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»Nichts schafft, wer zu viel denkt!« Torquato Tasso, italienischer Dichter

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(1544 bis 1595)

Der bayerische Heimatdichter Ludwig Ganghofer erzählte einst, dass er, um 1900 in Italien wandernd, sich in der italienischen Campagna vollkommen verlief. Hungrig und durstig kam er zu einem Bauernhaus und wurde von der Bäuerin zum Mahl eingeladen. Als er schließlich fragte, wie viel Geld er schuldig sei, antwortete die Bäuerin: »Zahlen Sie mit ein paar Versen von Tasso.«

Nun, aus der Sicht heutiger Touristen wäre das natürlich eine sehr kostensparende Form der Bezahlung, aber diese kleine Anekdote zeigt auch, welchen Stellenwert der Dichter Torquato Tasso in Italien genoss, ja und nach wie vor genießt. Ein großer Dichter, der schon zeit seines Lebens aufgrund seiner Werke viel Ansehen hatte, und einer, dessen Lebensverlauf 1790 selbst Johann Wolfgang von Goethe zu seinem Stück Tasso inspirierte. Goethe sagte dazu: »Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand mir das Bild des Tasso.« Goethe ließ also künstlerische Freiheit walten – und das, obwohl das reale Leben Torquato Tassos idealen Dramenstoff geboten hätte.

Am 11. März 1544 in Sorrent geboren, begleitete Torquato gerade einmal achtjährig seinen Vater Bernardo Tasso, der seinem Herrn Ferrante Sanseverino, dem Fürsten von Salerno folgte, ins Exil nach Neapel. Natürlich litt der kleine Torquato darunter, seine Mutter Porzia und seine Schwester nicht zu sehen, die zu Hause geblieben waren. Aber seinerzeit war es durchaus üblich, dass Burschen dem Vater folgten. Vater und Sohn zogen also, immer auf der Suche nach Protektion und Arbeit von Stadt zu Stadt. Venedig, Padua und Bologna waren nur einige der Stationen. So ein unstetes Leben ist sicherlich nicht das, was heutige Pädagogen für einen Achtjährigen empfehlen würden.

Die Mutter vereinsamte in der Ferne von Sorrent zunehmend und verstarb schließlich unter äußerst mysteriösen Umständen schon 1554 – ihr Ehemann glaubte, sie wäre durch den eigenen Bruder, der auf ihr Vermögen aus war, es jedoch nie erhielt, vergiftet worden. Sie ließ die junge Tochter Cornelia alleine zurück, die auf Drängen der mütterlichen Verwandtschaft nicht standesgemäß, sondern möglichst rasch verheiratet wurde, um sie abgesichert zu wissen, da die Familie schon lange unter großer Armut zu leiden hatte. Torquato Tasso und sein Vater erfuhren vom Tode der Mutter, beziehungsweise Ehefrau erst gut eineinhalb Jahre später, 1556.

Tasso war schon als Kind frühreif und seinem Alter weit voraus, was auch seine späteren Großwerke erklärt, die er bereits in jungen Jahren schrieb. In einem Brief vom 17. Mai 1580 schreibt Tasso nämlich, dass er schon mit neun Jahren geistig und körperlich für einen Zwölfjährigen gehalten wurde. Diese Reife war wohl auch auf das entbehrungsreiche Leben als Umherziehender zurückzuführen.

Fast zeitgleich mit der Drucklegung des Buches von Vater Bernardo Tasso, Amadigi, begann der gerade einmal fünfzehnjährige Sohn Torquato mit seinem Epos Gerusalemme. Er verwarf es jedoch bald wieder und schrieb an einem anderen Buch weiter. Schon 1562 erschien sein Rinaldo, eine Mischung aus dem Stil des Vergil und klassischer Epen, wodurch Torquato bald als einer der vielversprechendsten Dichter seiner Zeit gehandelt wurde – Tasso war da gerade einmal achtzehn Jahre alt. Er studierte zudem nun Jura, Rhetorik und Philosophie in Venedig und Bologna, von wo er aber nach Padua flüchten musste, nachdem er irrtümlicherweise für den Verfasser einer gegen Professoren und Studenten gerichteten Satire gehalten wurde.

Mit 21 Jahren kam er als Gefolgsmann des Kardinals Luigi d’Este nach Ferrara und gehörte fortan auch zum Hofstaat von Herzog Alfonso II., dem ältesten Sohn des Ercoles d’Este II. und dessen Frau Renée de France. Er hatte dort ein sorgenfreies Leben ohne wirkliche Aufgaben, einmal abgesehen davon, dass der Herzog schöne Verse von ihm haben wollte. Aber auch so ein Poetendasein wollte gelernt sein. Manchmal saß Tasso tagelang über nur einer oder zwei Verszeilen. Er war Perfektionist, dafür gaben ihm Erfolg und Anerkennung Recht. Ein überaus schmerzlicher Schlag war für ihn der Tod des Vaters im September 1569, dennoch waren die kommenden Jahre die fruchtbarste Schaffensperiode in Tassos Leben.

Wie fast kein anderer zeitgenössischer Dichter, verarbeitete Torquato Tasso die Spannungen und Wirren (sozialer, wie politischer Natur) seiner Zeit in seinem literarischen Werk. 1573 erschien sein unterhaltsames Schäferspiel Aminta. Damals waren zwei Gattungen an Schauspielen beliebt: Das pastorale Spiel und das Schäferstück. Dieses Stück mit Fabelcharakter spielt zu Zeiten Alexanders des Großen, die handelnden Figuren sind Hirten, Götter und Nymphen. Aminta, der Enkel des Pan, verliebt sich in die schöne Nymphe Silvia. Diese aber versagt sich ihm, obwohl sich Aminta beim Werben alle Mühe gibt. Nachdem sie ihren Tod fingiert, ist Aminta am Boden zerstört und stürzt sich von einem Felsen, wird aber durch einen Zufall gerettet. Nun taucht Silvia auf, und gerührt von Amintas Treue und Liebe, erhört sie ihn endlich.

Das Stück wurde während einer Gartenfeier am herzoglichen Hof in Ferrara uraufgeführt. Das Publikum war ausschließlich adelig, wie auch die Schauspieler. Tasso übte in Aminta subtile Kritik am weltfremden Dasein des Adels und zeigt, dass Hirten viel unbeschwerter und idyllischer leben als die Oberschicht. Und dem Autor soll es eine diebische Freude gemacht haben, dass Adelige als Hirten in zerlumpten Gewändern, auf der Bühne standen. Die fanden die Darbietung recht unterhaltsam, ohne die subtile Kritik tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen.

1574 vollendete Tasso schließlich nach über fünfzehn Jahren Vorplanung und Schreiben sein berühmtestes Werk, das Opus Magnum Das befreite Jerusalem (La Gerusalemme liberata), ein romantisches Epos, worin es um Konflikte unter den Christen bei der Eroberung Jerusalems geht. Tasso ließ das Werk von verschiedenen Freunden prüfen und kritisieren. Er veröffentlichte es anschließend nicht, sondern begann, es mit den unzähligen unterschiedlichen Meinungen im Rücken vollständig zu überarbeiten. Durch seine Pflichten am Hofe und seine literarischen Studien bereits stark gefordert, tat ihm diese zusätzliche Anstrengung nicht gut. Seine Gesundheit litt unter der Belastung und er bat den Herzog, den Hof verlassen zu dürfen, was dieser ihm jedoch verwehrte.

Aus heutiger medizinischer Sicht wird Tassos damals beginnende Erkrankung als paranoide Schizophrenie angesehen: Er litt immer wieder unter Wutausbrüchen und die oft darauffolgenden Angstzustände häuften sich, regelmäßiger Fieberwahn, Erbrechen und Verfolgungswahn sowie schmerzhafte Migräne kamen dazu – alles Indizien für diese Erkrankung. Tasso halluzinierte zudem und bekam religiöse Skrupel. Ihm erschienen Dämonen und böse Geister und er meinte, besessen zu sein. 1575 hörte er, dass die Heilige Inquisition in Bologna sei, und pilgerte hin. Dort klagte sich Torquato Tasso selbst wegen Häresie an, erhielt aber vom Inquisitor die Absolution. Keineswegs jedoch war er damit zufrieden, nein, er war der Überzeugung, dass man ihn nur aus purem Mitleid verschonte. Auf Befehl des Herzogs wurde Tasso, die tickende Zeitbombe, zur Wiederherstellung seiner Gesundheit in einem Franziskanerkloster festgehalten, wo er in eine Zelle kam. Der Plan des Herzogs war es, den Dichter für sieben Jahre bis zu seiner Genesung interniert zu lassen. Tasso jedoch befürchtete, in die Ungnade des Herzogs gefallen zu sein und von ihm vergiftet werden zu sollen. Er rührte also kein Essen mehr an und flüchtete letzten Endes nach drei Monaten: Er zerstörte die Tür seiner Zelle, verkleidete sich als Schäfer – eine durchaus beliebte und unaufwendige Verkleidung zu dieser Zeit –, verkündete Menschen, die er unterwegs traf, dass der Dichter Tasso gestorben sei, und begab sich auf erneute ruhelose Wanderschaft.

1577 kam er nach Jahrzehnten wieder in seinen Geburtsort Sorrent, wo er für kurze Zeit bei seiner Schwester in der Via San Nicola einkehrte. Das Gebäude, das heute den Namen Casa di Cornelia Tasso trägt, ist eines der architektonischen Highlights der Stadt, das bei keinem Besuch in Sorrent fehlen sollte. Allzu lange hielt es Tasso aber nicht in seiner Geburtsstadt aus und so reiste er nach wenigen Tagen weiter nach Rom.

In einem bescheidenen Bittbrief an den Herzog gerichtet bat er dort, wieder an den eher familiären Hof in Ferrara zurückkehren zu dürfen. Alfonso – frei nach dem Motto »vergeben und vergessen« gewährte es, allerdings unter der Bedingung, dass sich Tasso in medizinische Behandlung begab, um seine psychische Krankheit, die schlicht als Melancholie – damals ein Sammelbegriff für allerlei psychische Probleme – bezeichnet wurde, in den Griff zu bekommen. Der Dichter willigte ein, mehr halbherzig allerdings, und brach in den folgenden eineinhalb Jahren immer wieder aus, reiste in der Umgebung umher, auch über die Grenzen Italiens hinaus, und war überall aufgrund seiner Berühmtheit gern gesehen. Schließlich zog er nach Ferrara zurück, natürlich ohne in Behandlung gewesen zu sein. Und so kam es dort 1579 zu einem Skandal. Was war geschehen? Nun, Tasso, der durchaus eitel war, hatte erwartet, am Hof mit einem großen Fest empfangen zu werden. Tatsächlich hatte der Herzog hierfür allerdings keine Zeit, da er dabei war, sich zum dritten Mal zu vermählen. Der Dichter fühlte sich in seiner Ehre dermaßen gekränkt, dass er Rot sah. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten des Herzogs mit der dreißig Jahre jüngeren Margherita Gonzaga am 24. Februar 1579 bekam Tasso einen Tobsuchtsanfall, warf dem Gastgeber vor, ihn nicht gebührend geehrt zu haben, schrie, spuckte und schlug wild um sich. Erneut musste Tasso dafür die Konsequenzen tragen. Man ließ ihn sofort festnehmen und in das nahegelegene Irrenhaus St. Anna bringen. Dort blieb er bis 1586, einer schriftstellerisch sehr produktiven Zeit. In dieser Einrichtung wurde Tasso natürlich nicht wie andere Insassen behandelt, sondern viel besser, und dem Wohlwollen des Herzogs von Mantua und Montferrat, Vincenzo Gonzaga, war es zu verdanken, dass der Dichter wieder auf freien Fuß gesetzt wurde und in den Jahren danach erneut ein unstetes Wanderleben führte, immer wieder lebte er dabei auch auf der Straße. Das dichterische Schaffen dieser Zeit war stark religiös geprägt. Tasso war zudem Aristoteliker. Dessen Maxime »Weg von der Spekulation, hin zu Erfahrung und Erkenntnis« hatte Tasso ja reichlich gelebt. Seine Dichtungslehre beschrieb er in den Discorsi dell’arte poetica, die ohne seine Erlaubnis und Einwilligung 1587 erschienen.

Unklar bleibt bis heute die Beziehung zu Leonora (auch: Eleonora) d’Este, der Prinzessin; viele, so auch Tassos erster Biograf, Graf Manso (1621), sahen in der Rückkehr Tassos an den Ferrara-Hof ein Indiz für eine Liebesbeziehung zu Leonora. Tasso widmete der Prinzessin etliche Gedichte, jedoch auch ihrer Schwester Lucrezia. Natürlich hätte Alfonso Tasso sofort hinrichten lassen, wäre er hinter eine Affäre des Dichters mit seiner Schwester gekommen. Als Tasso jedoch 1579 zurück an den Hof kehrte, soll er Leonora fast keines Blickes gewürdigt haben – sicherlich spielte dabei aber auch der schon mehr als unausgeglichene Zustand des Dichters eine Rolle.

Obwohl es ihm nicht gut ging, war er hier dennoch produktiv – so arbeitete er auch sein Hauptwerk Das befreite Jerusalem nochmals um und gab es unter dem Titel Das eroberte Jerusalem (La Gerusalemme conquistata) 1593 neu heraus. Doch diese Revision seines legendären Werks fand keinen Anklang. Auch die Discorsi dell’arte poetica schrieb er kurz vor seinem Tod noch um und veröffentlichte sie als Discorsi del poema eroico im Frühjahr 1594.

Im Juni 1594 schließlich hatte Tasso nur noch selten wirklich helle Phasen. Der Dichter hatte immer wieder extreme manische Momente und war in seinem Temperament unberechenbar. Regelmäßig musste man ihn wegsperren, wenn er Anfälle hatte, bei denen er tobte und Schaum vor dem Mund hatte.

Er lebte nun bei den Mönchen in San Severino und als der Ruf des Papstes Clemens VIII. aus Rom kam, um Tasso die Krone des Poeten zu verleihen, eine der damals größten literarischen Auszeichnungen, machte sich dieser auf den Weg zum Kirchenoberhaupt. Darüber hinaus wurde ihm eine Pension zugesichert, die ihn finanziell abgesichert hätte – auch eine schöne Aussicht. Schwer gezeichnet von seiner Krankheit und den Entbehrungen der letzten Jahre erreichte er Rom. Die Krönungszeremonie konnte anfangs nicht stattfinden, da der einflussreiche Kardinal Aldobrandini erkrankt war, dann machte die angeschlagene Gesundheit Tassos einen Strich durch die Rechnung. Er reiste ins Kloster Sant Onofrio, wo er vom päpstlichen Leibarzt Cesalpino betreut wurde, seinerzeit die bestmögliche medizinische Hilfe.

Am 25. April 1595 verstarb Torquato Tasso dennoch, einen Tag vor der geplanten Krönung, und wurde, so war es sein Wunsch, im Klosterfriedhof begraben. Und obwohl die letzten Jahrzehnte seines Lebens seine Wutausbrüche und seine Unstetigkeit gefürchtet waren – seinem Ruf als kongeniales literarisches Genie seiner Zeit, tat dies keinen Abbruch. »Nichts schafft, wer zu viel denkt« ist ein Zitat aus seinem Hauptwerk Das befreite Jerusalem. Und es kann auch exemplarisch für Tasso selbst gelten. Seine Person war für Goethe, aber auch Jean-Jacques Rousseau der exemplarische Fall für die Problematik der schöpferischen Freiheit eines Dichters, denn diese Freiheit ist auch eng mit dem Ablegen von Hemmnissen verbunden, die man als Hindernis der Kreativität ansah. Tasso hinterfragte nie seinen Wahn, denn der brachte ihm sogar lange Zeit Inspirationsquellen ein.

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