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Frankreich und die europäische Integration: Sicherheit durch Integration

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„Ohne den breiten Diskurs in der europäischen Öffentlichkeit über Europa, ohne die Europakonzepte des Widerstands13, ohne die Diskreditierung des Nationalstaats in weiten Kreisen der kontinentalen europäischen Bevölkerung, ohne die Europabewegungen der Nachkriegszeit wären die damaligen Weichenstellungen kaum möglich gewesen, weder die Einrichtung des intergouvernementalen Europarats 1949 noch die Durchsetzung der Montanunion 1950“, betont Hartmut Kaelble in seinen Überlegungen zur Startphase der europäischen Integration14. Auch Wilfried Loth sieht in der Hybris des Nationalstaates eine der wichtigsten Antriebskräfte für den Integrationsprozess und spricht in Bezug auf die Situation der europäischen Nationalstaaten von einem Defizitbündel, das neue Bewegungen ausgelöst habe, „die auf eine Relativierung des nationalstaatlichen Ordnungsprinzips zielten“15. Im Mittelpunkt der nach dem Krieg einsetzenden Überlegungen standen aber naturgemäß Deutschland bzw. die Frage, wie Europa Sicherheit vor dem deutschen Nachbarn erreichen könne16. Lösungen mussten gefunden werden, um Deutschland mit seinem schwerindustriellen Kriegspotenzial zu kontrollieren, ohne jedoch wie nach dem Ersten Weltkrieg einen neuen Revanchismus herauszufordern. Diese Erkenntnis leitete gerade das politische Handeln von Robert Schuman, der sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie für eine neue Politik auf Grundlage des Versöhnungsgedankens stark machte17. Doch auch bei Schuman wäre es falsch, davon auszugehen, dass „Frankreich damals in einem Anfall von unvergleichbarer Großzügigkeit gegenüber seinem ehemaligen Feind diese Politik einschlug“18. Zwar spielte der Geist der Versöhnung eine entscheidende Rolle, doch zugleich verband dieser sich mit vitalen nationalen bzw. „realistischen“ Interessen19.

Der Zweite Weltkrieg hatte die Kräfteverhältnisse durchgreifend verändert und Europa eines Großteils seiner ökonomischen Potenziale beraubt, wohingegen die USA auf wirtschaftlicher Ebene die eigentliche Siegermacht war. Nationaler Protektionismus wäre die falsche Antwort auf diese Veränderungen gewesen, so dass es zur Wiedergewinnung von Produktivität nur darum gehen konnte, einen gemeinsamen europäischen Markt zu schaffen. Diese wirtschaftlichen Motivationen waren stets mit politischen Erwägungen verknüpft, drohten die USA doch über die wirtschaftliche Vormacht auch politische Dominanz im Westen zu erringen. War die Notwendigkeit zur europäischen Integration auch von vielen Politikern erkannt worden, so stellte sich die Frage ihrer Umsetzung, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit weiterhin auf vielfache Blockaden stieß, wie Andreas Wirsching unterstreicht: „In der Praxis bestanden zunächst zu viele nationale Interessen fort, die faktisch jeden Plan einer kohärenten Integrationspolitik blockierten“20.

Nachdem die Europabewegung Ende der 1940er Jahre ihren Zenit überschritten hatte, bedurfte es des Ausbruchs des Kalten Krieges, um die Einigung Westeuropas auf die politische Tagesordnung zu setzen. Zum einen verloren durch die Angst vor der Sowjetunion als stärkster Militärmacht auf dem europäischen Kontinent bisherige Interessendivergenzen an Bedeutung, zum anderen erhöhten die USA den Druck auf Westeuropa. Nachdem Großbritannien sich geweigert hatte, die Führungsrolle in dem Integrationsprozess zu übernehmen, richtete sich der Blick Washingtons auf Frankreich, das angesichts der eigenen Schwäche auf amerikanische Wirtschafts- und Militärhilfe angewiesen war. Paris konnte es sich daher nicht erlauben, amerikanische Forderungen nach supranationalen Integrationsstrukturen schlicht zurückzuweisen, was auch für die integrale Einbeziehung des sich herausbildenden deutschen Weststaates galt. Dem wachsenden Druck zur europäischen Einbindung begegnete der französische Außenminister Georges Bidault schließlich auf einer Sitzung des Konsultativrates der Brüsseler Mächte am 20. Juli 1948 – nur zehn Tage nach dem Haager Kongress der europäischen Einigungsbewegung – mit einem Appell zur Einberufung einer Europäischen Parlamentarischen Versammlung, die über die Modalitäten eines europäischen Zusammenschlusses und die Vorbereitung einer Wirtschafts- und Währungsunion beraten sollte. Dieses Datum gilt heute allgemein als Wende bzw. als Ausgangspunkt im Prozess der europäischen Integration21. Kurzfristig gelang jedoch – nicht zuletzt wegen der zurückhaltenden Rolle der Briten – nur die Gründung des Europarats am 5. Mai 1950, der die Einheit und Zusammenarbeit in Europa fördern sollte, jedoch nie über die Rolle eines Ideengebers hinauskam, der von dem Wohlwollen der nationalen Regierungen abhängig blieb22.

Die von den Amerikanern immer offensichtlicher betriebene politische und wirtschaftliche Stärkung Westdeutschlands blieb eine permanente Herausforderung für die französischen Sicherheitsinteressen. Insbesondere der vorauszusehende Wiederaufbau der deutschen Schwerindustrie entwickelte sich für Paris zum Bedrohungsszenario, galten Kohle, Eisen und Stahl doch auch in der zweiten Nachkriegszeit immer noch als Grundlage für militärische Stärke und Großmachtpolitik. Eile war also geboten, um die politisch-wirtschaftliche Einbindung des östlichen Nachbarn möglichst bald zu vollenden23. Angesichts dieser Lage sahen die Handlungsträger in der französischen Hauptstadt den einzigen Ausweg in einer „Flucht nach vorn“24, die Frankreich die Möglichkeit bieten sollte, das industrielle Ungleichgewicht im Vergleich zum östlichen Nachbarn zu seinen Gunsten zu verändern, um damit zugleich die Zügel des europäischen Zusammenwachsens in seinen Händen zu halten. Die von den Amerikanern betriebene europäische Integration lag somit auch im genuinen nationalen Interesse Frankreichs und weist auf die zentrale Rolle der Nationalstaaten und ihrer Regierungen im Prozess der europäischen Integration hin25.

WBG Deutsch-französische Geschichte Bd. X

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