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Neun

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Aufgeregt rannte Sean den Gang entlang zum großen Salon. Sein alter Freund Angus hatte ihm gesagt, dass seine Eltern ihn unbedingt sprechen wollten. Sean dachte freudig, dass es um seinen morgigen 13. Geburtstag ginge und er beeilte sich sehr.

Als er den Salon erreichte, traf er seine Eltern zusammengesunken vor dem Kamin an, in dem das Feuer ungerührt prasselte. Seans Herz setzte zwei Schläge aus. Was ist denn passiert?, fragte er sich.

Alistair bemerkte Sean und erhob sich mühsam. Er nahm die beiden Hände seines Sohnes und schaute ihm lange und traurig in die Augen. Dann räusperte er sich und sagte mit belegter Stimme:

„Sean, mein Lieber. Deine Großmutter ist heute Nacht von uns gegangen.“

Sean trat entsetzt einen Schritt zurück. Er rang nach Luft, seine Augen waren weit aufgerissen. Tränen schossen seine Wangen hinab. Dann drehte Sean sich um und rannte aus dem Salon.

„Sean!“, rief sein Vater und lief ihm schnellen Schrittes hinterher. Ohne zu klopfen trat er in das Gemach seines Sohnes und fand seinen Jungen schluchzend auf dem Bett liegen. Alistair setzte sich betrübt neben ihn und streichelte sanft seinen Rücken. So saß er, bis sich Sean etwas beruhigt hatte und sich seinem Vater zuwandte.

„Warum?“, fragte Sean nur und blickte Alistair aus traurigen, geröteten Augen an. Er sah, dass auch sein Vater geweint hatte. Eine Welle tiefer Liebe durchströmte Sean und er umarmte seinen nach außen meist so gefühlskalten Vater lange. Er fragte sich verzweifelt, wer das tiefe Loch stopfen könnte, das der Tod seiner liebevollen Großmutter in sein Herz gerissen hatte. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte bei dieser Umarmung auf, Sean fühlte sich bei seinem Vater geborgen.

Seans Geburtstag am nächsten Tag war trostlos, weil seine Großmutter fehlte. Alles fühlte sich so sinnlos an, auch die Anwesenheit seines besten Freundes konnte Sean nicht aufmuntern.

Kendras Beerdigung fand erst eine Woche nach ihrem Tod, am 6. Februar, statt, da noch Alistairs Geschwistern Bescheid gegeben werden musste. Der Gottesdienst und die Beisetzung wurden auf Dunnottar Castle abgehalten. Es war ein sonniger Mittwoch und das Wetter passte überhaupt nicht zu der bedrückten Stimmung auf der Burg. Obwohl sie sehr eigensinnig war, hatten die meisten Burgbewohner die alte Lady gemocht, so dass die Kapelle voll war. Es wurde eine ergreifende, würdevolle Zeremonie.

Einen Tag vor der Beisetzung war doch tatsächlich Seans Tante Allison angekommen, um ihrer Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte ihren Mann James MacGregor, einen netten älteren Herren, und ihr Baby Geillis, Seans Cousine, mitgebracht. Allison war sehr freundlich zu Sean und schien sich genauso zu freuen, ihn endlich kennenzulernen, wie er. Sean mochte die Familie auf Anhieb und war sofort in die kleine Geillis vernarrt.

Natürlich bemerkte Sean die Spannungen zwischen Allison und seiner Mutter und er hatte das Gefühl, dass es für beide schwer war, im selben Raum sein zu müssen. Zu gern hätte Sean gewusst, was die Frauen auseinandergetrieben hatte, aber wen sollte er fragen?

Seans Onkel Ennis war auch gekommen, aber würdigte ihn wie immer kaum eines Blickes, was Sean durchaus schmerzte. Sean betrachtete Ennis ehrfürchtig, da er ein Professor war, und somit ein wirklich kluger Mann sein musste. Sean hätte sich gern einmal mit ihm unterhalten, aber die unnahbare Art seines Onkels hielt ihn davon ab.

Als dann der helle, mit schönen Schnitzereien verzierte und mit wunderschönen Blumen bedeckte Sarg seiner geliebten Großmutter auf dem Kirchhof in die Erde gelassen wurde, konnte Sean seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Benommen spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er dachte erst, sie wäre von Arthur, doch als er hinüberblickte, nahm er wahr, dass sie Shona gehörte. Er schaute in ihr hübsches Gesicht und sah ihren mitfühlenden Blick. Sean nickte ihr dankbar zu und lächelte zum ersten Mal wieder seit dem Tod seiner Großmutter.

***

Als Sean ein paar Tage nach der Beerdigung von den vielen Tränen erschöpft und mit hängenden Schultern zu Arthur ging, fand er seinen Freund niedergeschlagen auf dem Bett sitzen.

„Was ist denn los?“

Sean hatte eigentlich nicht die Kraft, seinen Freund aufzumuntern und setzte sich mutlos neben Arthur.

„Ich hasse meine Eltern!“, sagte da Arthur aufgebracht. Sean überraschte die Aussage sehr. So etwas hatte er noch nie von Arthur gehört. Arthurs Eltern waren die besten, die Sean sich vorstellen konnte.

„Ach, sag doch so etwas nicht! Es handelt sich bestimmt nur um ein Missverständnis.“

Sean tätschelte Arthurs Hand und musste dabei an seine Großmutter denken. Er spürte, wie neue Tränen sich ans Licht kämpften, konnte sie aber hinunterschlucken.

„Sie wollen, dass ich Priester werde! In Kinneff18!“, sagte Arthur abfällig. „ICH in einer Kirche! Das ist doch absurd!“ In Arthurs Augen schimmerten Tränen. Er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Er wusste zwar nicht wie, aber SO nicht!

„Was haben sich deine Eltern dabei gedacht?“, wollte Sean wissen.

„Ich weiß es doch auch nicht. Sie sagen, meine Zukunft wäre gesichert, aber sie haben mich überhaupt nicht gefragt. Ich soll ab nächstem Monat bei dem Priester dort leben und alles von ihm lernen. Er wäre sehr erfreut, dass ich lesen kann und nimmt mich gerne in seinen Dienst, hat meine Mutter gesagt. Aber ich will nicht!“

Jetzt schluchzte Arthur laut. Sean nahm ihn stumm in die Arme. Ich muss mir etwas überlegen!

Und das tat er auch. Die nächsten Tage verbrachte Sean damit, verschiedenste Lösungen zu suchen und abzuwägen. Er konnte kaum schlafen, die Gedanken an einen Ausweg kreisten wie wild in seinem Kopf herum und eine Idee war absurder als die andere. Was konnten sie nur tun? Dass Arthur weggehen würde, war keine Option. Ihn wollte Sean nicht auch noch verlieren. Er hatte den Verlust seiner Großmutter noch nicht ansatzweise verarbeitet, und jetzt würde ihm sein bester Freund genommen werden? Das durfte er nicht zulassen. Schließlich blieb nur eine Möglichkeit übrig, Sean hatte einen Entschluss gefasst.

Beschwingt ging er zu Arthurs Haus und klopfte. Arthurs Mutter öffnete, Angus kam neugierig herbei. Er hatte vor Kurzem Laufen gelernt.

„Sean, komm rein! Wie geht es dir?“

Sean nuschelte „Gut!“ und sah zu Arthur, der gerade trübsinnig am Küchentisch saß und etwas aß. Sonst war niemand im Raum. Überrascht sprang Arthur auf.

„Sean! Schön, dass du da bist!“

„Wollen wir ins Zimmer gehen?“, fragte Sean bedeutungsvoll. Arthur verstand, räumte den Tisch ab und die beiden gingen nach oben. Fiona schaute ihnen irritiert nach und machte sich dann an den Abwasch. Still litt auch sie unter der Entscheidung, doch sie und Tevin sahen keinen anderen Weg, ihrem Sohn eine gesicherte Zukunft zu ermöglichen. Angus erkundete indessen weiter fröhlich quietschend die Küche.

„Ich habs!“, flüsterte Sean verschwörerisch.

„Was hast du?“

„Die Lösung natürlich! Für unser Problem! Wir müssen weggehen, gemeinsam“, sagte Sean stolz.

„Abhauen meinst du?“

Arthur schaute seinen Freund verdutzt und ungläubig an. „Du willst weg von Dunnottar Castle? Aber deine Eltern. Und du bist doch irgendwann der Laird. Das verstehe ich nicht.“ Das war zu viel für Arthur.

„Hör mal zu. Ich will kein Laird sein. Und auf der Burg ist es sowieso so langweilig. Wir hatten doch gesagt, dass wir zusammen die Meere befahren wollen. Warum also nicht jetzt?“

„Hm, das wäre natürlich fantastisch! Wobei, meine Eltern und Geschwister werden schon sehr traurig sein. Aber wir können doch auch wieder zurückkommen, oder?“, wandte Arthur ein.

„Natürlich! Wir sind noch so jung. Wer weiß, was das Leben noch mit uns vorhat. Machst du mit?“, fragte Sean herausfordernd.

„Ja, du rettest mich damit! Du bist der Beste!“, stürmisch umarmte Arthur seinen Freund. Er hatte wieder Hoffnung geschöpft.

Sofort machten sich die beiden Jungen daran, ihre Flucht zu planen. Das Schwierigste war der Weg zum Festland. Wenn sie den geschafft hatten, mussten sie bloß noch nach Stonehaven kommen und dann wollten sie weiter schauen.

***

Zwei Tage später schlichen des nachts zwei Gestalten mit Kapuzen über den Burghof zu den Stallungen. Kurz darauf führten sie ein Pferd mit großen Satteltaschen in Richtung Torhaus. Alles ging leise und schnell vonstatten, auch das Pferd machte keinen Laut. Beim Torhaus angekommen, blieb eine Gestalt beim Pferd und die andere huschte mit einem langen Gegenstand in der Hand in das Gebäude. Es dauerte eine Weile, dann öffnete sich das Tor, die Gestalt kam wieder heraus und winkte der anderen zu. Diese setzte sich mit dem Pferd am Zügel in Bewegung und gemeinsam verließen sie die Burg. Flink stiegen sie die Stufen hinab und folgten dem schmalen Pfad bis zum Festland. Erst dort blieben sie stehen und blickten zurück.

„Wir haben es geschafft!“ Sean zupfte seine Kapuze zurecht. „Gut gemacht, Vika!“ Liebevoll streichelte Sean den Hals seiner treuen Stute. „Wie hast du das mit der Wache gemacht?“

Sie hatten sich geeinigt, dass Arthur diesen Teil übernahm, da er größer und stärker war als Sean.

„Es war Brendan. Er saß auf seinem Stuhl und döste. Da habe ich mich von hinten angeschlichen und ihm mit dem Knüppel auf den Hinterkopf gehauen, aber nicht so stark natürlich. Er ist einfach vom Stuhl gekippt und bewusstlos liegen geblieben. Schnell habe ich ihn geknebelt und gefesselt und das Tor geöffnet. Es war schon ein komisches Gefühl, jemanden zu überfallen und dann noch von hinten“, erwiderte Arthur verwirrt.

„Brendan wird schon wieder. Du hast das gut gemacht, Arthur.“

Mit diesen Worten stieg Sean auf und half Arthur, sich hinter ihn zu setzen. Mühelos trabte Vika trotz des Gewichtes los, die Stute war zäher, als sie aussah. Schweigend ritten sie den Küstenweg entlang und vermieden, sich umzublicken. Ganz so einfach, wie sie sich gegenseitig versicherten, war es doch nicht, ihr Zuhause und ihre Lieben zu verlassen.

Würden sie sie je wiedersehen?

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