Читать книгу Wahnsinnig anders - Clemens Ottawa - Страница 6

Vorwort

Оглавление

Dieses Buch erzählt die Lebenswege von unterschiedlichen Persönlichkeiten der Weltgeschichte: Menschen aus verschiedenen Jahrhunderten, aus Adel und Politik, Kunst, Literatur, Philosophie, Musik und Film. Töchter und Söhne großer Namen oder selbst bekannt und berühmt, Vorreiterinnen und Vorreiter auf ihrem Gebiet.

Aber dies ist auch ein Buch über Krankheiten; über den Wahn und die Manien, an denen diese Personen litten. Nicht selten wurden sie mit dem Unverständnis ihrer Umgebung konfrontiert, wurde ihnen mit Kopfschütteln begegnet, galten sie als »versponnen« oder »übergeschnappt«, zerbrachen sie an der Rohheit ihrer Umgebung und oft fristeten sie ihre letzten Lebensjahrzehnte weggesperrt von der Gesellschaft in Nervenheilanstalten. Der US-amerikanische Kommunikationstheoretiker Harold Laswell sagte einmal: »Der pathologische Verstand ist wie ein Automobil, dessen Schalthebel in einem Gang festhängt; der normale Verstand kann umschalten.« Der entrückte Verstand allerdings nicht. Jedoch stellt sich die Frage, wann ein Verstand wirklich »verrückt«, »versponnen« oder »pathologisch« ist. Und das ist reichlich schwer zu beantworten, da sich die Definition im Laufe der Zeit veränderte. Im Humanismus und auch während der Strömung der Romantik war die Schwermut, auch Melancholie genannt, als eine Form der Geisteskrankheit hoch im Kurs. Der leidende Poet, die gebeutelte Poetin, der grüblerische Künstler, der womöglich noch gegen eine Schaffenskrise kämpfte – alle prädestiniert für Melancholie. Ende des achtzehnten, Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurden vor allem Frauen gerne als bloß »hysterisch« und »manisch« bezeichnet, teilweise auch in Situationen, deren Hintergrund uns heute im Gegensatz zu damals besser bekannt ist, zum Beispiel, wenn es einen allergischen Anfall gab, wodurch ihr Leiden also als etwas Übertriebenes abgetan, obwohl es dennoch behandelt wurde. Bei »Frauenhysterie« reichten die Maßnahmen von Aderlass bis hin zur Amputation von Gliedmaßen, was freilich in der Regel nicht zur Heilung führte.

In manchen Fällen, die in diesem Buch beschrieben werden, mag es wohl einigermaßen stichhaltige medizinische Indizien für eine Pathologie im Sinne einer »Geisteskrankheit« oder wie man heute akkurater sagen würde: psychischer Störung oder Psychose gegeben haben. Doch es gibt ebenso Fälle, bei denen man sich heute nicht mehr sicher ist, ob eine tatsächliche Erkrankung vorlag oder ob man einfach nur unangepasste und unangenehme Zeitgenossinnen und -genossen loswerden wollte, indem man eine psychische Erkrankung als Vorwand nutzte, um sie aus dem Weg und aus der Öffentlichkeit zu schaffen.

Existiert am Ende eine Kausalität zwischen einzelnen Berufsgruppen und Wahnsinn? Autoritäre Politiker und Diktatoren unterliegen ja nicht selten dem Größenwahn, der ist allerdings keine psychische Erkrankung im eigentlichen Sinne, mehr eine Verkehrung der Wahrnehmung. Hans Christian Andersen ließ den Kaiser in seiner Geschichte Des Kaisers neue Kleider nackt herumstolzieren, und weil er keinerlei Kritik hörte und sie auch nicht gewohnt war, nahm er sich weiterhin als der imposante, unfehlbare Herrscher wahr. Aber wie sieht es die Wissenschaft, um die Frage der Kausalität wieder aufzugreifen? Der Philosoph Ludwig Wittgenstein meinte, dass es eine »innere Verwandtschaft von Philosophie und Verrücktheit« gebe, ein Thema, dessen sich der schweizerische Psychoanalytiker und Philosoph Daniel Strassberg in seinem Buch Der Wahnsinn der Philosophie annimmt. Platon etwa unterscheidet vier Formen des Wahns: Den manischen, den mystischen, den poetischen und den erotischen. Keiner von ihnen wird bei Platon positiv gesehen, denn je mehr sich der Mensch in etwas hineinsteigert, desto manischer und wahnhafter werden er und sein Geist dabei, einzig der göttliche Wahn wurde in der Antike und auch noch im Mittelalter (dort allerdings nur, wenn er den Maximen der Katholischen Kirche entsprach) positiv gesehen. Religiöse Fanatiker, die dem Glauben wahnhaft verfallen waren, wurden als Sprachrohre Gottes angesehen, ein Umstand, der sich mit der Neuzeit änderte. Religiöser Wahn begegnet uns in diesem Buch etwa bei Persönlichkeiten wie Gogol oder Zelda Fitzgerald.

Das vorliegende Buch erzählt Lebensgeschichten, wie sie vielleicht eher selten dargestellt werden. Und es gibt Auskunft darüber, an welchen Erkrankungen, nach heutigem medizinischpsychiatrischen Ermessen, diese Personen gelitten haben könnten. Speziell das neunzehnte Jahrhundert, mit den Strömungen der Romantik und des Realismus, in denen die leidende Psyche, das Genie, der Wahn und die Manien, mal als »Tollheit«, mal als »Schwermut« oder »Raserei« bezeichnet, oft wichtiger Bestandteil der Kunst und Literatur waren, führt dazu, dass sich in dieser Sammlung einige Vertreterinnen und Vertreter dieser Epoche befinden.

Dies ist ein Buch über Menschen, von denen einige nach wie vor fest im kollektiven Gedächtnis verankert, berühmt, vielleicht auch berüchtigt, andere hingegen in Vergessenheit geraten sind und hier wieder in Erinnerung gerufen werden. Es möchte dazu aufrufen, über bestehende und allgemein anerkannte Urteile nachzudenken, und dazu anregen, sich viele dieser Persönlichkeiten in neuem Licht anzusehen, womöglich auch neu zu rezipieren und andere neu- oder gar wiederzuentdecken, und vielleicht sogar Neues über vertraute Namen zu erfahren.

Wahnsinnig anders

Подняться наверх