Читать книгу HIMMELSKRIEGER - Daniel León - Страница 18

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Tränenüberströmt lag Esther in ihrem Bett. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte. Es mussten Stunden gewesen sein, denn in ihr Zimmer schien keine Sonne mehr. Wellen des Schmerzes rollten über ihre wunde Seele hinweg.

Sie weinte um Dennis, denn endlich, nach Jahren der Verleugnung, in denen sie den Lügen ihres Verstandes geglaubt hatte, erkannte sie, dass sie ihn tatsächlich geliebt hatte. Auf ihre Art vielleicht, und bestimmt nicht vollkommen. Aber es war Liebe. In Tiefen, die ihr selbst nicht bewusst waren. Doch sie hatte ihn weggeworfen, wie ein schmutziges Handtuch, dass man zu lange benutzt hatte; bei diesem Vergleich lächelte sie bitter, gefolgt von einem weiteren Weinkrampf.

Sie weinte aus Scham darüber, wer sie wirklich war. Ihr Egoismus, ihre Arroganz und ihre Ungerechtigkeit waren das unheilige Tribunal, dem sie jetzt gegenüberstand, und diese drei sprachen sie schuldig. Mit vollem Recht. Sie hatte Dennis angeklagt und verachtet.

Verachtet, weil er frei war, sie nicht. Sie hatte ihn beneidet, dass er mit dem Leben klarkam. Und aus Eifersucht gehasst. Das war der eigentliche Grund ihrer Nörgeleien, ihrer Unzufriedenheit.

Und als Krönung des Ganzen machte sie ihn für ihre Bitterkeit verantwortlich. Und hatte ihn in ihrem Herzen schon tausendmal gemordet.

Denn er war gesund, sie fühlte sich krank. Er war stark, sie fühlte sich schwach. Er war intelligent, sie fühlte sich dumm. Er sah gut aus, sie war hässlich.

Und er konnte lieben, sie jedoch nicht. Ja, mehr noch:

Sie zu lieben, obwohl sie ein Nichts war.

Diese tiefste aller Demütigungen konnte sie ihm niemals verzeihen. So war sie zur Verräterin geworden, hatte ihm ihr Herz verschlossen, weil sie so unglaublich feige war.

Lange starrte sie an die dunkler werdende Zimmerdecke.

Dann wusste sie, was sie zu tun hatte.

Ihr Vater hatte Recht gehabt.

Es gab keine höhere Macht, und es gab keinen Ausweg für sie.

Sie hatte den Tod verdient!

Langsam und bedächtig stand sie auf. Sie ging zum Waschbecken, füllte ihr Glas mit Wasser und schlüpfte wieder unter die Bettdecke. Sie hatte einen Vorrat an starken Beruhigungstabletten.

Für alle Fälle, hatte der Arzt gesagt. Es waren an die vierzig Stück. Sie schüttete alle in das Glas. Geduldig wartete sie fünf Minuten, dann rührte sie mit der Zahnbürste um.

Sie trank es aus. In gierigen, hastigen Schlucken, mit Tränen in den Augen. Sie legte sich ins Bett.

Wartete auf die Wirkung des Gifts.

Minuten, Stunden?

Sie wusste es nicht. Ihr wurde merkwürdig kalt.

Aber es ist eine angenehme Kälte, dachte sie.

Ist schon komisch, was man so kurz vor dem Tod erlebt, schmunzelte sie, denn ihr fiel der Anfang eines Kinderliedes ein, dass sie einmal gehört hatte:

Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur …


Sie wurde steif, dann ergab sich ihr Bewusstsein dem Gift.

Und so dämmerte sie in tiefer Nacht ihrer Erlösung entgegen.

Aber es gab keine Erlösung! Sie wurde in eine tiefe Grube gezogen, und wusste, da war kein Entrinnen!

Immer stärker wurde der unheimliche Sog, gleich einem gewaltigen Meeresstrudel. Fetzen von Bildern tauchten auf:

Ihr Vater, an dem Kronleuchter im Zimmer ihrer Eltern baumelnd, seine Augen waren gebrochen, aber sein Körper zitterte in Krämpfen … sie selbst wand sich krümmend auf einem Holzboden … sie war drei Jahre, als ihr Vater sagte, Mama ist jetzt im Himmel, sie verstand nicht, und starrte ihn mit großen Augen ängstlich an … Ein Unfall. Ein Autounfall? Ein Anschlag? – sagte der Polizeibeamte … Trauer, namenlose Trauer über ein gestohlenes Leben, über ein wertloses Leben, über ein weggeworfenes Leben.

Stille und Dunkelheit.

Stimmengewirr. Laute, gellende Stimmen; Höhnisches, unheimlich bekanntes Lachen, so nah, so grauenhaft nah … Eiskalte Furcht zerquetschte ihre Seele wie eine lästiges Insekt; Würgende Angst. Gierige Hände, die nach ihr griffen … dieses alberne Kinderlied … weil ich Jesu Schäflein bin.

Urplötzlich wurde ein Vorhang zerrissen, eine Hand flammte auf, zwischen dem Abgrund und ihr.

Strahlendes Licht entzündete die tote Luft.

Das Feuer ging von der Hand aus, würde sie später sagen.

Doch jetzt wusste sie nur, dass die Hand ihren Fall beendete, und den Himmel aufriss. Sie kicherte wie ein kleines, ausgelassenes Mädchen. Friede und nie gekannte Unbeschwertheit erfüllten sie.

Durch einen Schleier sah sie ihren Körper auf dem Krankenbett liegen. Tot und empfindungslos. Sie sah Ärzte und Schwestern, die verzweifelt versuchten, sie wieder zu ›beleben‹. Aber sie war doch lebendig! So lebendig wie nie! Sie kicherte.


Dann stand sie auf einem hohen Berg. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, und Blumen drängten sich zart um ihre nackten Füße.

Es schien fast, als verbeugten sie sich vor ihr.

Esther stand gekrümmt, aber das war ihr egal. Sie wusste nur, dass sie so glücklich war, wie noch nie in ihrem Leben.

Leichtigkeit erfüllte sie. Sie hatte keine Ängste, keine Sorgen.

Sie war vollkommen – frei!

Dann sah sie diese wunderschönen Füße.

Der Gedanke, dass Füße schön sein könnten, erheiterte sie so sehr, dass sie laut auflachte. Wie Golderz schimmernd in einer noch taubedeckten Wiese, dachte sie. Woher wusste sie, wie so etwas aussah?

Eine Hand berührte sie. Die Hand, die sie gerettet hatte!

Feuer ergriff ihren Körper, Wellen von Kraft und Licht umflossen sie. Die Wellen stiegen höher und höher um sie, und bald war sie so durchdrungen von Herrlichkeit, dass sie taumelte, und dachte, keine weitere Sekunde mehr ertragen zu können.

Als spüre er es, nahm er seine Hand von ihrer Schulter. Zitternd blickte sie auf, und sah ihm ins Gesicht.

So sah sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben.

Seine Schönheit machte sie sprachlos. Sie sah Güte und Strenge in einer solchen Reinheit, dass sie sich fühlte, wie eine Bettlerin.

Ja, dass so etwas Kühnes, und doch Erbarmendes überhaupt möglich war, darüber jubelte ihr Herz.

Sie fiel zu Boden, und verspürte den kindlichen Drang, zu trinken: HEILIGKEIT.

Sie verstummte, und gab sich hin.

Als sie ausgestreckt vor ihm lag, durchströmte pure Freude ihr Herz. Liebe, nie gekannt, nicht erträumt und nicht erhofft, belebten sie.

»Der Geist Eljons ist auf mir …«

Sie wusste nicht, was sie redete.

Das Gesicht über ihr drückte so viel Zärtlichkeit aus, dass die Heilung ihres Herzens in diesem Augenblick begann.

Dann sprach der König, und gebannt lauschte sie seinen Worten. Wie das Rauschen mächtiger Wasser, so klang seine Stimme:

»Verzeih, Prinzessin. Aber du kannst hier nicht bleiben. Es kommt die Zeit, da wirst du immer bei mir sein! Auf der Erde gibt es Menschen, denen du sehr viel bedeutest. Und auch sie liebe ich.«

Er beschenkte sie mit dem strahlenden Lächeln eines Vaters, der voller Entzücken seine einzige Tochter betrachtet.

»Denn wie sollte ich nicht wollen, dass ihr euch liebt, ich, der Urgrund aller Liebe?«

Er blickte sie aus seinen flammenden, grünen Augen an.


Sie zitterte vor Glück. Verwirrt senkte sie den Blick.

»Ich verrate dir ein Geheimnis: Je mehr du suchst, je mehr wirst du finden. Denn auf mich wartet dein Volk immer noch.«

***

Auf der Erde, neben einem Krankenbett, schrie eine junge Krankenschwester laut auf: »Nein, Doktor, geben sie nicht auf! Geben sie ihr noch einen Stoß!«

Ärgerlich sah der Arzt, der gerade die Elektroden vom leblosen Körper entfernen wollte, auf, und verlegen senkte sie den Kopf.

»Nun, tot ist tot, und seit fünfzehn Minuten sehe ich hier eine Nulllinie! Der Hirntod ist vor mindestens zehn Minuten eingetreten. Und selbst wenn sie wider Erwarten leben sollte, würde sie für immer pflegebedürftig sein. Das ist doch lächerlich. Was denken sie eigentlich, wo wir hier sind. Bei einer Lottoziehung? Sie vergessen, wer sie sind!«

Aber da er ein guter Arzt war, der sich insgeheim über den Eifer der Schülerin freute, lud er noch einmal den Defibrillator, und schickte einen letzten Stoß durch die nackte, verkabelte Brust.

Leise, aber deutlich, fing das Herz von Esther Sarah Stein an, zu schlagen.


Ungläubig starrte der Arzt auf den Bildschirm, dann auf die Krankenschwester in Ausbildung, Heike Müller. Nachdem er die üblichen Anweisungen zur Stabilisierung des Kreislaufs gegeben hatte, trat er zu dem Hocker in der Ecke, auf dem die junge Frau mit bebenden Schultern saß.

Der 60-jährige Mediziner sah sie mit warmen Augen an.

»Ich danke ihnen, dass sie mich vor einer großen Dummheit bewahrt haben. Und ich danke ihnen, dass sie mit ihrem Mut das gezeigt haben, was viele meiner Kollegen, mich eingeschlossen, in unserem modernen Medizinbetrieb schon längst vergessen haben«, er lächelte fast entschuldigend, »vergessen wollten. Es gibt eben Dinge, die wir nicht begreifen können, und das Leben springt dem Tod manchmal doch noch von der Schippe.

Aber hatten sie das im Gefühl, dass die Patientin noch nicht tot war, oder was veranlasste sie, einem erfahrenen Arzt«, hier schmunzelte er, »zu sagen, was er zu tun habe?«

»Sehen sie«, erwiderte die Schülerin, die sich wieder im Griff hatte, »ich bin gläubig. Und ich habe Kontakt mit einer«, jetzt lächelte sie fast schüchtern, »höheren Realität. Ich habe für die Patientin um Gnade gebeten, und daher hatte die Hoffnung, dass mein Gebet erhört werden wird, auch wenn das in ihren Ohren vielleicht albern klingt.«

»Nun, im Moment finde ich gar nichts mehr albern«, lachte der Arzt.

***

Die unsichtbare Anwesenheit eines Offiziers aus der Armee des Adlers nahm niemand wahr.

Doch der junge Krieger lächelte versonnen, als er Heike zuhörte, und in seinen Augen glitzerte es verdächtig. Jedenfalls war er seinem Befehlshaber treu ergeben, und erstattete ihm genauen Bericht:

Nachdem sie auf die Intensivstation verlegt worden war, wurde ihr Magen ein weiteres Mal durch gespült. Schon drei Tage nach dem Hirntod konnte sie wieder selbstständig atmen, und die Ärzte schalteten das Beatmungsgerät ab. Nach sechs Tagen im Koma und einer weiteren Stabilisierung, wurde sie wieder in ihr altes Zimmer verlegt.

Am siebten Tag wachte sie auf.

***

Als Esther die Augen aufschlug, verlangte sie ein Glas Wasser, dass sie in einem Zug leer trank. Als zweites fragte sie nach einer Ausgabe des vergessenen Buches, wie sie es nannte, was die Schwestern etwas verwirrte. Dann schlief sie wieder ein.

Am nächsten Tag kam ihre Mutter sie besuchen. Sie wirkte irritiert, denn sie war anscheinend nicht darauf vorbereitet, dass das Gesicht ihrer Tochter vor Glück strahlte. Esther hingegen konnte es nicht erwarten, ihrer Mutter von dem Erlebten zu erzählen, doch sie fühlte sich zu schwach, und so kam es nicht dazu.

Am nächsten Tag kamen der Oberarzt und die Stationsschwester zu einer Visite. Der Arzt meinte, es ginge ihr schon erstaunlich gut, alle Blutwerte wären fast wieder normal, und wenn sich ihre Genesung weiterhin so gut entwickelte, könnte sie in einer Woche für einen Tag aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er lächelte ihr väterlich zu, und verließ das Zimmer.

Nachmittags klingelte das Telefon. Ihre Mutter.

»Esther, wenn du willst, können wir uns für den Tag deines Ausganges treffen, und in ein Café gehen, um uns ein bisschen zu unterhalten. Ich habe mit dem Chefarzt gesprochen, und er ist sehr zufrieden mit deiner Genesung – zumindest, was deine körperliche Gesundheit angeht. Ich würde dich dann nächsten Dienstag um zehn Uhr vormittags abholen, und wir fahren in die Stadt.«

Sie hielt das für eine erstklassige Idee.

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