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»Muss denn nicht jeder bittere Erfahrungen in der Welt machen, um die Welt kennenzulernen?« Jakob Michael Reinhold Lenz, deutsch-baltischer Dichter und Dramatiker

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(1751 bis 1792)

Jakob Michael Reinhold Lenz ist zeit seines Lebens ein Unverstandener, ein Unangepasster, ja, und auch kein allzu Glücklicher gewesen. Das Zitat, das diesem Kapitel vorangestellt ist, ist aus Lenz’ Erzählung Zerbin oder Die neuere Philosophie (1776) und es ist eines, das in Hinblick auf das Leben und Leiden des Dichters, nur zu wahr erscheint.

Nach seinem Tod geriet Lenz rasch in Vergessenheit, allerdings erlebte er tatsächlich gleich zwei große Renaissancen: Der junge Georg Büchner, Hauptakteur der literarischen Bewegung »Junges Deutschland«, verfasste seine Erzählung Lenz (1839) über die letzten Stationen des Autors (beim Geistlichen Oberlin), und die Naturalisten, gut fünfzig Jahre nach Büchner, waren ebenfalls ganz begeistert von diesem Lenz. Sie fühlten sich mit dem verlorenen Dichter seelenverwandt und seine Werke wurden neu aufgelegt. Lenz wurde unfreiwillig die Antithese zu Goethe, genau jenem Dichter, dem er immer nacheifern wollte und dem er im Talent sogar gleichgestellt wurde.

Jakob Lenz wurde 1751 (am 12. Januar nach dem julianischen, am 23. Januar, nach dem gregorianischen Kalender) im kleinen Dorf Seßwegen (Lettisch: Cesvaine) in Livland (dem heutigen Lettland) geboren als Sohn eines aus Deutschland eingewanderten strengen, übermächtigen und unerbittlichen Vaters, der zu Beginn als Pfarrer tätig war, später sogar Generalsuperintendent von Livland wurde. 1759 zog die Familie nach Dorpat, dem heutigen Tartu, in Estland. Hier besuchte Lenz die Lateinische Schule.

Bereits mit fünfzehn, und ihm wurde hier großes Talent bescheinigt, schrieb er die ersten literarischen Arbeiten: seine Gedichtsammlung Der Versöhnungstod Jesu Christi erschien in den Rigischen Anzeigen. Keine sechs Monate später waren auch zwei Theaterstücke fertig, darunter Der verwundete Bräutigam, das jedoch erst 1845 gedruckt wurde. Die Forschung zeigt sich heute von der Reife dieser Komödie, die der Teenager Lenz da schrieb, beeindruckt. Das zweite Stück, Diana, gilt heute als verschollen. Doch Literatur sollte vorerst nur ein netter Zeitvertreib für Lenz sein, obwohl auch seine Übersetzungen, etwa jene Alexander Popes, aus dem Englischen ins Deutsche und skizzenhaft auch ins Russische, durchaus als gelungen angesehen werden können, aber, wie erwähnt, konnte er sich zu dieser Zeit noch nicht vorstellen, einmal professioneller Literat zu werden.

Auf Druck des Vaters, für den Literatur schon überhaupt keinen Wert hatte, musste er ab 1768 das Theologiestudium aufnehmen. Er ging nach Königsberg, brach seine Studien dort aber nach gut zwei Jahren ab und ging nach Straßburg, wo er Gesellschafter bei den Baronen von Kleist wurde. Nebenbei fertigte er erste Skizzen zu seinem Werk Der Hofmeister an, ein warnendes Lehrstück über die Liebesbeziehung zwischen einem Hofmeister und seiner Schülerin. Lenz’ Vater hatte nach Abbruch seines Studiums kein Ohr mehr für den abtrünnigen Sohn und sollte das bis zu dessen Tod auch nicht mehr haben. Lenz schließlich ging weiter nach Westen, nach Weimar, wo er sein großes Idol, den nur zwei Jahre älteren Goethe, traf und sich mit ihm befreundete. Hier wollte er sich nun ganz der Literatur widmen und beendete 1772 seinen Hofmeister. Die zweite Hälfte des Jahres leistete Lenz Militärdienst und wurde Ehrenmitglied der Straßburger Societät. Alles ging geregelte Bahnen und nichts schien auffällig.

Lenz wurde einige Zeit lang ein treuer Weggenosse des aufstrebenden Goethe, sie schickten sich regelmäßig Manuskripte zu und unterstützten einander. Goethe half Lenz zunächst bei der Veröffentlichung seiner Werke, und Lenz sandte Goethe etwa seine Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werther, genauso wie das Prosafragment Tagebuch. Beide Texte befanden sich in Goethes Nachlass, da dieser sie nicht zum Druck weiterleitete, die Briefe etwa deshalb nicht, weil er durch die Veröffentlichung hervorgerufenen Spott befürchtete. Die Werke von Goethe und Lenz wurden lange Zeit als qualitativ gleichwertig erachtet, gar verwechselt, und die Autoren im selben Atemzug genannt. Ein Umstand, an den Goethe später höchstwahrscheinlich nicht mehr erinnert werden wollte.

Gemeinsam mit Lenz besuchte Goethe seine mit Georg Schlosser verheiratete Schwester Cornelia in Emmendingen. Das Ehepaar sollte später den eigenwilligen jungen Lenz bei sich aufnehmen, der ihnen in seinem 1777 veröffentlichten Werk Der Landprediger ein literarisches Denkmal setzte. Nicht verbürgt ist, ob Lenz tatsächlich ungeniert Cornelia den Hof gemacht hat, er soll jedoch eine Schwäche für sie gehabt haben. Mit seinem ungezwungenen Wesen dürften viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen jedenfalls ihre Probleme gehabt haben.

Ende des Jahres 1774 arbeitete Lenz an dem Drama Die Soldaten und begann Brieffreundschaften mit der Autorin Sophie von La Roche und dem Philosophen Johann Gottfried Herder, der in den 1760ern auch produktive Jahre in Livland verbracht hatte. 1776, fast zeitgleich, als Goethe in Weimar Staatsämter übernommen hatte, lernte Lenz Christoph Martin Wieland, Herzog Karl August, Charlotte von Stein und zahlreiche »Stürmer und Dränger« – wie diese literarische Epoche später genannt wurde – kennen, so auch Friedrich Maximilian Klinger. Es ist die Zeit, in der Lenz quer durchs Land reist und viele einflussreiche Persönlichkeiten kennenlernt, und sein Ruf als literarisches Talent eilte ihm oft voraus. Leider blieben diese Verbindungen für ihn jedoch weitestgehend fruchtlos.

Das Verhältnis zu Goethe wurde derweil zunehmend ungesund. Lenz, dem zwar Können und Talent bescheinigt wurde, aus dem er jedoch nicht recht Kapital zu schlagen in der Lage schien, versuchte auch – erfolglos –, der von Goethe verlassenen Friederike Brion den Hof zu machen, und besuchte den ehemaligen guten Freund schließlich am 25. November 1776 in Weimar, was allerdings mit einem brüsken Verweis vom Hof und aus der Stadt Weimar endete. Goethe bezeichnete Lenz’ dortiges Verhalten in einem Brief als »Eseley«. Was tatsächlich vorgefallen war, ist nicht bekannt, Goethe schrieb nicht genauer darüber und schon gar nicht Lenz, der, was seine eigene Person betraf, überhaupt sehr wenig preisgab. Auch wenn Goethe von nun an nichts mehr von Lenz wissen wollte, hatte es schon zuvor entzweiende Tendenzen im Verhältnis der beiden Literaten gegeben. Goethe fürchtete die Konkurrenz durch Lenz und legte ihm absichtlich Steine in den Weg, was Lenz durchaus bemerkte und kritisch in literarischer Form verarbeitete. Die »Eseley« war für Goethe womöglich ein willkommener Anlass, sich vollends von Lenz zu distanzieren, ihn möglicherweise sogar zu diskreditieren. Wenn ein Goethe jemanden nicht mehr schätzte, hatte es dieser auch in anderen Künstlerkreisen durchaus schwer. Und was tat Lenz nun? Der verließ am 1. Dezember des Jahres Weimar und besuchte, durchaus provokant, Goethes Schwester Cornelia und deren Mann in Emmendingen, wo er bis zum Frühjahr 1777 blieb und die bereits erwähnte Erzählung Der Landprediger schrieb und veröffentlichte.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1777 reiste Lenz durch die Schweiz, wanderte durch die Schweizer Berge. Während er in Zürich bei seinem Bekannten Johann Kaspar Lavater lebte, begann sich sein Zustand allmählich zu verändern. Seine psychische Instabilität wuchs unaufhörlich. Dennoch zog er weiter und versuchte zu kaschieren, was noch zu kaschieren war.

Während seines Aufenthaltes bei dem Arzt und Dichter Christoph Kaufmann in Winterthur, erlitt Lenz schließlich einen schweren Anfall von paranoider Schizophrenie. Geistige Verwirrtheit und Wutausbrüche suchten ihn heim, er schlug wild um sich, dann wieder mit dem Kopf gegen die Wand, so stark, dass Kaufmann meinte, er wolle sich umbringen. Und da diese Wahnsinns- und Wutanfälle sich häuften, reagierte Kaufmann rasch. Lenz wurde in eine Anstalt geschickt und kam 1778 zum berühmten Reformpfarrer Johann Friedrich Oberlin, der uns nochmals im Fall Hölderlin begegnen wird – doch es half nichts: In der Zeit dort im Sanatorium verschlechterte sich Lenz’ Zustand rapide. Er unternahm zahlreiche Selbstmordversuche und schien auf keine Therapie anzusprechen. Von den drei Wochen bei Oberlin erzählt auch Büchners Erzählung Lenz. Diese Zeit bei Oberlin gilt in Biografien von Lenz heute als Zäsur, quasi als Anfang vom Ende.

Der gescheiterte Dichter wurde wieder heimgeschickt, wo er sukzessive den Bezug zur Realität verlor. Erneut reiste er nach Emmendingen zu Johann Georg Schlosser, dessen Frau Cornelia 1777 verstorben war, wo er bei einem Förster und später bei einem Schuhmacher zur Miete lebte, und erlitt weitere Anfälle. Seine finanzielle Situation war zu diesem Zeitpunkt mehr als besorgniserregend, weshalb Freunde und Bekannte am 3. und am 29. März des Jahres 1779 Geldsammelaktionen für ihn veranstalten. Lenz fühlte sich nun aber zunehmend fremd in Deutschland und meinte, dass er vielleicht in Livland oder aber in Moskau seine Ruhe wiederfinden würde.

Er kam am 23. Juli 1779 tatsächlich für kurze Zeit zurück in seine livländische Heimat, reiste über Riga und Sankt Petersburg, wo er hoffte, eine Anstellung am Hof Zarin Katharinas zu bekommen, was aber scheiterte, schließlich weiter nach Moskau, wo er im November 1779 ankam, in der Hoffnung, dort endlich literarisch reüssieren zu können. Anfangs bestand durchaus noch Hoffnung, dass die schlimmste Phase seiner Anfälle vorbei und vielleicht wieder Normalität möglich wäre.

Er lebte nun ab 1782 bei dem Historiker Müller und erhielt im gleichen Jahr mehrere Anstellungen als Hofmeister. Als Müller im Oktober 1783 verstarb, war Lenz für kurze Zeit obdachlos und kam so, quasi durch Zufall, in Kontakt mit den russischen Freimaurern. Er freundete sich Nikolai Karamsin, Alexander Petrow, Alexander Radischtschew und Fürst Jengalytschew an, allesamt Freimaurer und Aufklärer, und wechselte in dieser Zeit unregelmäßig die Wohnungen.

In Moskau unterstützten ihn Freunde finanziell und er arbeitete streckenweise als Hauslehrer und Übersetzer aus dem Russischen, immer wieder stellten sich jedoch die Anfälle seiner paranoiden Schizophrenie ein. Er versuchte nun nicht mehr, seine Krankheit zu therapieren. Helle Momente waren rar. Für kurze Zeit nahm er einen Posten in einer öffentlichen Schule an.

Einige Jahre später, wahrscheinlich in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792, wurde er auf einer Moskauer Straße – ob nun nackt oder nicht, wie einige Quellen angeben, sei dahingestellt – tot aufgefunden. Er war kurz zuvor obdachlos geworden, nachdem sein Haus von Soldaten umzingelt worden war. Lenz gehörte mittlerweile den Moskauer Freimaurern an, die bei Zarin Katharina zunehmend in Ungnade gefallen waren, man unterstellte der Gruppe Konspiration und wollte jegliches aufklärerisches Gedankengut, das die Französische Revolution freigesetzt hatte, im Keim ersticken. Karamsin war sogar kurz zuvor verhaftet worden. Lenz hatte wohl in dieser Nacht einen letzten schweren Anfall erlitten. Diesmal führte er tatsächlich zum Tod.

Wie bereits erwähnt, war Jakob Lenz keiner, der viel über sich schrieb oder seinen Zustand großartig reflektierte, am 6. Juni 1787 notierte er, etwas wirr: »Ich bin fast ganz von Kleidern und Wäsche gekommen, durch diese scharfsinnige Sucht nach Ähnlichkeiten, die uns alle Individualität nimmt.« Dies kann durchaus so gelesen werden, dass er auch sein literarisches Schaffen immer nur als Nacheifern von anderen großen Namen, wie etwa jenem Goethes, wahrgenommen hat. Sein ehemaliger Zürcher Gastgeber Lavater schrieb ihm ebenfalls 1787 einen sehr persönlichen Brief, durchaus sorgenvoll, da er gehört hatte, dass es dem Dichter alles andere als gut gehe: »Hättest Du mir Doch auch mehr von Dir, deiner Person u. Lage, Deinem Thum und Leiden, Deinem Lieben und Hoffen, Deinem Leben und Glauben geschrieben«, hieß es da. Der Brief blieb unbeantwortet, aber am 20. April desselben Jahres erreichte Lavater eine Nachricht von Karamsin, bei dem Lenz damals lebte und der einer seiner engsten Freunde geworden war: »Was soll ich Ihnen von Lenzen sagen? (…) Er befindet sich nicht wohl. Er ist immer verwirrt. Sie würden ihn gewiss nicht erkannt haben, wenn Sie ihn jetzt sähen. Er wohnt in Moskau, ohne zu wissen, warum. Alles, was er zuweilen schreibt, zeigt an, daß er jemals viel Genie gehabt hat; aber jetzt …« Es bemühten sich also durchaus Freunde um ihn, auch wenn sie Lenz weder heilen noch vor dem frühen Tod bewahren konnten.

Im Kirchenbuch der Michaeliskirche findet sich eine kurze Notiz zu seinem Todestag: »Den 23. Mai, der Candidat Hr. Carl Lenz aus Dorpat, als 39 Jahr, an der Schwindsucht.« Höchstwahrscheinlich ist damit Jakob Lenz gemeint, auch wenn der Vorname und das Lebensalter falsch angegeben waren. Der Dichter war zum Zeitpunkt seines Todes 41 Jahre alt. Die Schwindsucht wurde damals recht inflationär als Todesursache angegeben, mag hier also nur Lückenfüllercharakter gehabt haben. Wann, wo und wie Jakob Michael Reinhold Lenz begraben wurde, ist unklar, wie viele Menschen an der Sargniederlegung teilnahmen, ebenso. Was allerdings gesichert ist, ist, dass er auf Kosten eines »hochherzigen russischen Adeligen«, womit Fürst Jengalytschew gemeint war, bestattet worden war.

In der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung stand ein paar Tage nach seinem Tod der einzige – sehr kurze – Nachruf auf ihn: »Er starb, von wenigen betrauert und von keinem vermißt.« Was wiederum zeigt, dass die nur wenige Jahre dauernde Freundschaft mit Goethe weniger Auswirkungen auf Lenz’ nachhaltige literarische Bekanntheit gehabt hatte als das Zerwürfnis mit ihm. Denn Goethe hatte Lenz recht bald der Nachahmerei bezichtigt und seine Werke zurückgehalten, um ihn als Nebenbuhler um den Erfolg auszuschalten. Goethes Dominanz in der Literaturwelt des achtzehnten Jahrhunderts war so übermächtig, dass Lenz’ Werke, obwohl genial und ähnlich talentiert wie Goethe, der über seinen ehemaligen Freund später abschätzig meinte, dieser wäre »nur ein vorübergehendes Meteor« gewesen, schließlich in Vergessenheit gerieten und mit ihnen ihr Autor. Ein Umstand, den Lenz sein Leben lang betrauerte und woran er womöglich auch geistig zerbrach.

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