr abgeholzt wurden. Sean war nicht oft im Wald, aber er hatte die Abbildungen in den Büchern aus der Bibliothek studiert.

„Vater, was bedeutet eigentlich Clan?“, fragte Sean. Er hatte das Wort schon so oft gehört oder gelesen, aber bisher noch nicht näher darüber nachgedacht.

„Das ist so etwas wie eine große Familie. Es gibt überall Clans in den Highlands. Ich habe einmal gehört, dass es fast 200 Clans sein sollen. Sie gehen auf die alte keltische Stammeszugehörigkeit zurück.“

„Ja“, nickte Sean. „Von den Kelten habe ich schon einmal gelesen. Sie besiedelten vor vielen Jahrhunderten unser Land.“

Alistair nickte.

„An der Spitze jedes Clans gibt es den Clanchief. Er ist dem König direkt unterstellt, muss ihm militärisch dienen und sowohl einen Teil der Ernte als auch des Viehs an ihn abgeben. Er hat außerdem mehrere Lehnsmänner unter sich, die ihm auch etwas abgeben müssen. Das Land und der Titel des Clanchiefs wird an seine Söhne weitervererbt.“

„Und was sind Lehnsmänner?“

„Die Tacksmen bewirtschaften gemeinsam ihr Lehen, ihr Stück Land, das sie sich vom Clanchief ausgeliehen haben.“

„Seid Ihr denn der Clanchief vom McCunham-Clan, Vater?“

„Ja. Unser legendärer Ahne Cináed Afton hat vor mehreren Jahrhunderten unser Land erworben und den Clan gegründet. Er entwarf unser Wappen und beeinflusste das Tartan-Muster.“

„Von ihm hat mir Großmutter erzählt“, sagte Sean.

Ihm war das Wappen mit dem Seehund und den drei Wellen sehr bekannt. Man konnte es an vielen Stellen im Dunnottar Castle finden. Sean hatte schon oft die darauf dargestellten Tiere an der Küste der Old Hall Bay im Süden des Castles beobachtet. Und ebenso kannte er den leuchtenden Stoff aus dunkelblauen und orangen Karos des Tartans. Unter anderem war seine warme Weste daraus gemacht.

„Du wirst eines Tages auch das Oberhaupt vom McCunham-Clan sein, mein Sohn“, sagte Alistair stolz.

Sean wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Nachdenklich ritt er weiter.

Die Jäger tauchten in die stille, fast märchenhafte Atmosphäre des Waldes ein. Der Regen kam nicht mehr bis zum Boden, der mit Heidekraut bewachsen war. Es roch feucht und erdig. Sean liebte diesen Geruch. Er war gespannt, was nun passieren würde.

Sie ritten tiefer in den Wald hinein. Bald bogen sie vom Weg ab, gerieten an den Rand einer Lichtung und hielten an. Die Jäger spannten ihre Armbrüste und legten den ersten Bolzen auf. Es war sehr still. Die Pferde und Hunde schienen darauf trainiert zu sein, ruhig zu bleiben. Nur einzelne Vögel konnte man hier und da hören. Sean kam es vor wie eine Ewigkeit, es passierte nichts.

„Wie lange müssen wir noch warten?“, fragte er seinen Vater ungeduldig.

„Pst! Sei leise!“, antwortete dieser nur knapp.

Beleidigt streichelte Sean seine Stute. Irgendwie hatte er sich eine Jagd anders vorgestellt, auf jeden Fall spannender und aufregender.

Plötzlich wurden die Hunde unruhig. Sean lauschte und sperrte seine Augen auf. Auch Vika schien etwas zu spüren. Er hielt die Zügel straffer.

Auf einmal rannten Friseal und die anderen Hunde los, die Pferde hinterher. Sean wäre fast von Vikas Rücken gefallen und konnte sich gerade noch am Zügel festhalten. Es ging nun alles sehr schnell. Sean hatte gar kein Tier gesehen, das sie jagen konnten. Gefährlich und rasant ging es durch das Dickicht. Sean hatte keine Kontrolle mehr über sein Pferd. Er wurde ordentlich durchgerüttelt und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Nach einem wilden, für ihn unendlich scheinenden Ritt wurde Vika langsamer. Sean konnte wieder Atem holen. Er bemerkte, dass sich seine Finger so verkrampft am Zügel festhielten, dass es wehtat. Sean schaute sich um und konnte niemanden sehen, doch die Hunde bellten. Er lenkte seine Stute in diese Richtung und sah dann zum Glück seinen Vater und die anderen Jäger. Sie bildeten einen Kreis und Sean konnte nicht sehen, was in dessen Mitte lag. Die Hunde bellten und hüpften wie verrückt.

„Sean, komm her!“, rief sein Vater. „Schau, ich habe einen Hirsch erlegt!“

Benommen stieg Sean ab und lief zum Kreis. Da erblickte er einen frisch geschossenen, relativ großen Rothirsch. Sean zählte zehn Geweihenden. Es war ein wunderschönes Tier. Die anderen Jäger nickten anerkennend.

„Das wird eine schöne Trophäe. Ich zeige dir, wie wir ihn zerlegen und ausnehmen“, sagte Alistair stolz.

Sean war enttäuscht. Er hatte überhaupt nichts mitbekommen! Halbherzig schaute er zu, wie die Jäger das Fell abzogen, das Geweih abtrennten, die Innereien im Wald vergruben und den Körper zerteilten. Sie verstauten alles auf verschiedenen Pferden.

Für Sean, der dachte, dass die Jagd nun zu Ende wäre, wurde es ein langer Tag. Der Jagdhunger war noch nicht gesättigt und die Männer ritten noch bis zum Abend im Wald herum, lauerten und erlegten einige weitere Tiere. Zum Schluss waren die Pferde schwer mit drei Rothirschen, einem Reh, zwei Kaninchen und fünf Birkhühnern beladen. Die Jäger ritten erschöpft und zufrieden nach Hause.

Einer war nicht zufrieden. Sean fand die Jagd alles andere als spannend und wollte auf keinen Fall noch einmal mitkommen. Aber er freute sich auf die leckeren Wildbraten, die es in den nächsten Tagen geben würde.

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