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Fünfzehn

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Aderito war erschöpft. Nach diesem schrecklichen Sturm hatte er sich nicht ausruhen können, wie es sein gequälter Körper verlangte, sondern musste sich sofort um den armen Piet kümmern. Schwerfällig ließ er sich auf die Pritsche fallen und fing an, sich der schweren, klatschnassen Stiefel zu entledigen. Endlich hatte er Zeit zum Nachdenken.

Aderito konnte dem jungen Sean keine Vorwürfe machen. Er war in Panik gewesen und hatte nur helfen wollen. Aber aus medizinischer Sicht war es unverantwortlich, das Messer ohne die Beteiligung eines Fachkundigen herauszuziehen. Sean und besonders natürlich Piet hatten großes Glück, dass kein Gefäß getroffen war, sonst wäre der Verletzte innerhalb von Minuten verblutet. Piet war ein Kämpfer und Aderito überzeugt, dass er sich wieder erholen würde. Er hoffte es zumindest stark.

Dies war sein erster größerer Einsatz als Schiffsarzt auf dieser Reise gewesen. Vorher musste er nur zwei Quetschungen, die beim Seileinholen entstanden waren, und einen verstauchten Knöchel behandeln. Doch die Verletzung des Schiffskochs war weitaus schlimmer, sogar lebensbedrohlich durch den starken Blutverlust.

Nach seinem Medizinstudium in seiner Heimatstadt Coimbra, der einzigen Universitätsstadt Portugals, hatte Aderito viele Kranke behandelt und leider auch einige Tote zu verzeichnen gehabt. Es fiel ihm jedes Mal genauso schwer wie bei dem ersten Toten, sich einzugestehen, dass er nichts mehr tun konnte. Aderito erinnerte sich, dass so ein trauriger Todesfall das erste Mal auf seiner ersten Schiffsreise als Bordarzt passierte. Sie waren damals Richtung Genua unterwegs gewesen, als ein Matrose vom Großmast stürzte und sich einen komplizierten offenen Beinbruch zuzog. Aderito konnte den Bruch erfolgreich richten, die Knochenfragmente der Unterschenkelfraktur wieder an ihren Platz bringen und die Wunde sauber nähen.

Alle dachten, der Patient werde wieder gesund und würde vielleicht nur ein Hinken von dem Unfall zurückbehalten. Es ging ihm von Tag zu Tag besser. Doch dann klagte der Matrose darüber, dass das betreffende Bein schmerzte, anschwoll und warm wurde. Es färbte sich mit der Zeit rot und dann blau. Aderito wusste nicht, wie er helfen konnte. Später kamen starke Schmerzen im Brustbereich und Atemnot hinzu. Es ging dem Patienten sehr schnell immer schlechter. Er fing an zu husten und bald befand sich Blut im Auswurf. Aderito war verzweifelt und ratlos, zumal die Wunde recht gut heilte. Der bemitleidenswerte Patient verstarb kurz darauf mit schmerzverzerrtem, aschfahlem Gesicht und mit seinen verkrampften Händen am Hals. (Aderito wusste damals nicht, dass es sich dabei um eine Lungenembolie nach einem gelösten Blutgerinnsel – Thrombos - handelte.)

Nach diesem verstörenden Vorfall bekam Aderitos euphorisches Gefühl, die Arbeit mit seiner Leidenschaft - dem Segeln - verbinden zu können, einen ersten Dämpfer. Natürlich überlegte er danach, die Medizin aufzugeben. Aber dann dachte er an das lange Studium und das damit verbundene Wissen und die mühsam erlernten medizinischen Fertigkeiten. Er wollte sich als Arzt doch noch eine Chance geben. Und außerdem war es für die Matrosen auf einem Schiff wirklich sehr gefährlich und überall konnte etwas passieren, was einen Arzt benötigte.

Die Fahrt mit der Zeeland war Aderitos erste Atlantiküberquerung und er hatte sehr großen Respekt davor. In seinen mittlerweile bereits 27 Jahren auf See war er schon auf einigen Briggs unterwegs gewesen. Er mochte diesen wendigen Schiffstyp. Aber der Bau der Zeeland gefiel ihm ganz besonders gut. Sie hatte nur zwei Masten und sah sehr schlank für ein Schiff dieser Größe aus. Extra für die Überquerung größerer Gewässer, wie in diesem Fall den Atlantik, hatte sie mehr Tiefgang. Das Schiff war besonders schnell und hatte wohlgeformte, eher kleine Rahsegel, die man schneller einholen konnte, sowie das zusätzliche Gaffelsegel wie die meisten Briggs. Aderito war vom ersten Augenblick in dieses Schiff verliebt gewesen.

Er hatte eigentlich nie vor, über den Atlantik zu segeln. Zu groß war seine Angst vor diesen unberechenbaren Wassermassen und den unbändigen Winden und Stürmen auf hoher See. Und, das musste er zugeben, er fürchtete sich vor den unbekannten Dingen, die auf dem Atlantik und vor allem auf dem anderen Kontinent warteten. Natürlich wusste man als Seefahrer nie, was als Nächstes passieren würde, aber es war doch bis jetzt immer das relativ zivilisierte Europa gewesen, mit dem er sich auseinandersetzen musste.

Wieder einmal erinnerte sich Aderito an den schicksalsträchtigen Abend in der Pompa22, seiner Lieblingstaverne in Lissabon, als ein Raunen durch die Gäste ging. Ein etwas verwahrloster, älterer Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart hatte gerade den Raum betreten. Aderitos Tischnachbarn tuschelten und er hörte mit halbem Ohr nur „Kapitän Wilhelm … Atlantiküberquerung“. Er wurde hellhörig. In seinem bisherigen Leben als Schiffsarzt hatte er nur selten Leute kennengelernt, die dieses risikoreiche Abenteuer gewagt hatten. Neugierig bahnte sich Aderito den Weg zu diesem Kapitän und setzte sich in seine Nähe. Den ganzen Abend lang beobachtete er damals diesen älteren aber immer noch energievollen Mann und bemerkte, wie ihn dessen gewinnende Art in den Bann zog. Aderito hörte seine aufregenden Geschichten und bekam immer mehr Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Kapitän Wilhelm blieb lange in dem Lokal, länger noch als seine Bewunderer. Obwohl Aderito ein eher schüchterner Mann war, ergriff er nun die Gelegenheit und sprach den Kapitän an.

„Äh, hallo. Darf ich Euch eine Frage stellen?“ Ohne auf die Antwort zu warten, redete er nervös weiter. „Ich habe mitbekommen, dass Ihr bald über den Atlantik segelt. Stimmt das?“

„Ja, in der Tat, mein Freund“, entgegnete ihm der Kapitän laut und freundlich und zwirbelte dabei hingebungsvoll seinen Bart.

„Das ist höchst interessant!“ Begeistert wurde Aderito mutiger: „Wann lauft Ihr aus?“

„In zwei Wochen. Wollt Ihr mitfahren?“, fragte er scherzhaft.

Aderito war so verblüfft, dass ihm der Mund offen stehen blieb. So etwas hatte ihn noch niemand gefragt. Über den Atlantik segeln! Einfach verrückt!

„Ich bin Wilhelm, mein Freund. Und Ihr?“, fragte er unvermittelt.

„Aderito.“ Er drückte die ihm gebotene Hand.

„Und? Was sagt Ihr? Ich brauche dringend noch mutige Männer.“ Wilhelm schaute Aderito intensiv an. Seine tiefblauen Augen funkelten.

„Ich bin mutig“, entgegnete Aderito überrumpelt.

„Na dann ist es abgemacht. Wir sehen uns morgen früh am Hafen bei der Zeeland.“ Wilhelm reichte dabei dem verdutzten Aderito erneut die Hand und verließ unvermittelt mit einem Nicken die Kneipe. Dem Kapitän hatte der ruhige, zurückhaltende Mann von Anfang an gefallen und mit seinem untrüglichen Blick konnte er sofort erkennen, dass dieser ein guter Matrose war.

Aderito saß nach dem seltsamen Gespräch lange schweigend auf seiner Bank. Er konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Habe ich gerade einer Atlantiküberquerung zugestimmt?, dachte er kopfschüttelnd.

Später in seinem Bett konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Er fragte sich unentwegt, ob er morgen zum Hafen gehen sollte oder nicht.

Aus für ihn unerklärlichen Gründen fand sich Aderito am nächsten Morgen tatsächlich am Hafen wieder. Die Sonne schaute schüchtern durch den Wald der Segelmasten hindurch und die Schiffe schaukelten gemütlich auf den flachen Wellen. Es würde ein herrlicher Tag werden. Nach kurzem Suchen stand er schließlich staunend vor dem wunderschönen Schiff mit dem Namen Zeeland.

„Guten Morgen Aderito. Was sagt Ihr zu meinem Mädchen?“

Aderito drehte sich erschrocken um und erkannte Kapitän Wilhelm. „Sie ist wunderschön!“, schwärmte Aderito und bewunderte den schlanken bordeauxroten Rumpf mit den geschwungenen weißen Lettern. Wie atemberaubend sie erst mit vollen Segeln war, würde er bald erfahren. Es war niemand auf dem Schiff, was Aderito wunderte.

„Morgen beginnen wir mit dem Beladen, ich gehe davon aus, Ihr seid dabei?“

Aderito, der sich das Schiff eigentlich nur anschauen wollte, verspürte ein aufregendes Kribbeln im Körper und er hatte plötzlich große Lust, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Zumal er gerade keinen Arbeitsvertrag hatte und mehr schlecht als recht von seinem Ersparten lebte. „Wohin geht eigentlich die Reise und wie lang wird sie ungefähr dauern?“, fragte Aderito noch geistesgegenwärtig. Als ob das jetzt noch irgendeine Bedeutung für ihn hätte. Innerlich war er schon voll dabei.

„Mein Ziel ist die Kolonie New York im Nordosten von Amerika. Wie lange? Normalerweise braucht meine Schöne ungefähr drei bis vier Monate für die Überfahrt. Kommst du also morgen?“

So lange? Aderito schluckte kurz. Er empfand den Wechsel zum „du“ irritierend und angenehm zugleich. Als der Kapitän das verdutzte Gesicht seines Gegenübers wahrnahm, ergänzte dieser:

„Auf meinem Schiff geht es nicht so förmlich zu. Wir sind eine Familie.“

Aderitos vorherige Kapitäne hatten alle die Distanz zu ihrer Mannschaft bewahrt und immer wieder betont, dass sie wichtiger wären als die anderen Matrosen. Er bemerkte sofort, dass dieser Wilhelm anders war. Dies nahm ihn noch mehr für ihn ein und sein Entschluss stand nun fest.

Deshalb bin ich jetzt hier in diesem winzigen Schiff auf diesem riesigen Ozean, dachte Aderito seufzend. Er zog müde seinen nassen, sonst so weichen braunen Wollmantel und seine Lederweste mit den schönen bronzenen Knöpfen aus. Die klamme schwarze Leinenhose und das schlaffe weiße Leinenhemd ließ er nachlässig auf den Boden fallen. Dann gähnte er lange und legte sich in sein Bett. Als Bordarzt hatte er eine Kammer für sich, die ziemlich geräumig war durch den zusätzlichen Platz, den die Patientenpritsche und seine medizinischen Instrumente benötigten. Beim Einschlafen dachte Aderito noch einmal an Piet und schickte ihm einen stummen Genesungsgruß.

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