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Der Schuman-Plan

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Eine neue Möglichkeit, die Bundesrepublik unumkehrbar mit dem Westen zu verbinden und gleichzeitig Punktegewinne im innerdeutschen Wettbewerb zu verzeichnen, bot sich Konrad Adenauer, als der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 im Uhrensaal des französischen Außenministeriums einen für die Weltöffentlichkeit unerwarteten Vorschlag unterbreitete36, der Frankreichs Sicherheitsbedürfnis in doppelter Hinsicht Rechnung trug, wie Jacques Bariéty schreibt:

„Diese Lösung erlaubte einerseits durch die Bindung des neuen Deutschlands an den Westen, der Gefahr einer deutsch-sowjetischen Verbindung vorzubeugen, und andererseits durch die Integration des neuen Deutschlands in eine westeuropäische Gemeinschaft, es einzufügen, es zu kontrollieren, ja sogar ihm bestimmte Attribute der nationalen Souveränität, besonders im Bereich der Sicherheit, zu versagen“37.

Schumans Vorschlag setzte sich deutlich von den traditionellen sicherheitspolitischen Konzepten Frankreichs ab und definierte in Anlehnung an die von Monnet bereits 1943 in Algier formulierten Pläne (vgl. Kap. I.2) eine für Europa völlig neue Friedensstrategie, die im Kontext der damaligen Zeit als kühne Tat bezeichnet werden muss. Der erste Grundsatz sei, so Hartmut Kaelble, „die Friedenssicherung durch wechselseitige Kontrolle zwischen Siegern und Besiegten, durch intensive Kontakte, durch fortwährenden Informationsaustausch, und durch Vermeidung von Phobien, Einkreisungsängsten, Fehleinschätzung des anderen“38. Was lag da näher, als Frankreich und Westdeutschland durch ein gemeinsames Projekt einander anzunähern, das den Wirtschaften beider Länder die Gelegenheit bot, aus ihrer Komplementarität Profit zu ziehen. Schuman schlug deshalb vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter eine oberste Aufsichtsbehörde zu stellen, welche die wechselseitige Kontrolle garantieren und auch anderen Staaten offenstehen sollte. Ziel war es, gemeinsam mit Italien und den Beneluxstaaten einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl zu bilden, um einer umfassenden wirtschaftlichen und politischen Einigung den Weg zu ebnen. Gleichzeitig zeigte er eine Antwort auf die bis dahin noch ungelöste Frage auf, welche Folgen es für die mehr denn je auf die deutsche Kokskohle angewiesene französische Stahlindustrie haben würde, wenn Deutschland den Export drosselte, um den steigenden Eigenbedarf für die Stahlproduktion zu decken.

Frankreich hatte aus den Fehlern von Versailles gelernt und mit dem Schuman-Plan39 „einen reizvollen Kompromiss zwischen der fortbestehenden Kontrolle des Ruhrgebiets und der Aufhebung verschiedener wirtschaftlicher Restriktionen“40 vorgeschlagen, der über den ökonomischen Wiederaufbau und die Integration der Kriegsverlierer den Frieden in Europa sichern sollte. Anders als der Völkerbund in der Zwischenkriegszeit bot die supranationale Struktur der Montanunion die Möglichkeit zur wechselseitigen Kontrolle, denn sie erlaubte sogar dem Kriegsverlierer die Rüstungsindustrie des Siegers mitzukontrollieren. Gerade Jean Monnet41, Leiter der französischen Planungsbehörde und eigentlicher Vater des Schuman-Plans, war es darum gegangen, die europäische Integration durch konkrete Projekte und erfahrbare Solidarität ein gutes Stück voranzubringen.

Vertreter jener Interpretationen, die in dem Schuman-Plan eine „erste Etappe der europäischen Föderation“ sehen oder dem französischen Außenminister gar postnationales bzw. postnationalstaatliches Denken zubilligen, sollten jedoch nicht vergessen, dass der internationale Druck auf Schuman stetig zugenommen hatte und sowohl die Amerikaner als auch die Briten Paris immer stärker drängten, einer Aufhebung der Begrenzung der westdeutschen Stahlproduktion zuzustimmen42. In der Tat hatte sich die Regierung in Paris zum damaligen Zeitpunkt in eine Sackgasse manövriert und war Gefahr gelaufen, vom Steuerplatz der alliierten Deutschlandpolitik verdrängt zu werden. Die Briten gingen gar davon aus, dass der Schuman-Plan in erster Linie eine Folge französischer Frustrationen sei, die Maximalforderungen ihrer Deutschlandpolitik nur unvollkommen umgesetzt zu haben. Sie unterstellten dem französischen Außenminister, dass seine Initiative nur dem Zweck diene, „eine international akzeptable Tarnung für dieselbe Politik zu finden, die Frankreich bisher verfolgt hatte“43, wie Herbst schreibt. Ob der Schuman-Plan eine „Mischung von großem Anspruch und Minderwertigkeitskomplexen“44 gegenüber dem deutschen Nachbarn war, sei dahingestellt, gewiss lässt er sich aber als präventive Maßnahme interpretieren, um nicht die Kontrolle über die politische und wirtschaftliche Entwicklung zu verlieren und die Grundlagen der französischen Außen- und Sicherheitspolitik zu garantieren. Die Gleichberechtigung des westdeutschen Nachbarn stand bei dieser Konzeption erst am Ende eines Verhandlungsprozesses, der die Bundesrepublik unter Druck belassen und eventuelle neue Abwege verhindern sollte.

Eine solche Sicht auf die Dinge würde in gewisser Hinsicht die These von Alan Milward stützen, der in der europäischen Integration die Voraussetzung dafür sieht, dass sich die europäischen Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg behaupten konnten45. Um ihren Bestand zu sichern, seien sie fallweise aus nationalen Eigeninteressen zu integrativen Lösungen bereit gewesen, die ihnen auf wirtschaftlichem Feld zudem häufig die Gelegenheit geboten hätten, „einige Bereiche traditioneller Staatlichkeit auf europäische Instanzen [zu] übertragen, weil sie dort besser, billiger oder politisch zweckmäßiger zu regeln seien“46. Angemessener scheint es aber wohl zu sein, bei der Suche nach den Motiven für den Schuman-Plan im Besonderen wie für die europäische Integration im Allgemeinen von einem ganzen Bündel an Beweggründen auszugehen, die eng miteinander verflochten waren, wie abschließend ein praktisches Beispiel verdeutlichen soll. Da Deutschland seinen Stahl zu einem Preis produzieren konnte, mit dem Frankreich nicht zu konkurrieren vermochte, hatte Jean Monnet in den Plan Mechanismen eingebaut, die der französischen Industrie die gleiche Ausgangssituation bescheren sollten wie der deutschen. Beide Wirtschaften galt es zu den gleichen Bedingungen mit Kohle und Stahl zu versorgen, die Exporte gegenseitig abzustimmen, Löhne, Sozialleistungen, Preise und Frachtkosten anzugleichen sowie Zollschranken abzubauen. Diese Maßnahmen sollten die französische Wirtschaft jedoch nicht nur vor dem immer noch übermächtig scheinenden deutschen Konkurrenten schützen, sondern sie gleichzeitig modernisieren und durch einen Zuwachs an Wettbewerb rationalisieren47. Ökonomische Kompetitivität brauchte Frankreich dabei nicht nur zur Lösung der inneren Probleme, sondern zugleich als Grundlage für eine zukünftige Führungsrolle in Kontinentaleuropa. Die besondere Bedeutung des Schuman-Plans für alle Beteiligten und das politische Zusammenwachsen Europas fasst Klaus Schwabe prägnant zusammen:

„Der Schuman-Plan wurde so eine Art deutsch-französischer Friedensvertrag auf der Grundlage beiderseitiger freiwilliger Zustimmung sowie internationaler Gleichberechtigung und stand damit in einem scharfen Kontrast zum Versailler Frieden. Hinter dieser erweiterungsfähigen deutsch-französischen Interessengemeinschaft stand […] die Perspektive einer politischen Föderation, die weltpolitisch als dritte Kraft ein Eigengewicht entwickeln konnte“48.

Adenauer, den der französische Außenminister im Vorfeld seiner berühmten Rede von seinen Plänen in Kenntnis gesetzt hatte, konnte den französischen Vorschlag als Bestätigung seiner Politik empfinden. Er hatte bereits in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Joseph Kingsbury-Smith am 8. März 1950 „eine vollständige Union zwischen Deutschland und Frankreich mit einem einzigen Parlament“ vorgeschlagen und diese Verbindung als „Grundstein der Vereinigten Staaten von Europa“ bezeichnet. Nach Vorbild des Deutschen Zollvereins von 1834 hatte er zudem die Bildung eines „deutsch-französischen Wirtschaftsparlaments“ angeregt, das die „organische Verflechtung“ im wirtschaftlichen Bereich vorantreiben sollte, um schließlich den Weg einer Integration Europas zu gehen. Seine Begeisterung und sein prinzipielles Einverständnis mit dem Schuman-Plan erklärten sich jedoch nicht alleine mit der bei ihm zweifellos vorhandenen Vision von einer gemeinsamen (west-)europäischen Zukunft, sondern natürlich auch mit der großen Gelegenheit für den westdeutschen Teilstaat, fünf Jahre nach Kriegsende eine weitere Klippe auf dem Weg zurück in die europäische Staatengemeinschaft zu umschiffen. Das deutsch-französische Verhältnis der damaligen Zeit lässt sich dabei sicherlich noch nicht als partnerschaftlich bezeichnen, doch hatte der Kalte Krieg die beiden ehemaligen Kriegsgegner nun zu Verbündeten gemacht, die sich gemeinsam auf der gleichen Seite des „Eisernen Vorhangs“ befanden49.

Dass diese für viele unerwartete Konstellation aber zum damaligen Zeitpunkt immer noch Unbehagen auf französischer Seite auslöste, kam in der Geschwindigkeit zum Ausdruck, auf die Paris in den am 20. Juni 1950 beginnenden Verhandlungen mit der Bundesrepublik, Italien und den drei Benelux-Staaten drängte. Die Verhandlungen mündeten nach mühsamem Verlauf und kontroversen Diskussionen um die demokratische Legitimierung der supranationalen Institutionen schließlich am 18. April 1951 in die Unterzeichnung des Vertrages über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS). In diesem auf 50 Jahre angelegten Abkommen fanden sich mit dem wirtschaftlichen Verbund der westeuropäischen Schwerindustrie mit supranationaler Lenkungsbehörde Elemente wieder, die Robert Schuman im Mai 1950 vorgeschlagen hatte, die jedoch jetzt durch das stärkere Gewicht des Ministerrats an Bedeutung verloren hatten. Gedanken an eine Marktregulierung hatten sich hingegen erübrigt, denn durch den Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 1950 war die Nachfrage nach Stahl sprunghaft angestiegen, so dass die Voraussetzungen, auf die sich der Schuman-Plan gegründet hatte, auf diesem Feld überholt waren und die beteiligten Staaten ihre Pläne auf eine Erweiterung der Produktion richteten. Trotzdem blieb die Bilanz für Frankreich positiv, das zwar durch die supranationalen Strukturen des Schuman-Plans an Souveränität eingebüßt hatte, doch zugleich zum bevorzugten Verbündeten der USA in Europa geworden war.

Doch auch die Bundesrepublik hatte einen Meilenstein auf dem Weg zur Souveränität zurücklegen können. Am 11. Januar 1952 verabschiedete der Bundestag den Vertrag über die EGKS, womit sowohl die Internationale Ruhrbehörde als auch das Ruhrstatut der Vergangenheit angehörten. Zugleich waren die „Weichen für die Ausweitung der Montanunion zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“50 gestellt. Adenauers frühe Entscheidung, die Westintegration und eine aktive Europapolitik zur bundesrepublikanischen Staatsraison zu erheben, hatte sich folglich als richtig herausgestellt. Die Bonner Republik hatte sich als verlässlicher Verbündeter erwiesen, dem in den anderen europäischen Hauptstädten auch bereits wieder ansatzweise Vertrauen entgegengebracht wurde.

Der Ostblock unter der Führung der Sowjetunion hatte auf den Schuman-Plan unverzüglich mit einer heftigen Pressekampagne reagiert und ihn in plakativer und propagandistischer Form als Idee der „amerikanischen Kriegsbrandstifter“ diffamiert51. Moskau sah im Vorschlag des französischen Außenministers ein weiteres Mosaiksteinchen im Prozess der westlichen Aufrüstung in politischer Kontinuität zu Marshall-Plan (5. Juni 1947), Brüsseler Pakt (17. April 1948) und NATO-Gründung (4. April 1949)52 bei der Herausbildung einer antisowjetischen Weltkoalition53. Im Zuge der östlichen Propagandafeldzüge entwickelte sich auch Frankreich zu einem wichtigen Aktionsfeld, schienen die Möglichkeiten zur Schaffung einer Massenbewegung doch günstig. Gerade die PCF und die von ihr angeleiteten Vorfeldorganisationen entfalteten nun eine besondere Aktivität, um ihre Führungsrolle in der Arbeiterbewegung zu demonstrieren und darüber hinaus die Machtfrage im Land zu stellen. Auch in Deutschland war der Kampf um den Schuman-Plan Ausdruck des ideologischen Gegensatzes, doch neben der Spaltung der politischen Landschaft in der Bundesrepublik vertiefte er auch die Gräben zwischen den beiden deutschen Staaten. Da sie die Schaufenster der konkurrierenden Weltanschauungen waren, stand nicht nur der Beweis für die Überlegenheit einer Politik auf dem Spiel, sondern die Existenz einer der beiden deutschen Staaten.

Die DDR stellte ihren Kampf gegen die Westintegration der Bundesrepublik ab Anfang 1951 unter das Motto „Deutsche an einen Tisch“ und wollte damit den Einheitswillen der Bevölkerung in Ost und West stärken. Diese Formel bot darüber hinaus den Vorteil, die Alliierten aus dem Spiel zu lassen. Neun Tage vor der Unterzeichnung des Vertrages über die EGKS, am 5. April 1951, beschloss der DDR-Ministerrat daher eine Erklärung gegen seine Paraphierung durch die Bundesregierung, in der Adenauer die Schuld an der Spaltung Deutschlands gegeben und zum „nationalen Widerstand“ aufgerufen wurde. Der Schuman-Plan sei ein „Verrat an der Unabhängigkeit des [deutschen] Volkes“, weil er die „Lostrennung des Ruhrgebiets von Deutschland“ und die gleichzeitige „Annexion des Saargebiets“ durch Frankreich bedeute. Damit vertiefe die Bundesregierung „die Spaltung unseres deutschen Vaterlandes“ und begünstige die Remilitarisierung Westdeutschlands54. Weiterhin argumentierte die SED, dass die Bundesregierung die Teilung Deutschlands vertieft habe, weil der Warenaustausch mit der DDR die Zustimmung der Hohen Behörde finden müsse, was sie zollpolitisch zum Ausland mache55. Mitte 1951 stand der Schuman-Plan aber schon nicht mehr im Zentrum der östlichen Propaganda. Der Kampf gegen die wirtschaftliche Integration hatte endgültig der Agitation gegen die militärische Integration Platz gemacht, weil eine solche Ausrichtung gerade in Frankreich die Möglichkeit bot, über die Widerstände gegen eine deutsche Wiederbewaffnung Schuman-Plan und Europaarmee gemeinsam zum Scheitern zu bringen56.

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