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Achtzehn

- 1697 -

In der Dämmerung kamen Sean und Arthur erschöpft bei ihrer Unterkunft an. Lino wartete schon am gedeckten Tisch auf sie. Er freute sich sichtbar über seine Gäste.

„Hallo! Kommt herein. Habt ihr Hunger?“

„Und wie!“, strahlte Arthur.

„Es gibt wieder Fischsuppe, ich hoffe das stört euch nicht.“

„Wenn sie so lecker ist wie die von gestern, kann ich mir gerade nichts Besseres vorstellen“, entgegnete Sean lächelnd.

Die drei Männer aßen gemütlich die Suppe und obwohl sie müde waren, blieben Sean und Arthur noch sitzen, um sich mit ihrem Gastgeber zu unterhalten. Lino, der selten jemanden zum Reden hatte, berichtete gern über sein hartes und verlustreiches Leben.

„Ich bin vor 58 Jahren in dem kleinen Ort Capelo, im Nordwesten der Insel geboren. Das Leben als sechstes von zehn Fischerkindern war hart, aber ich empfand es durchaus als glücklich. Meine Eltern führten trotz aller Beschwernisse eine gute Ehe. Mit 24 Jahren hatte ich dann selbst das Glück, meine liebe zukünftige Frau Sol kennenzulernen. Sol war das einzige Kind ihrer Eltern und mit ihrer Mitgift und meinen Ersparnissen von der Fischerei konnten wir uns ein winziges Häuschen kaufen. Es war spartanisch, aber wir waren verliebt und stolz auf unser eigenes Zuhause. Nicht lange nach unserer Hochzeit wurde Urano geboren, zwei Jahre später Diogo.“

„Ich dachte, du hast zwei Töchter?“, warf Sean ein.

„Ja du hast Recht, zu ihnen komme ich später. Eines Morgens im Jahr 1672, ich war gerade beim Fischen, ziemlich weit draußen, als ich eine Erschütterung spürte. Sie war sehr stark. Auf den Azoren kommt es immer wieder zu Erdbeben und so beeilte ich mich, nach Hause zu meiner Familie zu gelangen. Da kam ein neuer heftiger Stoß aus der Erde. Er dauerte ungefähr eine Minute. Das war lang. Ich ruderte schneller. Kurz darauf hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall und sah, wie der gesamte Gipfel des Cabeço do Fogo weggesprengt wurde. Das ist der nächste Berg an meinem Heimatdorf.“

Sean und Arthur schauten sich entsetzt an, Lino erzählte weiter.

„Der Schock lähmte meine Bewegungen und ich hörte auf zu rudern. Eine Druckwelle kam auf mich zu, die vorher viele Pflanzen versengt hatte. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Oh nein! Ich musste zu meiner Familie! Über dem Berg entstand eine säulenartige Wolke aus grauem, dichtem Qualm, die sich immer höher aufbauschte. Der Himmel verdunkelte sich. Dann fing es an zu regnen, aber kein Wasser, sondern Asche und Steine kamen herunter. Ich sah und hörte Dorfbewohner, die panisch umher rannten. Wild vor Angst und Sorge ruderte ich zum Hafen und wollte mein Boot vertäuen. Ich war gerade im Begriff auszusteigen, da kam der Ascheregen auch zu mir. Er war heiß und brannte Löcher in meine Kleidung.

Aus einem Reflex heraus sprang ich ins Meer, um mich davor zu schützen. In diesem Moment dachte ich nicht an meine Familie, sondern an mein eigenes, nacktes Überleben. Ich sah, wie eine zähflüssige glühende Substanz sich den Hang herabwälzte, die alles, was ihr in den Weg kam, unter sich begrub. Mein Hirn konnte das Ausmaß des Schreckens gar nicht begreifen.

Unser Häuschen lag ziemlich nah am Berg, doch ich weigerte mich, daran zu glauben, dass meiner Familie etwas zugestoßen wäre. Sobald der Ascheregen etwas nachgelassen hatte, stieg ich aus dem Wasser. Ich sah, dass die todbringende Substanz gestoppt hatte. Der staubige Rauch und die trockene Hitze waren unerträglich und ich hatte Angst zu ersticken, doch ich musste meine Familie finden. So riss ich den nassen Ärmel meines Hemdes ab und band ihn mir vor den Mund, so kam ich langsam vorwärts.

Ihr könnt euch die Verwüstung ringsherum nicht vorstellen, dieses Bild sucht mich auch heute noch in meinen Träumen heim. Viele Häuser waren eingestürzt, andere fast vollständig verschüttet, die Menschen darin von den Trümmern erschlagen. Überall brannten Feuer, die meisten Menschen, Tiere und Pflanzen waren unter einer durchgängigen, dicken Ascheschicht begraben, die teilweise glühte. Nur einige verängstigte Lebewesen taumelten durch das Trümmerfeld. Die Erde war so heiß, dass ich nicht richtig laufen konnte. Meine ledernen Schuhsohlen begannen, sich zu zersetzen. Mit einer Mischung aus Humpeln und Hüpfen kämpfte ich mich mühsam vorwärts. Ich hatte das Gefühl, am lebendigen Leib zu verbrennen. Meine vorher klitschnasse Kleidung war längst wieder trocken, ich hatte Angst, dass auch sie Feuer fängt. Nach vielleicht hundert Metern hielt ich es nicht mehr aus, ich kehrte um zum Meer, in das ich mich dankbar und halbtot stürzte. Zu schwach zum Schwimmen ging ich unter wie ein nasser Sack. Ich hatte keine Hoffnung, keinen Lebenswillen mehr. Alles was ich liebte, was mir etwas bedeutete, war zerstört. Ich sank immer weiter und beruhigte mich in der kühlen Umarmung des Wassers.

Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich durchströmte mich ein Gedanke: Leben.

So begann ich, zuerst mit den Beinen zu schlagen und dann mit den Armen. Ich näherte mich der Wasseroberfläche und durchbrach sie mit aller neugewonnenen Kraft. Die Luft war immer noch voll Staub und Hitze. Ich schwamm zu meinem Boot und hievte mich hinein. Dann ruderte ich unter großen Mühen hinaus auf das Meer, bis die Luft besser wurde. Ich blieb lange da draußen und trauerte um meine geliebte Familie, Sol, Urano, Diogo, um unser Häuschen, das zu nah am Berg gestanden hatte, um mein Glück. Mein Heimatort war zerstört und innerhalb von ein paar Stunden war aus der herrlichen Landschaft eine leblose Wüste geworden.

Eine kleine Hoffnung keimte in mir auf, als ich an meine Eltern und Geschwister dachte. Vielleicht hatte doch jemand überlebt. Als ich mich nach unerträglichen einsamen und verzweifelten Stunden wieder ans Land wagte, hatte sich die Staubwolke größtenteils verzogen und die Asche war lauwarm. Ich konnte also endlich nach meinen Lieben suchen. Es stellte sich heraus, dass ein Schwager und zwei meiner Brüder als Einzige von meiner Familie überlebt hatten. Sie und die meisten der anderen Überlebenden wanderten kurz darauf nach Brasilien aus. Für mich kam das nicht in Frage, da ich meine Insel zu sehr liebte. Ich zog nach Horta und fing wieder ganz von vorne an.“

Sean und Arthur schwiegen lange. Dies war die bewegendste Geschichte, die sie je gehört hatten.

Schließlich brach Lino das bedrückende Schweigen. „Ich hatte trotzdem viel Glück in meinem Leben. Ich überlebte diese Katastrophe und traf bald darauf meine zweite Frau Thalita, mit der ich ein neues Leben anfing und meine zwei wunderbaren Töchter Gabriella und Laurinda bekam. Ich bin viel dankbarer geworden und erfreue mich auch immer mehr an den Kleinigkeiten des Lebens.“

„Und was ist aus Tha…“

„Thalita.“

„Und was ist aus Thalita geworden?“, wollte Arthur wissen.

„Sie ist leider bei der Geburt unserer zweiten Tochter gestorben.“

„Oh, das tut mir leid.“

Wieder schwiegen sie lange.

Sean und Arthur bedankten sich bald für Linos Essen und seine Offenheit und gingen schlafen. Sie mussten das Gehörte erst verarbeiten. Sean empfand tiefstes Mitgefühl für Lino und bewunderte ihn für seine Zuversicht und sein Durchhaltevermögen. Er wollte sich an diesem Mann ein Beispiel nehmen.

Die restlichen Tage auf der Insel waren von harter Arbeit am Tag und netten Gesprächen über erfreulichere Dinge mit Lino am Abend geprägt. Sean und Arthur kauften Verpflegung ein, füllten Trinkwasser in die unzähligen Fässer und verrichteten allerhand andere Dinge. Obwohl der Kapitän betont hatte, dass die Matrosen wieder Kräfte sammeln sollten, war eigentlich wenig Zeit zum Ausruhen.

Immer wieder drückte sich dieser seltsame Mann hämisch lächelnd um das Schiff herum, stets darauf bedacht, dass er von niemandem wahrgenommen wurde.

Die Mannschaft schaffte es gerade so, dass am siebenten Tag ihres Aufenthalts das Schiff startklar war. Der Bauch der Zeeland war zum Bersten voll mit Stockfisch, gepökeltem Rindfleisch (denn Kühe gab es zuhauf auf der Insel), Zwiebeln, Getreide, Kohl und anderen Lebensmitteln. Einen großen Teil nahmen die wertvollen Wasserfässer ein, aber auch Vorräte von Medikamenten und Verbandsmaterial waren zu finden. Einige Käfige mit Hühnern stapelten sich außerdem, so würde die Besatzung in der ersten Zeit Eier bekommen und später das Fleisch der wertvollen Vögel essen können.

Am Morgen der Abreise verabschiedeten sich Sean und Arthur traurig von Lino, der lauthals über den Verlust seiner lieb gewonnenen Gäste klagte. Als Dank überreichten die Beiden ihrem neu gewonnenen Freund ein Säckchen mit mehr Münzen, als sie eigentlich für Kost und Logis der letzten Woche bezahlen müssten. Lino nahm es mit Tränen in den Augen entgegen.

„Kommt mal wieder! Und gute Reise!“, schrie er ihnen noch winkend hinterher.

Wie schon den ganzen Morgen war die Insel Faial in dichten Nebel gehüllt, als zwei Stunden später die Leinen der Zeeland vom Pier gelöst wurden und die Ankerkette hochgehievt war. Matrosen kamen die Wanten heruntergeklettert, nachdem sie die Segel ausgepackt hatten. Der Wind fuhr in das Segeltuch und die Segel wallten und wölbten sich, die Leinen surrten und spannten sich. Die Zeeland war auslaufbereit. Mit Ächzen und Knarren legte das Schiff vom Kai ab und bekam Wasser unter den Kiel.

Sean stand am Heck und versuchte, einen letzten Blick auf die Insel zu erhaschen, die jetzt eine Woche sein Zuhause gewesen war. Er dachte auch noch einmal an Piet, der leider nicht mit ihnen weitersegeln würde, da er seinen Beruf im Moment nicht ausüben konnte. Piet würde mit dem nächsten Schiff wieder zum Festland zurücksegeln, er war nicht glücklich darüber. Der junge Seemann Vince, den Wilhelm von einer anderen Mannschaft abgeworben hatte, würde dafür seinen Platz in der Kombüse einnehmen. Sean hoffte, dass er halbwegs kochen konnte.

Faial machte Sean den Abschied nicht leicht, zu dicht war ihr Nebelkostüm. Sean schickte einen letzten Gruß an Lino und drehte sich um, in Richtung eines neuen Abenteuers und einer weiteren Reise ohne die Gewissheit auf ein gutes Ende. Er machte sich innerlich wieder mit der Zeeland vertraut, die die nächsten Wochen sein Zuhause sein würde.

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