Читать книгу HIMMELSKRIEGER - Daniel León - Страница 10

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Die Gemeinde hatte aufgehört zu singen. Lange Zeit war alles still. Nur das Zwitschern der Vögel auf den Bäumen, die um die Kirche standen, war zu hören.

Sie singen noch weiter, dachte Esther, selbst wenn die Menschen verstummen. Während sie den Vögeln lauschte, erfüllte mit einem Mal unerklärlicher Friede ihre gepeinigte Seele. Instinktiv wollte sie das Gefühl abwehren, denn es war ihr so unbekannt, so fremd, doch nach kurzen Besinnen, dass sie das ja eigentlich gesucht hatte, ergab sie sich.


Denn war es nicht das, was sie unter einer himmlischen Atmosphäre verstand? So sanft, so friedlich?

Nie hatte sie Ähnliches empfunden. Heilend war der Friede. In Wellen kam er, und reichte tiefer als ihr Verstehen und Begreifen. Denn ihr Leben war ein Scherbenhaufen, mühsam zusammengehalten durch einen schwachen und rissigen Willen, der keine weitere Kraftprobe mehr würde ertragen können...

Doch dann hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, zu verstehen, um die Schwere ihres Schicksals zu ermessen.

Sie ließ los, und sie empfing. Und ahnte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass da mehr war. Viel mehr!

Etwas, dass tiefer reichte als der Zerbruch ihrer Seele, eine Macht, die ihr Herz vor dem Dunkel bewahren konnte. Warum hatte sie es nicht schon früher gesehen? Hatte sie zu sehr auf ihre Verletzungen gesehen?


Und während sie das alles erwog, wurde der Friede tief und schön. Wie ein sanfter Strom, wunderte sich die junge Frau. Dann erstarb alles in ihr. Denn etwas Hartes und Unsichtbares zerbrach, und der Schmerz kehrte zurück, mit größerer Wucht als je zuvor, so dass sie meinte, zu vergehen.

Aber auch diese Qual wurde fortgerissen von dem Strom, und mit ihr die Furcht. Dann wurde das Gefühl intensiver, und eine süße, köstliche Schwere legte sich wie ein wärmender Umhang um sie. Sie trank in tiefen Zügen, und sie war glücklich.

Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit.

Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, zu weinen.

Einige Sekunden versuchte sie, diesem lächerlichem Impuls zu widerstehen, dann gab sie auf. Zitternd stand sie auf, und setzte sich scheu in die hinterste Reihe der Kirche.

Sie, die krampfhaft Starke, sie, die erbärmlich Schwache spürte, dass sie die Kontrolle über sich verlor. Spürte, dass etwas geschah, was sie nicht mehr beiseite schieben konnte, etwas, dass seit ihrem Tod vor achtzehn Jahren nicht mehr geschehen war.

Nicht mehr geschehen durfte.


Dann, auf dem hintersten Stuhl der Kirche, den Kopf an die Wand gelehnt, brachen die Tränen, die ihrem Willen nicht mehr gehorchen mussten, aus ihr hervor.

Das Leid bahnte sich einen Weg, es kämpfte sich ins Freie, unaufhaltsam, und die Panzerung zerbrach.

Dämme, die sie lange und kunstvoll errichtet hatte, rissen.

Rüstungen, in einsamen Nächten geschmiedet, um den Schmerz zu vermauern, ihn zu verdrängen, ihn mit einem Lächeln zu überspielen, ihn in Anfällen der Wut zu zertrampeln – sie zerschellten.

Und dann erkannte sie: Nicht alle Tränen waren von Übel.

Denn in den Tränen lag auch Trost. Und Befreiung von großer Qual. So saß sie da, vielleicht dreißig Minuten, und weinte hemmungslos.

Zum Glück hatte die Gemeinde angefangen zu beten, für interne Anliegen wohl. Nach einer Zeit, die viel war, als diese dreißig Minuten, setzte sie sich auf und trocknete sich mit einem Taschentuch die Augen.

Verstohlen blickte sie sich um. Zum Glück schienen die Leute sie nicht weiter beachtet zu haben. Sie holte tief Luft, in dem kläglichen Versuch, das Erlebte einzuordnen.

Na ja, es war schon ein wichtiges Ventil, weinen zu können. Und schlecht war diese Erfindung der Natur sicherlich nicht. Also gut, sie würde das Ganze schließlich als eine tolle, emotional wichtige Erfahrung verbuchen, eine Erfahrung, die sie wohl auch ihrem Psychiater erzählen sollte.

Mehr aber nicht.


Gerade erhob sich ein älterer Herr mit kurzem, graumelierten Haar, ging zur Kanzel und stellte sich als der Prediger des heutigen Tages vor.

»Liebe Geschwister«, begann er – und alleine diese Anrede kam ihr aufgesetzt und albern vor – »ich heiße Henrik Lois, und man hat mich gebeten, heute einen kleine Rede zu halten. Ich hoffe sehr, niemanden dabei aufzuwecken.«

Dabei blickte er so verschmitzt in die Versammlung, dass Esther widerwillig schmunzeln musste.

»Ich möchte heute zu einem Thema kommen, das geheimnisvoll ist, und seit beinahe zweitausend Jahren die Phantasie der Menschen beflügelt hat. Es geht um einen Satz aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis:

Und hinabgestiegen in das Reich des Todes.

Diese Aussage der Kirchenväter stützt sich auf Texte aus dem ersten Petrusbrief. Wir wollen heute diese zwei Textstellen etwas näher betrachten:

Zuerst 1. Petrus 3,19: In diesem (seinem Geist) ist er auch hingegangen, und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt, die einst ungehorsam gewesen waren, als der Langmut Gottes in den Tagen Noahs abwartete; sowie 1. Petrus 4,6: Denn dazu ist auch den Toten die gute Botschaft verkündet worden...

Über die Bedeutung dieser Aussagen ist sich die Theologie und die Christenheit bis heute nicht einig …«

Dann folgte die Predigt des Herrn Lois, von der Esther nicht allzu viel mitbekam, denn sie betrachtete fasziniert sein Gesicht:

Er hatte strahlend blaue Augen, Heiterkeit und Würde lagen darin. Er lachte gerne, aber sie erkannte auch, dass ihn dunklere Tage nicht verschont hatten, denn die Furchen auf seiner Stirn, die leichten Schatten unter seinen Augen, und die markanten Züge um seinen Mund verrieten etwas davon.

Doch schmälerte das in keinster Weise die Ausstrahlung von Güte, die diesen Mann umgab.

Ja, insgesamt gesehen vervollständigten sie doch auf feine Art und Weise das Gesamtbild seiner Persönlichkeit.

So auch seine Gesichtszüge: Für sich alleine wirkten sie vielleicht kantig und streng, aber dieser Eindruck wurde abgemildert durch die Augen, welche Freundlichkeit und Herzlichkeit vermittelten.

Doch zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass sie auch zornig funkeln konnten – voll gerechtem Zorn natürlich – und in ihrer weiblichen Intuition erkannte sie, dass Unnachgiebigkeit und Härte ebenfalls dazugehörten.

Eben sprach er zum Beispiel mit leiser, klarer Stimme, um dann den selben Satz in einem leidenschaftlichen Appell zu beenden.

Er rührte etwas in ihr, was sie nicht begreifen konnte.

Eine Väterlichkeit vielleicht, die ihr Angst machte, die aber eine eigenartige Faszination auf sie ausübte.

Dann war da noch etwas:

Er erinnerte sie – und diese Erinnerung löste in ihr Herzrasen und Schweißausbrüche aus – an ihren Vater!

Schmerzverzerrt wandte sie ihr Gesicht ab.

Ihr wurde schwindelig, ihr Magen krampfte sich zusammen, und die vertraute Übelkeit kroch aus ihrem Unterleib herauf.

Den Rücken ganz gerade, setzte sie sich auf ihren Stuhl.

Ruhig versuchte sie zu atmen, ruhig und tief.

Langsam, ein, aus, ein, aus, ein, aus …

»Denn das«, hatte Dr. Schramm gesagt, »ist wichtig, wenn so eine Attacke kommt, und sie kommt bestimmt.«

Und daran hielt sie sich. Doch alles Gefühl in ihr war erstorben, und kalt und empfindungslos saß sie auf ihrem Platz in der hintersten Reihe der Kirche.

***

Aber die Pläne Eljons sind tiefer, flüsterte Dor, und er wusste, dass es noch jemanden gab, zu dem er gesandt war.

Und diese zwei würden die Welt verändern.

Denn aus dem Schmerz wird das Leben geboren …

HIMMELSKRIEGER

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