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»Ich habe nie Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli oder Scarivari oder Salvator Rosa oder so was.« Friedrich Hölderlin, deutscher Dichter

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(1770 bis 1843)

Ein schwärmerischer Geist war dieser Friedrich Hölderlin. In Lauffen am 20. März 1770 geboren, in den Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn erzogen, studierte er schließlich Philosophie und Theologie im Tübinger Stift, wo er auch Bekanntschaft mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel machte. Der junge Hölderlin steckte voller kreativem Tatendrang und beobachtete und verfolgte mit großem Interesse die politischen Umwälzungen, die mit der Französischen Revolution 1789 passierten. Fast kein Gedicht findet sich aus dieser Zeit, das nicht wenigstens am Rande die Aktivitäten in Frankreich zum Thema hatte. Aber noch viel lieber vertiefte er sich in die griechische Kultur und Philosophie. Er studierte neben den Schriften Immanuel Kants auch jene von Platon und Hesiod. Das recht rigide und steife Studium an der Hochschule gefiel ihm da schon weniger: »Meinetwegen könnten alle Magisters und Doktors-Titel sammt hochgelahrt und hochgeboren in Morea (dem unfruchtbaren südlichen Zipfel Griechenlands, Anm. d. A.) sein«, schrieb er an seine Mutter.

Nach seinem Abschluss im Tübinger Stift, im September 1793, schlug Friedrich Schiller den jungen Hölderlin als Hofmeister, also als Hauslehrer und Verwalter, bei der Familie Charlotte von Kalbs in Waltershausen bei Franken vor, wo er Ende des Jahres dann ankam. Eineinhalb Jahre war er dort in Diensten, eineinhalb Jahre, in denen Hölderlin mit der jungen Angestellten Wilhelmine Marianne Kirms eine Beziehung führte – sie brachte eine uneheliche Tochter zur Welt – und der Dichter intensiv an seinem Briefroman Hyperion arbeitete.

Ab 1794, dem Jahr, als er auch Goethe kennenlernte, klagte Hölderlin immer öfter über psychische Beeinträchtigungen – er sprach von Zuständen allgemeiner Erschöpfung, Einsamkeitsgefühl, Entfremdung. Das folgenschwere Ereignis dieser Zeit war wohl seine »Flucht aus Jena« im Frühsommer 1795: Hiermit hatte Hölderlin den Verlust der Freundschaft zu Schiller in Kauf genommen. Dieser hatte ihn ermuntert, Beiträge für sein neugegründetes Journal Die Horen zu schreiben. Hölderlin lehnte aus Selbstzweifeln ab und wollte seine Unfähigkeit, Entschlüsse zu fassen, mit der überstürzten Abreise aus Jena bekämpfen. In einem Brief an Schiller gab er zu, dass dessen »beunruhigende Nähe« ihn fühlen ließ, dass er (Hölderlin) ihm (Schiller) nichts bedeute. Ob das die wirklichen Beweggründe waren, bleibt jedoch unklar.

Im Januar 1796 trat Hölderlin die Hofmeisterstelle im Hause Gontard in Frankfurt an. Etwa im Sommer begann Hölderlins Schwärmerei für die Dame des Hauses, Susette Gontard. Aus Schwärmerei wurde Liebe. Hölderlin machte Gontard in seinen Dichtungen zur Figur der Diotima. Sie bleibt lange Zeit das Zentrum seiner Aufmerksamkeit, seine womöglich größte Liebe. Als sie 1802 starb, erschütterte ihn die Nachricht ihres Todes sehr, die Bekanntschaft mit ihr wird daher in manchen Biografien als Anfang vom Ende von Hölderlins psychischer Gesundheit angesehen.

Im November 1799 suchte Hölderlin nun einen Arzt auf – er glaubte, unter einer Gallenkolik zu leiden. Der Arzt war Dr. Müller. Er kannte Hölderlin bereits, war der Dichter doch schon oft bei ihm gewesen, immer wieder mit Verdacht auf die eine oder andere Krankheit. Dr. Müller notiert damals: »starke Hypochondrie«. Müller wird sechs Jahre später auch das psychiatrische Gutachten Hölderlins erstellen.

Als Hölderlin nach Stuttgart zurückkehrte, war er noch gezeichnet vom »bösen maladen Jahr« 1799. In folgenden Jahr 1800 brachte er jedoch zahlreiche Oden wie Der Neckar und Rückkehr in die Heimat, sowie die Elegie Der Wanderer heraus. Erfolg wollte sich aber nicht so recht einstellen. Hölderlins psychischer Zustand war eine tickende Zeitbombe. Plötzliche Wutanfälle und lange wirre Monologe wechselten sich mit klaren Momenten ab. Noch trotzte er seinem Verfall und stürzte sich in ambitionierte Arbeiten wie die Vaterländischen Gesänge, die Nachtgesänge und die Übertragungen der Sophokles-Dramen Ödipus und Antigone.

Als sein Freund Isaak von Sinclair, dem Hölderlin in seinem Hyperion mit der Rolle des Alabanda ein Denkmal setzte, wegen Hochverrats angeklagt wurde und mit ihm auch die engsten Freunde, zu denen Hölderlin gehörte, stürzte das den ohnehin schon angeschlagenen Zustand des Dichters in Exaltationen, die alles noch verschlimmerten. Hölderlin wurde daraufhin vom Homburger Arzt und Hofapotheker Müller, für nicht-vernehmungsfähig erklärt. Müller schrieb in seinem Gutachten, dass Hölderlins »Wahnsinn in wilde Raserei übergangen« sei, als er mit der Anklageschrift konfrontiert wurde. Er soll »Ich will kein Jakobiner sein!« geschrien haben.

1803 wurde Hölderlin von seinem Freund Schelling besucht und dieser schrieb, geschockt über dessen allgemeinen Zustand: »Bis zum Ekelhaften vernachlässigt sowie still und in sich gekehrt.« – Hölderlin war nach Nürtingen zurückgezogen und lebte wieder bei der Mutter. Die hatte wenig Verständnis für den Beruf ihres Sohnes – er schrieb offen, dass er sich in ihrer Gegenwart einem enormen moralischen Druck ausgeliefert sah. Nicht klar ist, wie hoch das Erbe war, das Hölderlins Vater hinterlassen hatte, aber obwohl das Verhältnis ein unübertrieben schwieriges war, ließ die Mutter ihrem Sohn immer wieder größere Geldsummen zukommen.

1804 kehrte Hölderlin nach Homburg zurück, wo er bei den Menschen bald als wahnsinnig galt. Er fing auf der Straße Selbstgespräche an, zog sich immer wieder zurück, reagierte gehäuft mit Reizbarkeit und die bereits erwähnte Verhaftung Sinclairs und die Furcht, nun ebenfalls eingesperrt zu werden, brachten das ganze Fass zum Überlaufen. Der Dichter verkündete, Stimmen zu hören, die manchmal böse Drohungen gegen ihn aussprachen. Dr. Müller fielen auch »Eigentümlichkeiten in der Sprache« auf, die auf eine »Schizophrenie« oder »depressive Melancholie« hindeuteten.

Im Zuge der Mediatisierung Homburgs (die Unterwerfung von Herrschaften und Besitzungen unter eine Territorialherrschaft) wurde Friedrich Hölderlin auf Anraten des Amtsarztes nach Tübingen in das von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth geleitete Universitätsklinikum verlegt. Dies entsprach der damals legitimen Zwangseinweisung. Hölderlin schrie, spuckte und schlug um sich. Im Aufnahmebericht der Klinik hieß es: »Anfälle einer Nerven-Krankheit und periodische traurige Spuren einer zerrütteten Einbildungskraft«.

Da Hölderlin nicht mehr fähig war, alleine zu leben, wurde er im Mai des Jahres 1807 in private Pflege beim Tischlermeister Zimmer gebracht. Der sorgte für den leidgeplagten Hölderlin in einem Turm in Neckar, den der Dichter nun bis zu seinem Tod 1843 quasi nicht mehr verlassen sollte. 36 Jahre dämmerte er dort dahin, hatte zwar immer wieder klarere Augenblicke, aber hatte mit der Gesellschaft und mit seinem Gesamtwerk, dem in dieser Zeit nichts mehr hinzukam, abgeschlossen. Helle Phasen soll es bei Friedrich Hölderlin nur in den Jahren 1818 und 1823 gegeben haben, zumeist wirkte er vollkommen verwirrt und abwesend. Immer wieder bekam er in all den Jahren Besuch. Manchmal war er bereit, diesen zu empfangen, in den meisten Fällen aber weigerte er sich. Zu den paar zugelassenen Besuchern aber soll er außerordentlich höflich gewesen sein. Ja, seine Sätze und Gesten sollen fast einstudiert gewirkt haben, so als würde er auf der Bühne eines Theaters stehen.

Seine Pfleger und Besucher nannte er »Eure Majestät« oder »Eure Heiligkeit« und sich selbst gab er immer wieder neue Identitäten. Mal sagte er: »Ich, mein Herr, bin nicht mehr von demselben Namen, ich heiße nun Killalusimeno.« Bei einem seiner wenigen Aufenthalte außerhalb des Turmes besuchte er mit seinem Freund Justinus Kerner einen Gasthof. Hölderlin soll plötzlich gesagt haben, dass er »und alle Anwesenden (…) bloß Figuren auf einem Schachbrett« seien. Gleich nachdem er das sagte, bekam er einen Anfall von Panik und sprang aus dem ebenerdigen Fenster der Gaststube. In den letzten Jahren war er überzeugt davon »Scardanelli« zu heißen, an manchen Tagen hörte er auch auf »Salvator Rosa« oder »Scarivari«; wenn man ihm sagte, dass er tatsächlich »Friedrich Hölderlin« heiße, soll er Wut- und Tobsuchtsanfälle bekommen haben. Er soll dann oft gesagt haben: »Ja, die Gedichte sind echt, die sind von mir; aber der Name ist gefälscht, ich habe nie Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli, Scarivari oder Salvator Rosa oder so was.« Briefe an seine Mutter unterschrieb er indes nach wie vor als »Friedrich«. Seine letzten, recht wirren Gedichte unterzeichnete er mit einem der drei genannten Namen und datierte sie über hundert Jahre zurück, gerade so, als fühlte er sich schon gar nicht mehr der Zeit zugehörig.

Von den Lyrikern des »Jungen Deutschland«, der dichtenden Generation nach ihm, wurde Hölderlin verehrt. Der jungverstorbene Wilhelm Waiblinger verfasste 1830 das biografische Essay: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn und läutete damit schon zu Hölderlins Lebzeiten die moderne Hölderlin-Forschung ein. Georg Herwegh schrieb 1839: »Hölderlin, der eigentlichste Dichter der Jugend, dem Deutschland eine große Schuld abzutragen hat, weil er an Deutschland zugrunde gegangen ist.« Und der junge Poet Johann Georg Fischer besuchte sein Idol noch wenige Monate vor dessen Tod und bat um ein Gedicht. Hölderlin soll geantwortet haben: »Wie Ehrwürdige Heiligkeit befehlen. Soll ich Strophen über Griechenland, über den Frühling, über den Zeitgeist?« Es scheint, als würde er nur noch Versatzstücke aus dem Gedächtnis zusammenfügen, ohne tatsächlich noch dichten zu können. Die meisten Texte aus der »Turm«-Zeit sind nicht mehr erhalten. Entweder wurden sie als sinnloses Geschreibsel eines Irren weggeworfen oder als Kuriosität irgendwo verkauft.

Am 7. Juni 1843, nach 23 Uhr, stirbt Hölderlin an den Folgen einer Erkältung »ohne noch einen besonderen Todeskampf zu bekommen«. Heute genießt der Hölderlin-Turm in Tübingen bei kunst- und kulturinteressierten Touristen das Prädikat »Muss man gesehen haben!«.

Die Theorie des französischen Hölderlin-Biografen Pierre Bertaux, dass der Dichter sich, quasi als romantischer Aussteiger, all die Jahrzehnte »verrückt gestellt« habe, um politischen Repressalien zu entgehen, wurde und wird stark angezweifelt, denn zwei Fragen drängen sich dabei auf: Einerseits das Warum, denn da hätte man auch genauso gut über die Landesgrenzen flüchten können, und andererseits die Frage, wie man so ein »Schauspiel« drei Jahrzehnte lang durchhalten könne. Und das noch dazu ohne »Happy End«. Nein, vielmehr gilt die Diagnose einer Schizophrenie bei Hölderlin als sehr wahrscheinlich, sie wird erstmals in Wilhelm Lange-Eichbaums Pathographie des Dichters erwähnt. Er postuliert in seinem Werk eine Sonderform der »katatonen Schizophrenie«, bei der psychomotorische Störungen das Krankheitsbild bestimmen.

Hölderlins Krankengeschichte ist eine sehr gut dokumentierte. Bereits seine Mutter hat beim jugendlichen Hölderlin einen »Hang zur Trauer« festgestellt, er habe, wie sie schrieb, ein »angeborenes düsteres Wesen und die von Natur ererbte Melancholie«. Ab seinem siebzehnten Lebensjahr berichtet er Freunden von »seelischer Verstimmung« und einem kränklichen Zustand. Es wird heute angenommen, dass Hölderlin auch an Tuberkulose erkrankt war und die Symptome dieser Krankheit nicht gänzlich erkannt wurden. Immer wieder klagte er in Briefen an Freunde oder Verwandte selbstkritisch über sein cholerisches Temperament: »Ich habe nebenher einen traurigen Ansatz von Rohheit, daß ich oft in Wuth gerath – ohne zu wissen, warum, und gegen meinen Bruder auffahre, wenn kaum ein Schein von Belaidigung da ist.«

Der Mediziner und Historiker Adolf Beck stützt die Theorie der katatonen Schizophrenie anhand einer Auflistung der Krankheitssymptome im Vergleich zu allen beschriebenen und dokumentierten Symptomen Hölderlins. Sieben Punkte hob Beck hervor: Zustände hochgradiger Erregung, Wutanfälle; starke motorische Unruhe, stundenlanges Hin- und Hergehen im Zimmer zu jeder Uhrzeit; Zerfahrenheit des Denkens (sein zwischen 1797 und 1800 geschriebener Essay Grund für Empedokles ist vollkommen ohne Sinn, nur eine konfuse Aneinanderreihung von Satzgefügen); Bildung von Wortschöpfungen (z. B.: totendfaktisch); intellektueller Negativismus; Selbstgespräche, Halluzinationen; Verleumdung des eigenen Ichs und die Aneignung fremder Namen und Identitäten. All diese Symptome passen sehr exakt zu dem Dichter und dennoch gibt es, wie erwähnt, nach wie vor Stimmen, die überzeugt davon waren (und bleiben), dass der Dichter seinen psychischen Zustand all die Jahrzehnte nur vorgespielt habe, einfach, weil er mit dem Rest der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben wollte. Ein geistiger Aussteiger quasi.

Wahnsinnig anders

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