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Die Zeit, die wir noch haben …

Herr Schulte machte seinen Morgenspaziergang, kaufte am Kiosk die Tageszeitung. Wie gewohnt holte er Brötchen beim Bäcker um die Ecke, zwei Krosse und ein Kaneelbrötchen für Hertha.

Hertha konnte nicht mehr so richtig beißen, sie war zu schwach zum Kauen, sogar das weiche Brötchen musste sie einstippen, lutschte es in die Mundhöhle hinein.

Es schauderte ihn beim Zusehen, und gleichzeitig empfand er schmerzhaftes Mitleid, wenn er sah, wie die Milch in kleinem Rinnsal wieder aus den Mundwinkeln hinunter in die Halsbeuge lief. Er wischte sie dann immer mit aller Zartheit und Rücksichtnahme, derer er fähig war, mit dem neben dem Kopfkissen bereitgelegten Handtuch fort.

Ihr Hals war dünn und hager wie der eines kleinen Vogels geworden, spitz ragte zwischen den Hautfalten der Kehlkopf hervor. Vor einiger Zeit hatte sie das Sprechen aufgegeben. Herr Schulte wusste nicht, ob sie nicht mehr sprechen konnte oder nicht mehr wollte. Ihre Augen sahen ihn jedoch beredt wie stets an. Mehr als in jedem Wort lag die Liebe vieler Jahre in ihnen. Herthas Augen waren braun, von einem besonderen Braun, gelblich wie Bernsteine.

Herr Schulte kletterte schwerfällig die Stiegen hinauf. Sie wohnten im dritten Stock. Jetzt war es zu spät umzuziehen. Jahrelang hatten sie davon geredet: Wenn wir mal nicht mehr können, dann sollten wir in eine Parterrewohnung ziehen, oder in ein Haus mit Fahrstuhl. Vor der Haustür ächzte er, rang mühsam nach Atem, seine Hand zitterte, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang.

In der Diele lastete eine bedrohliche Stille. Seltsam, dass es ihm so erschien, es war immer still in der Wohnung. Aber irgendein Laut war stets zu hören. Manchmal ließ er das Radio in der Küche laut laufen, damit sie, wenn er fortging, sich nicht so einsam fühlte. Das hatte er heute beim Weggehen vergessen. Es lag wohl daran, dass er es auch versäumt hatte, ein Fenster zum Lüften zu öffnen. Draußen war ein so wunderbarer klarer Wintermorgen, und er hatte keine frische Luft hereingelassen. Sofort plagte ihn das schlechte Gewissen ob all seiner kleinen Unterlassungssünden. Sie war doch auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen.

Er horchte in Richtung der Stube. Sie lag dort am Tage auf dem Sofa, weich gebettet auf dem Daunenbett mit einem großen Kissen als Stütze im Nacken und einer flauschigen, warmen Kaschmirdecke, in einem warmen Orangeton, zum Zudecken, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.

Herrn Schultes Herz begann aufgeregt zu klopfen. Die absolute Stille war furchteinflößend, und eine Ahnung beschlich ihn, die er nicht zu Ende verfolgen wollte. Als er das Wohnzimmer betrat, wagt er es kaum, die Augen auf die auf dem Sofa Liegende zu richten. Von dort blickte ihn Hertha mit tränennassen, dennoch sehr lebendigen Augen an. Mit einer winzigen Bewegung des Kopfes bedeutete sie ihm, ihrer Blickrichtung zu folgen, hin zum Vogelkäfig, der auf einer kleinen Anrichte vor der Fensterbank stand.

Herr Schulte unterdrückte einen Laut der Erleichterung, um sie nicht zu kränken, und seufzte leise. Es war nur Peter, ihr Kanarienvogel, er war gestorben.

Das Kerzenlicht blakt

eine Rauchfahne mit Schrift

leicht verlösche ich


Einer trage des anderen Last

Aus dem Leben kleiner Leute

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