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Zehn

- 1692 -

„Das muss Aberdeen sein!“, rief Sean freudig und spornte seine Stute an.

Erschöpft von dem anstrengenden, fünfstündigen Ritt durch weichen Schneematsch sehnten sich seine Glieder nach Erholung. Auch Arthur konnte sich kaum noch auf dem Pferd halten.

Sean hatte vor ihrer Flucht heimlich die Landkarte seines Vaters studiert und zum Glück war der Weg nach Aberdeen nicht schwer zu finden, denn er ging immer an der Küste entlang. Der silberne Mond hatte ihnen treu geleuchtet und wurde nun langsam von seiner goldenen Schwester, der Sonne, abgelöst.

Als die Jungen der Stadt näherkamen, bemerkten sie die eigenartige Farbe der Häuser. Die Gebäude bestanden alle aus einem silbergrauen Stein, der in der aufgehenden Sonne glitzerte. Einige sahen ziemlich beeindruckend aus, mit Türmchen und anderen Verzierungen. An der Kirche hielten sie an. Sie war aus dem gleichen Gestein gebaut und sah sehr alt aus.

Hier also wohnt meine Tante, dachte Sean. Er hätte sie gern besucht, aber es war keine Zeit und außerdem bestand die Gefahr, dass sie seiner Familie von seinem Besuch berichtete.

„Wo ist der Hafen? Ich sehe hier nur Häuser, Häuser, Häuser“, bemerkte Arthur schmollend.

„Ich muss den Weg zum Meer verpasst haben. Am besten fragen wir jemanden.“

Sean stieg ab und wandte sich an eine ältere Frau, die gerade mit einem Korb zu einem der Häuser ging.

„Ihr müsst diesen Weg dort in die Richtung reiten. Bald könnt ihr dann den Hafen sehen.“

Zur Unterstützung stellte sie den schweren Korb kurz ab und zeigte mit ihrer linken Hand in die von ihr beschriebene Richtung. Sean bedankte sich und kam wieder zu Arthur und Vika.

Sie mussten länger reiten als sie dachten, der Hafen war ein ganzes Stück vom Ortskern entfernt. Doch dann konnten sie die ersten Segelmasten aufragen sehen.

„Da, da sind Schiffe!“, rief Arthur aufgeregt. „Da müssen wir hin!“

Sean beschleunigte sein Pferd, auch er konnte es kaum erwarten, endlich am Hafen zu sein. Die Bucht mit den Schiffen wurde größer und größer, so auch die Begeisterung der beiden Jungen. Am Hafen angekommen, bot sich ihnen ein überwältigender Anblick.

„Sean! Hast du die Schiffe gesehen? Die sind ja riesig!“

„Wie soll ich die übersehen?!“, antwortete Sean belustigt und schaute ehrfurchtsvoll an einem 60 Fuß19 hohen Mast hinauf.

„Sie sind wunderschön.“

Der Hafen bestand aus einem großen natürlichen Becken mit einem Kai für große Zwei- bis Drei-Mastschiffe und einer Menge Anlegestege für kleinere Einmaster und Fischerboote. Am Ende wurde die Durchfahrt zum offenen Meer durch einen Damm mit einem Leuchtturm darauf verengt.

An diesem Morgen ankerten sieben große Schiffe an der Kaimauer und warteten darauf, dass sie beladen wurden. Armdicke Seile waren kunstvoll an den Pollern befestigt. Über Rampen gelangten die Seeleute mit ihrer Fracht auf dem Rücken auf die Schiffe und unbeladen wieder hinunter. Sean erinnerte das alles an einen Ameisenhaufen, den er einmal im Wald gesehen hatte. Die Berge der Ladung an Land wurden immer kleiner. Die Fässer und Säcke verschwanden über die Rücken der Männer-Ameisen im Bauch des Schiffes.

Seans Blick wanderte von den Schiffen zum großen Platz vor dem Hafenbecken. Erst jetzt entdeckte Sean die riesige Ansammlung von Marktständen, die dort aufgebaut waren. Die Schiffe hatten so sehr nach seiner Aufmerksamkeit verlangt, dass er nichts anderes hatte wahrnehmen können. Auch seine Ohren waren bisher irgendwie taub gewesen. Doch jetzt prallte eine Flut aus lauten, aufdringlichen Geräuschen auf ihn ein.

„FIIISCH, FRIIIISCHER FIIIISCH!!“

„WUUUUNDERBARE MEERFOREEELLE!“

„ZAAARTER LAAACHS!“

Die Marktleute fuchtelten wild in der Gegend herum, einige sogar mit den Fischen in der Hand.

Und der Geruch! Eine Welle aus salzigem Fisch-Duft schwappte in seine Nase. Sean musste schlucken und die Luft anhalten, um sich langsam daran zu gewöhnen.

„Sean, der Markt ist viel größer als der in Stonehaven! Und hier gibt es nur Fisch! Ich habe in meinem Leben noch nie soo viel Fisch gesehen! Das Meer muss ja leer sein!“

Arthur kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ununterbrochen plapperte er und beschrieb er, was er alles sah.

„…Und die Menschen! Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen!…“

Sean hörte gar nicht hin. Er staunte schweigend. Obwohl er so viele Bücher gelesen und sich die aufregendsten Dinge vorgestellt hatte, war die Realität doch weitaus beeindruckender.

„Komm, wir setzen uns erst einmal, ich habe Hunger.“ Sean zog seinen Freund am Arm und sie gingen zu ein paar großen Steinen etwas abseits. Sie kauten ihren Proviant, beobachteten überwältigt das rege Treiben und bestaunten weiter die Schiffe. Beim Genießen der von zu Hause mitgebrachten Trockenwürste wurden sie innerlich etwas ruhiger.

„So, und was machen wir jetzt?“, wollte Arthur schließlich wissen.

„Na, wir suchen uns ein Schiff aus und fahren mit“, antwortete Sean.

„Aber das kostet doch Geld. Auch unser Essen wird irgendwann knapp. Hast du Geld dabei?“, wollte Arthur wissen.

Oje, daran hatte Sean nicht gedacht! So ein Mist! Was machen wir denn jetzt? Sollte ihr Abenteuer schon hier enden? Noch bevor sie überhaupt ein Schiff betreten hatten?

Doch Arthur hatte eine Idee.

„Es wird dir nicht gefallen, aber der einzige Weg ist wahrscheinlich, dass wir Vika verkaufen. Wir können sie sowieso nicht mit an Bord nehmen.“

Vika! Wie konnte Sean nur so nachlässig gewesen sein und bei seinem tollen Plan nicht daran denken, was mit seinem treuen Pferd passieren sollte! Ich dummer, dummer Junge!

Sean überlegte lange. Er sah die gutherzige Stute an und ihm wurde ganz flau im Magen. Vika schaute ausgerechnet jetzt besonders treuherzig drein, als ob sie wüsste, welche Gedanken ihr Herr hatte. Aber es nützte nichts: das war die einzige Möglichkeit.

Nach einer Weile fanden die zwei Jungen einen Mann, der die Stute kaufen wollte.

„Sie ist brav und äußerst zäh, außerdem noch ganz jung“, beteuerte ihm Sean.

„Ja ja, das sagen alle…“, antwortete der dürre Mann mittleren Alters mit den kantigen Gesichtszügen. „Gib sie schon her.“

Damit entriss er Sean die Zügel und zog Vika lieblos davon.

„Seid nett zu ihr!“, rief Sean ihm traurig nach.

Er hatte sich vorher stumm von seiner geliebten Vika verabschiedet. Sie wieherte leise und ging widerstrebend mit ihrem neuen Besitzer davon. Dieser hatte ihnen eine Menge Geld gegeben, dachten die beiden Jungen zumindest. Für den Mann jedoch war es das größte Geschäft seines Lebens gewesen.

Als sie weitergingen, drehte sich Sean nicht noch einmal um. Sein Herz schmerzte und das Geld klimperte schwer in seiner Hosentasche.

Sean und Arthur liefen zurück zum Kai. Bis dahin hatten sie sich noch keine Gedanken gemacht, wo sie eigentlich hinwollten.

„Und jetzt?“, fragte Sean, entmutigt aufgrund Vikas Verlust.

„Wir müssen uns durchfragen“, entgegnete Arthur enthusiastisch. „Mal sehen, wer uns mitnimmt für dein Geld.“ Und schon stapfte er los und ging zum vordersten Schiff.

„Entschuldigung, wohin fährt dieses Schiff?“, fragte er einen Mann, der gerade einen schweren Sack über der Schulter auf das Schiff tragen wollte.

„Nach….“, sagte dieser undeutlich und war schon wieder keuchend weitergegangen.

„Aber wie viel kostet…“, rief Arthur ihm hinterher.

Die Seeleute hatten so viel zu tun, dass sie die Jungen gar nicht bemerkten. Nun versuchten beide, Gehör zu finden. Sie liefen von Mann zu Mann und fragten. Sean zeigte auch ein paar Münzen, um zu beweisen, dass sie die Fahrt bezahlen konnten.

Nach einer halben Stunde wurden sie endlich fündig. Ein alter Matrose, der ziemlich wild aussah mit seinen langen Haaren, dem struppigen Bart und dem braunen, faltigen Gesicht, hatte anscheinend ein weiches Herz. Er ließ sich das gesamte Geld von Sean zeigen und nickte. Dann bewegte er seinen Kopf in Richtung des nächsten Schiffes und bedeutete ihnen somit, dass sie ihm folgen sollten.

Aufgeregt nahmen die Jungen ihre Bündel und liefen hinter ihm her. Als Sean den Fuß auf die Schiffsrampe setzte, durchfuhr ihn ein freudiger Schauer. Er dachte an die Pelican und an die Reiseerzählung des geheimnisvollen R.B.B., die in ihm diese nagende Sehnsucht nach Abenteuer geweckt hatte. Unwillkürlich tastete er in seinem Bündel nach dem dünnen Buch, das er nicht wieder in die Bibliothek zurückgebracht hatte. Sean hoffte, dass es ihm auf seiner Reise Glück bringen würde.

An Deck waren überall Seeleute am Werk. Sie verstauten Waren und Lebensmittel, prüften Taue und Knoten und riefen einander allerhand Befehle zu, die Sean und Arthur nicht verstanden.

Sean spürte ein Kribbeln im ganzen Körper. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt. Er spürte: Hier gehöre ich hin. Mit leuchtenden Augen sah er sich auf dem Schiff um, erblickte die zwei riesigen Masten mit den noch verschnürten Segeln und sah unzählige Seile, die in einer für ihn unverständlichen Ordnung kreuz und quer über das Schiff und die Masten liefen. Sah Fässer und Truhen, lief über die knarrenden Planken. Auch seine Nase fühlte sich hier wohl. Es roch nach Salz und Freiheit. Die Möwen kreischten aufgeregt über seinem Kopf, der Wind zerzauste ihm die Haare.

Bei einem großen Mann mit Hut sollten sie stehenbleiben.

„Das ist Mr. Cook, unser Kapitän. Mr. Cook, ich habe noch zwei Passagiere gefunden. Sie zahlen gut. Sagt dem Kapitän, wie ihr heißt.“

Der Matrose blickte auffordernd zu Sean und Arthur. Etwas überrumpelt nannten sie ihre Namen.

„Einverstanden! Ihr könnt mitfahren“, sagte der Kapitän, nachdem er Sean freudig die Münzen abgenommen hatte.

„Es ist zwar keine Koje mehr frei, aber ihr könnt in der Kammer auf dem Boden schlafen. So, jetzt habe ich aber zu tun!“

Er ging zu zwei seiner Männer und redete energisch auf sie ein.

Sean und Arthur waren so überwältigt von den vielen neuen Eindrücken, dass sie glatt vergessen hatten, zu fragen wo die Reise überhaupt hinging.

„Hahaha! Ihr habt für die Fahrt bezahlt und wisst nicht einmal, wohin es geht?“

Ein etwas dickerer Matrose mit Glatzkopf hielt sich den Bauch vor Lachen. Dann klopfte er sich auf die kräftigen Oberschenkel und beugte sich lachend nach vorn. Sean und Arthur schauten sich betreten an.

„Nach Amsterdam, wir fahren nach Amsterdam“, brachte der Matrose dann keuchend hervor und ging kopfschüttelnd wieder seiner Wege.

„Ah! Amsterdam!“, sagte Sean wichtigtuerisch.

„Kennst du es?“, fragte ihn Arthur.

„Ja… nein. Noch nie davon gehört. Aber es klingt großartig! Auf nach Amsterdam!“

Sean sah auf die Hafenbucht hinaus und konnte hinter dem Damm das offene Meer erkennen. Er legte die Hand wie ein Dach über seine Augen und ließ die Gedanken schweifen. Die Sonne stand schräg am Himmel, es war fast Mittag. Ein herrlicher Tag.

Arthur bekam bei dem Gedanken weiche Knie, bald auf das endlose, weite Meer zu fahren. Wie froh war er, dass Sean bei ihm war!

Nach einer ganzen Weile, als alles verstaut und die Matrosen an Bord waren, hörte Sean endlich:

„Leinen los, Ankertrosse hieven!“

Die Fahrt ging los.

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