Читать книгу Naranari - Mehr als Glückseligkeit - Daniela Jodorf - Страница 10

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MEERA

Zurück im Hotel verbrachte Meera den Rest des Nachmittags auf ihrer Zeltterrasse. Es wehte eine angenehme Brise vom Ozean herüber. Die Temperatur war einfach perfekt, gerade so, dass Meera im leichten Pareo weder fror noch schwitzte. Sie döste ein bisschen und schrieb dann einige Nachrichten mit Fotos, die sie unterwegs gemacht hatte, an ihre Mutter und zwei Freundinnen.

Abends im Restaurant setzte sie sich auf Einladung sogar zu dem australischen Pärchen, mit dem sie auf der Gewürzfarm beim Mittagessen ins Gespräch gekommen war, an den Tisch. Einerseits tat es ihr gut, weniger allein zu sein, andererseits brachte es sie schnell wieder aus dem gerade erst stabiler werdenden inneren Gleichgewicht. Meera beobachtete sich dabei, wie sie den angenehmen Smalltalk als oberflächlich bewertete und sich wünschte, Menschen zu begegnen, mit denen sie tiefgründige, wichtige Gespräche führen konnte, die sie und die anderen bewegten und weiterbrachten. Natürlich wusste Meera, dass diese Bewertung ungerecht und überheblich war, weil eine Urlaubsbekanntschaft eben eine Urlaubsbekanntschaft war. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Warum konnte sie nicht einfach zufrieden damit sein, dass ihr Menschen offen begegneten und sie herzlich zu sich an den Tisch einluden? Lag es nicht an ihr, was sie daraus machte? War nicht gerade diese Geste wertvoller als jedes tiefsinnige Gespräch? Wie viele dieser Gespräche hatte sie im Ashram mit Janaka, aber auch mit Freunden und Fremden geführt. Doch was hatten ihr diese Gespräche gebracht? Wie ehrlich waren sie gewesen? Waren nicht alle viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, Tiefgründigkeit zu suchen und auszudrücken, statt genau hinzuschauen, was hinter der spirituellen Fassade von Pavitra Nagar und Janaka geschah? Hatte nicht gerade die vermeintliche Tiefgründigkeit sie und alle anderen getäuscht und von den dunklen Schatten abgelenkt, die von Anfang an über Janakas Arbeit und seinem Verhalten gelegen hatten?

Meera wendete sich bewusst den beiden Australiern zu, die einige Jahre jünger sein mussten als sie. Sie war Grundschullehrerin. Er arbeitete an einer Universität. Die beiden waren intelligent und eloquent. Sie hatten viel zu erzählen. Meera bemerkte gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Um zehn sah sie das erste Mal auf die Uhr, weil sie plötzlich wieder sehr, sehr müde wurde. „Was, schon zehn? Habt ihr gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist?“

Die beiden lachten. „Wir haben so viel gequatscht.“

„Ich muss ins Bett. Ich bin auf einmal total müde.“ Meeras Augenlider waren plötzlich bleischwer und ihr Rücken schmerzte.

„Du musst noch den Nachtisch probieren, Meera“, sagte Vicky, die Australierin. „Nilesh ist ein echter Patissier. Ich glaube, er hat sogar in Paris gearbeitet. Obwohl er sagt, dass er lieber kocht, als Süßspeisen zuzubereiten.“

„Wer ist Nilesh?“

„Nilesh ist der Chefkoch hier im Hotel. Er ist ein Genie!“

„Ja, das Essen ist wirklich hervorragend. Sehr fein und doch traditionell“, musste Meera zugeben.

Vicky sprang auf, zog Meera vom Stuhl und hinüber zum Ende des Buffets, wo die Desserts standen. „Du musst unbedingt das Khir probieren und das Kulfi-Eis.“

Meera liebte Khir und Kulfi. Zu besonderen Festtagen hatten sie beides im Ashram zubereitet. Und auch, wenn sie im Frühjahr in Indien waren, hatte es zu besonderen Anlässen den Milchreispudding mit Kardamon und Zimt und das typische indische Milcheis gegeben. Meera nahm je eine Portion und kehrte mit der begeisterten Vicky zurück an den Tisch zu Gregory.

Zuerst tauchte Meera ihren Löffel vorsichtig in das Khir und nahm nur eine Spitze voll, um zu probieren. Sofort breitete sich der süße Geschmack in ihrem Mund aus und löste tausend Erinnerungen aus. Vicky beobachtete sie neugierig und wartete auf ihre Reaktion. Meera kämpfte mit den Erinnerungen. Es waren einige der schönsten, die sie hatte. Sie waren wie Schätze, die man nur ganz selten aus der Schatztruhe holte, um sie andächtig zu betrachten.

„Und? Was sagst du?“ Vicky konnte Meeras Reaktion gar nicht abwarten.

„Wunderbar! Perfekt. Genau die richtige Cremigkeit, optimale Süße, nicht zu viel Kardamon, ein Hauch von Zimt und Safran und als i-Tüpfelchen eine winzige Prise Salz.“

Vicky freute sich über Meeras Expertise, als hätte sie das Dessert selbst gemacht. „Du kennst dich ja gut aus, Meera.“

Meera versuchte, von sich abzulenken. „Wusstet ihr, dass Khir schon seit über zweitausend Jahren zubereitet wird. Ursprünglich wurde es als Opfergabe für die Götter gekocht. Heute muss Khir bei jeder Hochzeit dabei sein, um das Brautpaar und die Ehe zu segnen. Es ist also sozusagen die indische Götterspeise.“

Die drei lachten.

„Jetzt das Kulfi-Eis.“ Vicky hatte noch nicht genug von der Dessert-Probe. Sie hing förmlich an Meeras Lippen und schien ein echter Fan von Nilesh zu sein. Meera probierte also das Kulfi-Eis am Stiel. Geschmacklich glich es dem Khir, und doch hatte das Eis noch andere Aromen: Rosenwasser und Pistazie. Die Konsistenz war wunderbar fest und kompakt, genau wie Kulfi sein musste. Die Zucker-Milch-Mischung wurde lange in einer Pfanne gekocht und gerührt, bis der Zucker in der Milch karamellisierte und zu einer puddingartigen Masse stockte. Erst dann wurde es in die typischen, konischen Metallförmchen gefüllt und eingefroren.

„Wunderbar. Keine Eiskristalle, feine Rosennote, die nicht seifig schmeckt. Besser kann man Kulfi nicht machen.“

„Wieso kennst du dich so gut aus, Meera?“

„Ich habe eine Zeit lang viel indisch gekocht. Auch in Indien. Damals habe ich all diese Dinge zubereitet. Es war eine sehr glückliche Zeit für mich. Ich liebe die indischen Gewürze und Speisen.“

„Warum hast du damit aufgehört, wenn du es so liebst?“, wollte Gregory wissen.

„Ich hätte sehr gerne weitergemacht, aber die Umstände haben es nicht erlaubt.“ Meera spürte selbst, dass man ihr die Enttäuschung noch immer deutlich anmerkte.

„Kochst du denn zu Hause indisch?“

„Nein. Das habe ich ganz aufgegeben.“

„Wie schade.“ Vicky wirkte traurig. Erst jetzt bemerkte Meera wie emotional und mitfühlend sie war, und ein Gefühl der Dankbarkeit erfasste sie.

„Vielleicht fange ich ja irgendwann wieder damit an...“, sagte sie wie zu sich selbst.

Viele Jahre hatte Meera ihre Liebe zum Kochen völlig verdrängt. Hier in Indien aber erinnerte sie täglich alles daran. Und mit der Erinnerung erwachte die Liebe wieder, wurde sogar stärker als jemals zuvor, weil sie nicht mehr verboten war und als unspirituell abgetan wurde. Vor allem aber, weil niemand versuchte, ihr ganzes Leben zu kontrollieren, und sie selbst nach und nach die Kontrolle zurückgewann. Endlich durften eigene Impulse wieder leben. Endlich gewann ihr Leben wieder an Bandbreite, an Möglichkeiten. Endlich durfte sie wieder neugierig sein und offen für neue Erfahrungen. Im Ashram war jeder Tag von morgens bis abends durchgetaktet gewesen und derselben Routine gefolgt. Sogar sonntags hatten alle von acht bis elf gearbeitet. Danach hatten sie sich in der großen Halle zum Satsang eingefunden. Das Wort Satsang stammte aus dem Sanskrit, wie die gesamte Terminologie, die Janaka benutzt hatte. Es bedeutete: Zusammensein mit der Wahrheit. Janaka hatte Meera einmal erklärt, dass ihn die Begegnung mit der indischen Spiritualität vollkommen durchdrungen habe und dass alle Worte, die er vorher für den spirituellen Weg, das spirituelle Leben und Bewusstsein gebraucht hatte, von da an keine Bedeutung mehr für ihn gehabt hätten. Er hätte damals, in seiner Zeit in Indien, erkannt, dass seine Seele indisch war, und dass er in Europa wiedergeboren worden wäre, um die tiefe, wahre indische Spiritualität dorthin zu tragen und jungen Menschen zugänglich zu machen.

Meera sah Janaka vor ihrem geistigen Auge auf seinem Podest in der Satsang-Halle sitzen und auf sie herabblicken. Entweder hatte er bei diesen Gelegenheiten zu einem Thema, das er für wichtig und aktuell hielt, referiert, oder er hatte Fragen zu spirituellen Themen seiner Anhänger beantwortet. So hatte er seine Ideologie verbreitet und den allgemeinen Ashram-Jargon geprägt. Jeder, der länger als zwei Wochen dort gewesen war, hatte Janakas Worte benutzt, um sich selbst und bestimmte innere oder äußere Phänomene und Prozesse zu beschreiben. Es hatte Meera oft erstaunt, wie schnell die neuen Besucher lernten und sich anpassten. Manchmal war es ihr so vorgekommen, als saugten sie alles im Schlaf in sich auf. Niemand hatte geahnt, in welch gefährliches Terrain er sich gewagt hatte. Keiner hatte gewusst, wie groß die Gefahr war, sich selbst zu verlieren, wenn ein anderer und seine Gruppe täglich daran arbeiteten, einen zu indoktrinieren. Die Menschen waren aus Zuneigung, aus Interesse und manchmal auch aus Leiden, einer inneren Suche, Sehnsucht oder Leere zu Janaka gekommen. Alle hatten ihm vertraut. Alle hatten seiner Gruppe vertraut und geglaubt, dass sie ausschließlich gute Absichten hatte, die sie in ein besseres, ein weiseres, ein freieres, ein erfüllteres Leben führen würden. Wie sehr hatten sie sich getäuscht. Wie sehr hatten sie sich täuschen lassen.

Die Küche lag einige Meter abseits vom Restaurant in einer Art Steinhütte mit großen Fenstern, die weit offen standen. Auf ihrem Weg zum Kochkurs hörte Meera am Samstagnachmittag leise Stimmen im Inneren und klopfte zaghaft an die Tür. Ein junger Inder, der vielleicht zwanzig war, öffnete ihr. Er trug ein blaues Kopftuch und eine passende Schürze über einem blütenweißen T-Shirt und einem Dhoti, einem leichten Baumwolltuch, das wie eine Hose gewickelt wurde. Der Junge lächelte, als er sie begrüßte und seine grün-braunen Augen funkelten und strahlten.

„Hello, Misses. Schön dass Sie da sind. Mein Name ist Bikram. Ich bin heute der Assistent von Chef Nilesh.“

Meera staunte. „Der Chefkoch selbst gibt den Kurs?“

Bikram wirkte amüsiert. „Chef Nilesh ist nicht wie ein Chef. Er zeigt den Gästen gerne, wie er kocht. Ein paar Geheimzutaten hier, ein paar Tricks dort.“

Meera konnte ihr Glück kaum fassen. „Wow, das ist ja toll.“

Sie sah sich im Inneren der Hütte um, die wie ein Hightech-Küche ausgestattet schien. Edelstahlarbeitsplatten, zwei Gasherde mit je sechs Brennern. Zwei Backöfen, mehrere Kühlschränke. Alles blitzte und blinkte, als wäre es gerade erst gewienert und poliert worden.

Ein Paar war bereist da und wartete darauf, dass es losging. Es klopfte wieder, und Bikram öffnete den beiden letzten Teilnehmern. Fast gleichzeitig betrat der Chefkoch die Küche durch die Hintertür. Er schleppte eine Holzkiste mit Gemüse, Obst und anderen Zutaten und rief fröhlich in die kleine Gruppe: „Hallo. Schön, dass ihr da seid.“ Dann stellte er die Kiste auf eine Arbeitsplatte, klopfte die Hände gegeneinander und sah jeden der Teilnehmer nacheinander an. „Ich bin Nilesh. Und bitte nennt mich auf keinen Fall Mister Mukherji, auf den Namen höre ich leider nicht.“

Alle lachten.

„Wir haben heute einiges vor. Ich hoffe, ihr habt Freude am Kochen mitgebracht!?“

Alle nickten begeistert.

„Also. Hier ist der Plan. Wir haben vier Stunden Zeit für zwei Vorspeisen, zwei Hauptspeisen mit Brot, Reis und zwei Desserts. Wenn unser Essen fertig ist, essen wir gemeinsam. Einverstanden?“

„Ist das nicht ein bisschen viel?“, fragte eine Mittfünfzigerin mit französischem Akzent, die sehr zaghaft wirkte.

Nilesh lachte. „Nein. Auf keinen Fall. Könnt ihr alle kochen, oder sind blutige Anfänger dabei?“

Die Französin oder Kanadierin meldete sich erneut. „Ich bin keine Anfängerin, aber ich koche sehr wenig.“

„Was isst du denn zu Hause?“, wollte Nilesh wissen.

„Naja. Ich arbeite viel. Ich esse in der Kantine, im Restaurant, hole mir etwas auf die Hand.“

„Haha. Dann bist du hier genau richtig. In Indien isst man am liebsten, was im eigenen Haushalt zubereitet wurde. Wer von euch hat schon einmal von den Dabbawalas in Mumbai gehört?“

Der Mann, der mit seiner Frau oder Freundin vor Meera gekommen war, kannte sich offenbar aus. „Sind das nicht die Lieferanten, die Blechdosen mit Essen bei den Leuten zu Hause abholen und durch die ganze Stadt tragen, um sie mittags zu den Arbeitnehmern in den Bürogebäuden oder Werkstätten zu bringen?“

„Genau. Die Dabbawalas liefern täglich ungefähr 200.000 Tiffins, die Henkelmänner, nach einem ausgeklügelten System in der ganzen Stadt aus. Niemand versteht so richtig wie das geht. Das ist ihr Geheimnis. Aber das Wichtigste ist, dass jeder, der möchte, sein Essen von zu Hause zur Arbeit geliefert bekommt. Täglich, pünktlich, absolut zuverlässig und warm. Ich glaube, wir Inder sind da nur mit den Italienern zu vergleichen. Es schmeckt einfach nur von unserer Mutter oder Frau.“

Meera staunte wie leicht Nilesh das Gefühl transportiert hatte, das beim Essen am wichtigsten war: Geborgenheit und Verbundenheit.

„Seid ihr bereit, so ein Essen zu kochen? Ein Essen, das sich nach Zuhause anfühlt? Ein Essen, das euch glücklich macht?“

Meera spürte die Neugier und Begeisterung, die Nilesh in ihnen allen geweckt hatte.

In der nächsten halben Stunde erklärte Chef Nilesh die vegetarischen Gerichte, die sie kochen würden: Pakoras, frittiertes Gemüse in Kichererbsenteig; Papaya Salat mit Chili; Paneer Korma, indischer Käse in einer Mandel-Kokoscreme; Dal Makhani, cremige, schwarze Linsen und rote Bohnen; Mangocreme und Gajar Halwa, Möhrenhalwa.

„Alle Rezepte, die ich heute mit euch teile, sind Familienrezepte. Meine Oma hat sie schon gekocht und meine Mutter. Jede Familie hat solche Rezepte, und ich kann euch versichern, dass sie in jeder Familie anders schmecken. Es sind Feinheiten, Nuancen, die einen himmelweiten Unterschied machen.“

Zuerst musste gehackt, gemahlen und geschnitten werden: Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, Okra, Auberginen, Blumenkohl, Koriander.

Während die meisten schnibbelten und frisch angebratene Gewürze mörserten, Reis wuschen und Mehl für das Naan, das indische Fladenbrot abwogen, kochte Nilesh einen Topf Milch auf, goss Zitrone hinein und rührte das dampfende Gebräu so lange, bis die Milch ausflockte und sich von der Molke trennte. Dann schüttete er alles durch ein Tuch und drückte die wässrige Molke so lange heraus, bis er einen festen Käse hatte, den Paneer. Jeder durfte den ziemlich neutral schmeckenden Käse probieren.

„Paneer ist unser vegetarischer Fleischersatz. Er wird meist gegrillt oder in Saucen als Curry gekocht. Der Käse selbst hat kaum Geschmack. Er gewinnt erst durch seine Zubereitung.“

Endlich stand das Mise en Place, und Nilesh teilte ohne zu fragen jedem Teilnehmer ein Gericht zu. Weil nur fünf Gäste hier waren, übernahm er selbst das einfachste, den Papaya Salat. Meera freute sich darüber, dass sie das Dal Makhani kochen durfte, ihr absolutes Lieblingsgericht.

Konzentriert gingen alle ans Werk. Nilesh erklärte jedem sehr genau, was er machen musste. Bikram kam immer wieder zur Hilfe, wenn Fragen oder Probleme auftauchten. Die Frau mit dem französischen Akzent, Colette, schien am unsichersten und brauchte die meiste Hilfe bei den Pakoras, dem geraspelten Gemüse, das sie zuerst in Kichererbsenmehlteig wälzen und dann in heißem Erdnussöl ausbacken musste. Nilesh und Bikram blieben geduldig und unterstützten sie.

Meera dagegen war vollkommen in ihrem Element. Sie las das Rezept einmal durch und begann dann mit dem Kochen. Gleichzeitig bereitete sie das Naan vor, das aus einem Hefeteig mit Joghurt und Olivenöl gemacht wurde, der mindestens eine Stunde gehen musste, bevor er in der Pfanne oder im Ofen ausgebacken wurde. Sie vergaß alles um sich herum, tauchte völlig ein in die Welt der Gewürze und wunderbaren Produkte, die Nilesh eingekauft hatte. Es war fast so wie früher, nur freier und leichter. Hier musste sie nicht perfekt funktionieren, wie in Janakas Ashram, wo von allen Mitgliedern stets Höchstleistungen erwartet wurden und perfekt nie gut genug gewesen war.

Nilesh kam ab und zu an ihren Kochplatz und sah, dass sie mehr als gut klar kam. „Wow, Meera. Man könnte meinen, du bist Köchin.“

Sie lachte fröhlich. „Ich habe mal in einer Küche geholfen, ja.“

„Geholfen?“ Nilesh lachte. „Du kochst wie ein Profi.“

„Ich liebe es einfach.“

Er sah sie neugierig an. In diesem Moment nahm sie Nilesh zum ersten Mal wirklich wahr. Seine feine Erscheinung, seinen Blick für das Wesentliche, seine Freundlichkeit und seine Attraktivität. Er trug das gleiche Outfit wie Bikram, war aber größer, schlanker und männlicher. Meera schätzte ihn auf Mitte dreißig. Doch irgendetwas an ihm wirkte älter, reifer, gelassener, als bei anderen Männern dieses Alters.

„Ich liebe es auch...“, sagte er nachdenklich und von ihren Worten offenbar tief berührt. Sie ahnte, dass hinter diesen vier Worten eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, Freude und Leid stand. Ganz automatisch berührte sie ihn am Arm, um ihr Mitgefühl auszudrücken und ihm zu zeigen, dass sie wusste, dass das Leben auch leidvoll sein konnte. Sie standen einige Sekunden so da, bis Meera plötzlich das Gefühl hatte, dass das alles viel zu intim, viel zu vertraut war. Sie zog ihre Hand von seinem Arm und rührte in ihrem Kochtopf, um nicht stante pede davonzulaufen und sich lächerlich zu machen. Wenn Nilesh ihre Furcht spürte, ließ er es sich nicht anmerken. Er ging hinüber zum nächsten Kochschüler, widmete sich allen Fragen, assistierte und gab wie versprochen den ein oder anderen Geheimtipp preis.

Die Zeit raste, und drei Stunden später stand tatsächlich das gesamte Essen auf einem großen Tisch hinter der Küche. Sie deckten gemeinsam und unterhielten sich angeregt. Aus Fremden waren in der kurzen Zeit Bekannte geworden. Die gemeinsame Arbeit hatte sie verbunden.

Bikram brachte Getränke, Wasser, Softdrinks und Chai, den man zu den Nachspeisen trank und schon saßen alle an der großen Tafel und blickten erwartungsvoll auf ihren hervorragenden Lehrer, Chef Nilesh.

„Ich finde, das haben wir großartig hingekriegt. Danke, dass ihr so aufmerksam und mit Freude bei der Sache ward.“

Die Gruppe klopfte auf den Tisch. Robert, einer der Männer, ergriff das Wort. „Danke, Nilesh. Danke, Bikram. Ihr habt uns einen unvergesslichen Nachmittag und einen tiefen, authentischen Einblick in den Zauber der indischen Küche geschenkt.“

Wieder klopften alle auf den Tisch.

„Lasst es euch schmecken. Das ist euer Werk!“, sagte Nilesh.

Das Essen schmeckte himmlisch. Die Pakoras waren goldgelb und knusprig. Und obwohl sie nicht mehr ganz warm waren, schmeckten sie mit einem minzig, scharfen Joghurtdip fast göttlich. Der Papayasalat hatte genau die richtige Schärfe und eine leichte Säure, die am Gaumen kitzelte. Meera genoss jeden Bissen. Ihr Dal Makhani war extrem cremig und brachte ihr Lob von allen ein. Nilesh sah sie begeistert an, und sie freute sich sehr über sein stilles Lob. Das Paneer Korma hatte eine leichte Süße, die die Schärfe der grünen Chilis, die sie verwendet hatten, überdeckte, aber nicht auslöschte. Das fluffige, warme Naan schmeckte fantastisch dazu, aber auch der luftige Basmatireis.

Meera war eigentlich schon satt. Dennoch probierte sie die Mangocreme, die gänzlich ohne Süßungsmittel auskam. Die Süße der Mango reichte aus, um sie zu einem perfekten Sommerdessert zu machen. Und das Möhrenhalwa weckte, ähnlich wie das Khir, das sie neulich probiert hatte, unendlich viele Erinnerungen an ein Leben, das sie unwiederbringlich verloren hatte. Ein Leben, das Gott sei Dank vorbei war. Und doch war es noch immer, selbst heute an diesem schönen, unbeschwerten Tag, als wäre sie einen Tod gestorben, den sie nicht hatte sterben wollen. Mit ihren Illusionen war ein Teil ihres Selbst gegangen, der ihr lieb und wichtig gewesen war. Sie wollte sich so gerne einreden, dass dieser Tod eine notwendige Transformation gewesen war, aber er fühlte sich ganz anders an. Es war, als sei der Teil von ihr gestorben, der offen für Neues war, der Vertrauen und Nähe zulassen konnte; der Teil, der zum Leben am wichtigsten war.

Obwohl es schon dunkel war, lief Meera langsam und nachdenklich am Strand entlang zu ihrem Bungalow. Der Sand unter ihren Füßen war noch warm und auch das Meer. Sie ging barfuß durch die sanft ausrollenden Wellen, atmete tief ein und aus – so tief und entspannt wie lange nicht. Gleichzeitig schwappte eine Welle des starken, grundlosen Glückes über sie und löste große Dankbarkeit in ihr aus. Etwas geschah mit ihr, hier in Goa. Sie konnte es täglich deutlicher spüren. Es war, als würde die Last des Leidens endlich leichter und erträglicher. Konnte sie wirklich hoffen, eines Tages gänzlich von ihr befreit zu sein?

In dieser Nacht schlief Meera so tief und so gut wie seit Jahren nicht. Der Schlaf brachte endlich wieder Erholung und keine sich endlos wiederholenden Gedanken- und Gefühlsschleifen, die sie stundenlang wach hielten. Gegen Morgen, als die ersten Vögel im Cozy Yoga Resort bereits zu zwitschern begannen, träumte sie von Pavitra Nagar. Sie war wieder dort, wie in unendlich vielen Nächten seit ihrer Flucht. Diesmal kam sie als Gast zu einer Veranstaltung, zu der die Leute aus der ganzen Welt herbeiströmten. Die Stimmung war erwartungsvoll, ausgelassen, fröhlich und ehrfürchtig. Alle glaubten, Teil von etwas Besonderem, von etwas Heiligem zu sein. Wie immer war alles perfekt organisiert und inszeniert. Kein Detail blieb dem Zufall überlassen. Alles war seit Monaten geplant und vorbereitet worden. Meera bewegte sich frei und unbehelligt im Ashram. Aber sie war nicht mehr unwissend. Sie war die Meera von heute, die die Schatten dieses Ortes und seiner Bewohner genau kannte. In ihr war keine Wut. Auch spürte sie keine Trauer. Sie sah sich alles genau an, von dem ganzen Zirkus unberührt. Sie spürte, dass sie nicht mehr Teil der Gemeinschaft, aber auch nicht mehr Teil des Glaubenssystems, der Ideologie war, die sie einst mitgerissen und völlig durchdrungen hatte.

Fast fünfhundert Menschen saßen zum Satsang in der großen Halle, in der Janaka von der Großartigkeit des spirituellen Lebens und von der wichtigen Aufgabe, die sie alle für die Evolution der Menschheit und des Planeten hatten, fabulierte. Meera wusste nicht, wie oft sie diese Geschichte gehört hatte. Gleich würde er von seinem Guru erzählen, von dem Tag, an dem er den Schleier der Unwissenheit von seinem Bewusstsein genommen und ihm das höchste, das reine Bewusstsein enthüllt hatte.

Meera stand an der Tür und betrachtete die „Hypnotisierten“, wie sie Janakas Anhänger in den Jahren vor ihrer Flucht bereits genannt hatte. Er war ein hervorragender Redner, ein gefährlicher Demagoge, der mit Worten verführte und mit den Sehnsüchten und Ängsten der Menschen spielte. Alle, die hier saßen, glaubten ihm jedes Wort. Alle hofften, dass er ihnen genau das geben würde, was sein Guru ihm einst angeblich gegeben hatte. Meera hatte diese Geschichte nie geglaubt. Sie wollte sich gerade abwenden und gehen, da traf sie sein kalter, durchdringender Blick. Er erkannte sie sofort, und sie spürte seinen ganzen Hass. Das Schlimmste, was sie ihm hatte antun können, war, sich gegen ihn zu wenden. Das würde er ihr niemals verzeihen. In seinen Augen hatte sie ihn und seine Sache verraten. Nichts war ihm wichtiger als seine Mission. Nur für sie lebte er. Wahrscheinlich hätte er es hingenommen, wenn sie ihn persönlich zurückgewiesen hätte. Sie wäre ersetzbar gewesen. Sie war ohnehin nie seine einzige Geliebte gewesen, obwohl er immer behauptet hatte, dass sie seine Seelengefährtin, seine Zwillingsflamme, sei. Lügen und Täuschung waren das Geschäft, das er am besten verstanden hatte. Nein, sein Hass traf sie, weil sie sein Lebenswerk zerstört hatte; alles, wofür er gelebt hatte. Meera kannte ihn so gut, dass sie ihn verstand. Sie fühlte sogar mit ihm. Er hatte viel verloren, mehr als sie. Aber nicht wegen ihr, sondern wegen sich selbst. Er hatte andere benutzt und verletzt, sie belogen und betrogen. Sie war nur als Einzige nicht mehr bereit gewesen, dieses Verhalten zu tolerieren, und sie hatte andere vor ihm schützen wollen.

Im Traum drehte sie sich einfach um und ging; lief die Auffahrt hinunter zum Tor, das den Ashram von der Außenwelt abriegelte. Und, anders als bei ihrer Flucht vor vielen Jahren, ging sie heute aufrecht und ungebeugt bei Tageslicht durch dieses Tor und ließ den Ashram und das geistige und emotionale Korsett, das er noch heute für sie bedeutete, ein für alle Mal hinter sich zurück.

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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