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MEERA

Nach einer traumlosen Nacht erwachte Meera vom aufgeregten, morgendlichen Kreischen der Möwen, die vom Meer über den Hotelgarten hinweg segelten. Meeras Körper fühlte sich schwer und wie erschlagen an, obwohl sie gut geschlafen hatte. Nichts hätte sie motivieren können aufzustehen. Weder die herrliche Sonne, noch der goldgelbe Strand, oder das blaue Meer. Nicht einmal die Aussicht auf viele, tolle Sehenswürdigkeiten, oder Yoga und Meditation. Sie wollte einfach nur schlafen; so lange, bis sie endlich nicht mehr matt und müde war, ganz egal, wie lange das dauern würde.

Sie schlief direkt wieder ein, bis die Hitze des Mittags sie erneut aufweckte. Das Zimmerthermometer zeigte fünfunddreißig Grad. Der Himmel war wolkenlos und die Luftfeuchtigkeit hoch. Ende Oktober! Meera verließ das Bett matt und dösig für eine kurze kalte Dusche. Die Banane von gestern Abend und zwei Datteln aß sie auf der Terrasse und trank dazu einen Tee, den sie mit dem zimmer-eigenen Wasserkocher selbst aufbrühte.

Es schien sehr ruhig in der Hotelanlage. Die meisten anderen Gäste waren sicher am Strand oder unterwegs, überlegte Meera. Stille und Alleinsein taten ihr seelisch gut. Doch körperlich verstärkten beide nur ihre unendliche Müdigkeit. Meera wusste, dass ihre Psyche sich mit extremer Erschöpfung schützte. Ihre Therapeutin hatte diese bleierne, körperliche Schwere Heilungskrisenfatigue genannt, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Das war kurz nach der Flucht aus Janakas Ashram gewesen.

Bei Nacht und Nebel war sie damals mit einem einzigen Rucksack geflüchtet. Sie hatte wochenlang auf den richtigen Moment gewartet und ihren Plan geheim gehalten. Inzwischen war sie die rechte Hand von Janaka geworden, hatte viel Verantwortung im Ashram und wusste viel zu viel. Janaka hätte sie niemals freiwillig gehen lassen, vor allem dann nicht, wenn er gewusst hätte, was sie vorhatte. Sie war die halbe Nacht durch den Wald nach Nordwesten gelaufen. Den ganzen nächsten Tag hatte sie sich im Unterholz versteckt. Erst in der darauffolgenden Nacht war sie weiter gewandert und hatte gegen Morgen Darmstadt erreicht. Dort war sie in einen Zug nach Hannover gestiegen. Ohne sich vorher angemeldet zu haben, hatte sie nach zwölf Jahren fast ohne Kontakt bei ihrer Mutter vor der Haustür gestanden. Die war in Tränen ausgebrochen, hatte kein Wort herausgebracht, keine Erklärung verlangt, sie einfach nur umarmt und festgehalten. Später hatte sie Meera im Souterrain ein Bett zurechtgemacht, ihr einen neuen Schlafanzug gebracht und gesagt: „Schlaf dich aus. Hier bist du sicher!“

Und Meera hatte geschlafen und geschlafen. Der ganze Schlafmangel, der sich über zwölf lange, arbeitsame Jahre in ihr angesammelt hatte, hatte scheinbar auf einmal nachgeholt werden wollen. Als Meera nach zwei Wochen noch immer zu müde und zu schlapp gewesen war, das Bett länger als eine Stunde am Tag zu verlassen, hatte ihre Mutter Franka angerufen, eine alte Freundin, die als Therapeutin arbeitete. Franka war sofort gekommen und hatte sich Zeit für Meera genommen. Damals war es noch zu früh für Meera gewesen, ihre Geschichte zu erzählen. Zum Glück hatte Franka gewusst, wo sie gewesen war und auch geahnt, was ihr geschehen war. Deshalb hatte sie keine Fragen gestellt. Doch ihre erste klare Feststellung hallte noch heute in Meeras Gedächtnis wieder. „Diese Müdigkeit heißt Heilungskrisenfatigue. Sie schützt dich vor allzu schlimmen Erinnerungen, die jetzt, wo du dich sicher fühlst, aus dir herausbrechen könnten. Wehre dich nicht gegen die Müdigkeit. Sie wird von selbst weniger, wenn deine Psyche versteht, dass es vorbei ist.“

Zynisch hatte Meera entgegnet: „Es ist noch lange nicht vorbei. Das Schlimmste steht mir noch bevor.“

„Da könntest du recht haben. Aber du wirst es erst dann angehen, wenn du bereit dazu bist. Darauf werden wir gemeinsam achten, versprochen?“

Meera hatte die krasse emotionale Wirkung von Frankas Worten im ganzen Körper gespürt. Endlich, nach so vielen Jahren, schien ihr wieder jemand zu erlauben, ihrem eigenen Urteil und Rhythmus zu folgen und sie dabei unterstützen zu wollen. Das hatte so gut getan, dass Meera unvermittelt in Tränen ausgebrochen war. In diesem Moment hatte sie begriffen, dass die Zeit des stummen Dienens endlich vorbei war, und dass sie erst wieder lernen musste, selbstbestimmt ihren eigenen Impulsen zu folgen.

Vier Jahre später saß sie allein in Goa und spürte dieselbe Müdigkeit. Doch von dem ersten Gespräch mit Franka trennte sie heute so viel; viele kleine Schritte, die ihr Urteilsvermögen und ihre Eigenständigkeit teilweise zurückgebracht hatten. Viele kleine Schritte, die Aufarbeitung und Heilung bedeuteten. Die Reise nach Goa war der größte Schritt, den sie bisher allein gewagt hatte, denn sie hatte ihr Versprechen, das sie Franka gegeben hatte, gehalten. Sie hatte auch diesen Schritt erst dann gewagt, als sie bereit dafür war. Doch warum war sie dann jetzt so unendlich müde? Wovor schützte ihre Psyche sie diesmal? Meera schloss die Terrassentür, stellte den Deckenventilator an und kletterte wieder in ihr herrliches Himmelbett.

Sie schlief insgesamt drei Tage und drei Nächte, bestellte sich nur ab und zu beim Zimmerservice ein Sandwich oder ein Lassi. Am zweiten Tag fragte Rajkumar, der ihr ein Gurkensandwich, eine Mango und Nüsse brachte: „Sind sie in Ordnung, Miss Meera? Sollen wir einen Arzt rufen?“

„Nein, danke, Rajkumar. Mir fehlt nichts. Ich bin nur sehr, sehr müde. Das habe ich manchmal. Ich habe eine schwere Zeit hinter mir.“

Der Zimmerkellner sah sie warmherzig an. „Das tut mir sehr leid. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie das bitte. Ich könnte Ihnen auch Misses Mukherji vorbeischicken, die Besitzerin vom Cozy Yoga Hotel. Sie ist eine sehr mitfühlende Frau und weiß immer Rat.“

„Danke, Rajkumar. Ich weiß Ihre Besorgnis sehr zu schätzen. Wenn es mir übermorgen nicht besser gehen sollte, komme ich gerne auf Ihr Angebot zurück. Bis dahin würde ich lieber abwarten, denn ich glaube, dass mein Körper sehr genau weiß, was er braucht.“

„Da haben Sie Recht, Miss Meera. Wenn Sie Ihrem Körper so vertrauen, dann tue ich das auch.“ Er lachte und verabschiedete sich fröhlich und merklich erleichtert.

Erst am Abend des dritten Tages fühlte Meera sich wach und stark genug, ihr Zimmer zu verlassen. Sie wollte endlich den Strand sehen, ein bisschen schwimmen, umherlaufen und frische, salzige Meeresluft atmen. Sie zog sich also einen Badeanzug an, wickelte sich ein Tuch um die Hüften und packte ein Handtuch in ihre Badetasche.

Auf dem Weg zum Strand begegneten ihr die ersten Menschen. Die meisten grüßten sie lächelnd. Meera bog nach links ab. Auf dem Hotelplan hatte es so ausgesehen, als wäre der Strand dort breiter und das Meer flacher und ruhiger. Sie fand schnell den Hauptweg, der unter Kokospalmen direkt am Strand entlang führte und folgte ihm. Die sanfte Brise, die vom Meer herüber wehte, ließ sie tief durchatmen. Der goldgelbe Strand wirkte relativ leer. Meera lief fast bis ans äußerste Ende des Hotelgeländes und suchte sich dann einen Liegeplatz auf einer breiten Holzliege unter einem großem Sonnenschirm.

Kurz darauf schwamm sie schon im lauwarmen Arabischen Meer. Kleine Fischchen knabberten an ihren Füßen und Waden, und sie lachte, weil das kitzelte. Dann legte sie sich auf den Rücken und ließ sich einfach treiben. Das salzige Meer trug sie, und sie fühlte sich beinahe schwerelos. Danach hatte sie sich gesehnt. Wie viele Jahre hatte sie einfach nur einmal unbeschwert den Moment genießen wollen? Stattdessen hatte sie immer etwas zu tun gehabt. Aber am schlimmsten war der psychische Druck gewesen, sich ständig entwickeln zu müssen. Immer hatte es etwas zu heilen gegeben, etwas zu erkennen, etwas loszulassen. Nie war sie einfach so, wie sie war, genug gewesen. Janaka hatte ihr und allen seinen Schülern ständig das Gefühl gegeben, dass sie noch besser, noch wacher, noch schneller, noch bewusster werden konnten – und werden mussten. War ein Ziel erreicht, hatte er im selben Moment schon das nächste gesteckt.

Meera zwang sich, sich nicht erneut in Erinnerungen zu verlieren. Jetzt wollte sie einfach das Meer genießen und sich selbst erlauben, für einen kurzen Moment glücklich zu sein. Wasser spritzte in ihr Gesicht. Der blaue Himmel, mit kleinen weißen Wolken getupft, tanzte über ihr. Ihr Körper wurde immer leichter. Ihr Herz schien sich zu öffnen und auszudehnen. Ein einfaches, doch sehr essentielles Glücksgefühl überkam sie. Sie spürte den Impuls, dieses Gefühl abzuschneiden, es schnell zu beenden. „Diesmal nicht“, sagte sie sich. „Diesmal lasse ich es zu.“

Meera hatte schon so oft darüber nachgedacht, warum man Glück nicht mehr aushalten konnte, wenn man zu viel Leid erlebt hatte. Sie hatte diesen inneren Mechanismus bis heute nicht verstanden. Wenn man Glücklichsein am meisten brauchte, konnte man es am wenigsten ertragen. Heute konnte Meera es aushalten, obwohl sie sich erst bewusst dafür entscheiden musste. Sie genoss jede Sekunde, die sie im flachen, warmen Meer in Ufernähe wie eine Luftmatratze trieb. Leicht und unbeschwert. Es war einfach großartig.

Nach dem Baden legte sie sich in den warmen Sand, panierte sich fröhlich ein, wie sie es als Kind immer getan hatte. Und plötzlich flammte eine neue Erinnerung auf. Die Erinnerung an das glückliche Kind, das sie einst gewesen war. Das Gefühl, das sie damals gehabt hatte, durchflutete ihren ganzen Körper. Meera staunte über die Kraft und Lebendigkeit dieses Wesensteils, der viel zu viele Jahre tief in ihr versteckt gewesen war. Die Wucht, mit der das Leben in sie zurückkehrte, war gewaltig. Die Kraft des unschuldigen Kindes, des unverletzten Kindes, durchbrach den Panzer des Selbstschutzes wie eine Tsunamiwelle. Gleichzeitig überwältigte Meera ein nie gekanntes Gefühl der Liebe für sich selbst und für das Leben. Erst jetzt erfasste sie, was sie wirklich verloren hatte und wie groß ihr Verlust tatsächlich war. Doch diese Erkenntnis erfüllte sie nicht mit Trauer, Wut oder Hilflosigkeit, so wie es viele Erkenntnisse vorher getan hatten. Nein, diese klaren, starken Empfindungen erfüllten sie mit Hoffnung, mit dem tiefen Glauben, dass sie frei sein würde, so frei und unbeschwert wie ihr kindliches Selbst, das in ihr, unter den vielen Trümmern ihrer verletzten Persönlichkeit, noch immer lebte. Instinktiv hörte Meera auf zu denken, die tiefe Empfindung in irgendeiner Form zu analysieren, zu rationalisieren. Statt dessen erlaubte sie ihr, sich in ihr auszubreiten, Besitz von ihr zu ergreifen, ihren Körper und ihr Herz zu füllen.

Irgendwann verebbten die Empfindungen, doch die Veränderung in Meeras innerem Zustand, den die Erinnerung an das heile, unschuldige Kind in ihr bewirkt hatte, blieb. Statt sich nach dem Sonnenbaden direkt wieder in ihr Zimmer zurückzuziehen, ging Meera voller Tatendrang zur Rezeption, um sich nach Ausflugsangeboten und Hotelaktivitäten zu erkundigen.

Schon als sie die Lobby betrat, hörte sie das fröhliche Kreischen Captain Hooks. „Hallihallo, Meera. Meerabai. Hallo. Hallihallo.“

Meera ging zu der Holzstange, auf der er auf einem Bein hockte und sie fröhlich mit schräg gelegtem Kopf ansah.

„Na, Captain Hook. Du kennst mich ja.“

„Oh, meine Meera. Traurig und schön. Die Liebe hat dein Herz gebrochen...“

Meera errötete. War es wirklich möglich, dass der Papagei wusste, wie sie sich fühlte, oder plapperte er alles aus, was er über Meerabai wusste? „Na, du kennst Meerabai ja sehr gut.“

„Meera, Meera. Traurig und schön. Die Liebe hat dein Herz gebrochen...“

Meera lachte. „Bist du auch verliebt, Captain Hook?“

„Captain Hook. Ich bin Captain Hook. Jawohl!“

Der Rezeptionist lachte. „Captain Hook, du sollst doch unsere Gäste nicht in Verlegenheit bringen“, schalt er den Ara mit einem Augenzwinkern.

„Ich bin ein ehrlicher Papagei. Captain Hook.“

Meera streichelte Captain Hook vorsichtig über den bunten Kopf. „Ich mag dich, Captain.“

„Captain Hook ist ein ehrlicher Papagei“, wiederholte der, und Meera hatte fast das Gefühl, dass er beleidigt war, weil der Concierge ihn zurechtgewiesen hatte.

„Was kann ich für Sie tun, Madame?“, wollte der Concierge freundlich von ihr wissen.

„Ich möchte ein oder zwei Ausflüge machen und wüsste gerne, ob es auch im Hotel das eine oder andere Freizeitangebot gibt.“

„Ja, natürlich. Hier sehen Sie, bitte.“ Der Empfangschef entfaltete einen Prospekt, den er auf den Tresen legte, um Meera alle Angebote zu zeigen. „Was halten Sie von einer Tour zu einer Gewürzplantage?“

„Das hört sich sehr gut an. Ich liebe indische Gewürze. Kardamon, Ingwer, Pfeffer… “

„Die Tour können Sie schon Morgen machen. Sie dauert einen halben Tag und startet um zehn Uhr morgens. Für 800 Rupien. Mittagessen inklusive.“

„Das hört sich toll an. Ich freue mich drauf.“

„Hier im Hotel können Sie Yoga machen, Meditation, wir haben auch einen Massagebereich mit Ayurveda Massagen.“

Meera zögerte. All diese Dinge erinnerten sie zu sehr an Janaka und ihr Leben im Ashram. Janaka hatte so viele Übungen und Rituale aus Indien mitgebracht. „Ich dachte eher an etwas Praktischeres.“

„Wassersport vielleicht?“

Meera zuckte mit den Schultern.

„Ah, sehen Sie hier... Wenn Sie Gewürze lieben, dann könnte das genau das Richtige für Sie sein. Am Samstag gibt es einen original indischen Kochkurs. Es sind noch einige Plätze frei.“

Meera überlegte nicht lange. „Perfekt. Das ist eine wunderbare Idee.“

„Der Kurs findet in unserer Außenküche am Restaurant statt. Er beginnt nachmittags um zwei.“

„Wunderbar! Auch da freue ich mich sehr drauf.“

Captain Hook hatte die ganze Zeit ruhig zugehört. Als er merkte, dass das Gespräch zu Ende war, meldete er sich wieder fröhlich krächzend. „Meerabai, fröhlich und schön. Ich bin ein ehrlicher Papagei.“ Er legte den Kopf schief und schien auf die Reaktion des Concierge zu warten, der gemeinsam mit Meera laut lachte.

Meera streichelte Captain Hook noch einmal über seinen bunten Kopf und tat so, als wolle sie ihn küssen. „Tschüss, du ehrlicher Papagei. Ich mag dich wirklich.“

„Bye bye, Meerabai. Bye bye.“

Zehn Minuten vor zehn am nächsten Morgen fand Meera sich an der Rezeption ein, um in einem Kleinbus mit elf anderen Hotelgästen zu der Gewürzfarm im Süden Goas zu fahren. Zuerst begrüßte sie ihren Freund, den Captain, der wieder eine melancholische Melodie flötete, als er sie sah und dann fröhlich rief: „Meerabai, Meerabai. Traurig und schön. Traurig und schön.“ Einige der ebenfalls auf den Bus wartenden Gäste lachten, und Meera zuckte verlegen mit den Schultern. Sie streichelte den Captain und versprach ihm, später noch einmal vorbeizuschauen. „See you later. See you later“, rief der Captain fröhlich.

Die Gewürzfarm lag in Ponda, ganz in der Nähe des Flughafens. Die Fahrt würde also mehr als eine Stunde dauern. Meera freute sich darauf, mehr von Goa zu sehen, die grüne Landschaft, die Dörfer, die Flüsse und Palmen, das Meer. Bei ihrer Ankunft war sie doch sehr müde und angespannt gewesen. Ihr war so viel durch den Kopf gegangen.

Im Bus saß sie allein und hörte Musik. Obwohl sie nicht mehr müde war und sich bereit fühlte, sich unter Menschen zu begeben, wollte sie doch ihre Ruhe haben. Es fiel ihr immer noch schwer, mit weltlichen Menschen länger zusammen zu sein. Bevor sie Janaka getroffen hatte, hatte sie schon das Gefühl gehabt, anders zu sein, als die meisten: empfindsamer, sensibler, einfühlsamer, aber auch verletzlicher. Als Teenager und junge Erwachsene hatte sie sehr unter dem oft kalten und rüden Verhalten anderer Menschen gelitten. Erst durch Janaka und seine Lehre war ihr klar geworden, dass sie ein spiritueller Mensch war, der eine besondere empathische Begabung hatte. Im Ashram waren plötzlich viele so bewusst, sensibel und verletzlich gewesen wie sie. Alle dort wollten an sich arbeiten, wollten erwachen und einem höheren Ziel dienen. Mit Gleichgesinnten zu leben und endlich eine Erklärung dafür gefunden zu haben, warum sie sich oft anders fühlte und unter dem Verhalten anderer Menschen litt, hatte eine fundamentale Wirkung auf ihr Selbstwertgefühl gehabt. Sie hatte sich nicht mehr anders, unnormal oder sogar ein bisschen verrückt gefühlt. Die Erleichterung, die sie damals gespürt hatte, war enorm gewesen und wirkte noch heute nach. Doch seit der Flucht aus Pavitra Nagar, Janakas Ashram im Odenwald, lebte sie wieder unter weltlichen Menschen, die die Welt mit anderen Augen sahen, die nicht an sich arbeiteten, die keinem höheren Ziel dienten, die nicht wach und bewusst sein wollten, die keine Rücksicht auf ihre Sensibilität nahmen, weil sie diese weder von sich selbst kannten, noch in ihr erkannten. Meera hatte oft das Gefühl, sich aus dem allgemeinen Geschehen herausziehen und klare Grenzen setzen zu müssen. Viel häufiger als im Ashram hatte sie das Bedürfnis, allein zu sein und Zeit in der Natur zu verbringen. Die Nähe von Tieren tat ihr besonders gut, und Tiere liebten sie, so wie Captain Hook.

Anders als das Taxi vor wenigen Tagen glitt der Bus sanft und leise durch die Landschaft. Meera genoss die Kühle und Ruhe im klimatisierten Bus, die durch die jazzigen Chilloutsounds, die sie hörte, noch verstärkt wurden. Mit jedem Kilometer Fahrt entspannte sie tiefer. Ihre Gedanken beruhigten sich, ihr Bewusstsein wurde wach und wacher.

Als der Bus nach eineinhalb Stunden auf einem staubigen Parkplatz hielt, hatte Meera das Gefühl, nicht länger als dreißig Minuten gefahren zu sein. Sie stellte die Musik aus und folgte der Gruppe über eine schwimmende Brücke, die über einen träge fließenden, bräunlich grün gefärbten Fluss ans andere Ufer zum Eingang der Gewürzfarm führte. Hier war es sehr feucht und heiß. Die Mittagssonne brannte unbarmherzig. Zum Glück hatte Meera einen Sonnenhut dabei und war gut eingecremt. Der Busfahrer übergab die Gruppe einer jungen Inderin, die sie durch die Farm führen würde.

Sobald sie die Eingangsgebäude verlassen hatten, fanden sie sich in einem grünen Dschungel wieder, in dem Pflanzen aller Größen neben, unter und übereinander wuchsen. An verschiedenen Stellen sprühte Wasser aus Schläuchen, die einen feinen Nebel verteilten. Meera genoss das angenehme Gefühl, dass der Schatten der Bäume und die zarten Wassertropfen auf ihrer Haut auslösten. Sie durfte Vanille berühren und riechen, Kardamon, Süssholz, Ingwerwurzel und die verwandten Kurkuma und Galgant, sowie schwarzen Pfeffer. Meera hatte noch nie gesehen, wie Pfeffer wuchs und staunte über die langen Ranken, die bis zu zehn Meter hoch an Bäumen empor kletterten. Roter, grüner, weißer und schwarzer Pfeffer stammten von derselben Pflanze und unterschieden sich nur im Reifegrad. Das in den Beeren enthaltene Piperin verlieh ihnen die typische Schärfe, erklärte ihre Führerin. Auf der Farm wuchsen Kaffeepflanzen, Ananas, Bananen und Kokosnüsse, Datteln, Zimtrinde, Nelken, Muskat- und Cashewnüsse und vieles mehr über, unter und nebeneinander. Als Showeinlage kletterte ein barfüßiger Angestellter nur mit Hilfe eines Seiles, das er um eine Palme schlang, hoch hinauf und schlug für die Gruppe ein paar Kokosnüsse.

In einem See badeten drei Elefanten und prusteten vergnügt das Wasser über sich und ihren Mahut, ihren Führer. Das ganze Ambiente erinnerte Meera an Rudyard Kiplings Dschungelbuch und weckte wieder die Energie des fröhlichen, lebendigen, neugierigen Mädchens in ihr. „Wie herrlich es hier ist“, dachte sie. „Und das, obwohl die Farm eine kommerzielle Veranstaltung für Touristen ist und keine wirkliche Idylle.“ Und doch wirkten die Menschen echt. Sie schienen Freude an ihrer Arbeit zu haben und diese Freude steckte jeden an.

Wie sehr beneidete Meera diese Leute. Sie hatte weder eine abgeschlossene Ausbildung, noch einen Job. Seit ihrer Flucht aus dem Ashram lebte sie bei ihrer Mutter und verdiente nur ein bisschen Geld mit englischen Übersetzungen und Nachhilfeunterricht. Zu mehr hatte sie sich bis heute nicht in der Lage gesehen. Wie gerne würde sie wieder täglich zur Arbeit gehen, zu einer Arbeit, die ihren Fähigkeiten entsprach und ihr Spaß machte, die sie nicht überforderte, sondern erfüllte. Kurz nachdem sie Janaka kennengelernt hatte, war sie in seinen Ashram gezogen und hatte ihr VWL-Studium abgebrochen. Ihre Mutter hatte damals alles versucht, sie davon abzubringen; sie beschworen, erst ihr Studium zu beenden. Doch Meera hatte nicht warten können. Sie hatte geglaubt, endlich gefunden zu haben, was sie unbewusst schon immer gesucht hatte: einen weisen Lehrer und ein spirituelles Leben in einer Gemeinschaft von jungen Menschen, die ihr ähnlich waren, die das Gleiche wollten und suchten wie sie. Sie hatte das Gefühl gehabt, endlich etwas gefunden zu haben, das sie tief erfüllte, das sinnvoll war und ihrem Charakter, der sich viel zu lange angepasst und verbogen hatte, entsprach. Wie viele andere, die mit Janaka in Pavitra Nagar gelebt hatten, die für ihn gearbeitet hatten und mit ihm gereist waren, hatte sie ihre besten und wichtigsten Jahre verschenkt.

Meera zwang ihren Geist zurück in die Gegenwart. Es war so schön hier. Sie wollte den Ort wirklich wahrnehmen und den Aufenthalt auf der Farm genießen. Ihre Gruppe machte an einem Bewässerungsgraben im Schatten unter Bäumen und einem Sonnenzelt Rast. Ihre Führerin reichte allen eine kühle Zitronen-Ingwer Limonade. Meera trank durstig den ersten Schluck. Plötzlich spürte sie eine kühle weiche Berührung an ihrer rechten Wange. Es fühlte sich an, als würde eine speckige Hand sie streicheln. Kurz darauf zog die vermeintliche Hand ihren Hut in die Luft und setzte sie einer jungen Australierin, die Meera gegenüber stand, auf den Kopf. Alle lachten und fotografierten. Erst jetzt sah Meera, dass kein Mensch, sondern ein Elefant hinter ihr stand, der mit seinem Rüssel ihren Hut geklaut hatte. Während sie sich langsam und vorsichtig herumdrehte, streichelte ihr wieder der weiche Rüssel zärtlich über die Wange. Der relativ kleine und doch massige Elefant sah sie aus großen, dunkelbraunen Augen an. Dieser Blick war so warm und unschuldig, dass Meera unvermittelt Tränen der Rührung in die Augen schossen. Ohne Nachzudenken streichelte sie den Elefant an der Rüsselwurzel zwischen den Augen. Es schien ihm zu gefallen. Jetzt trauten sich auch andere Touristen näher heran. Das Tier genoss die Aufmerksamkeit sichtlich und ließ sich berühren und fotografieren.

„Das ist Shishu, unser Baby. Sie ist erst zwei Jahre alt und noch sehr verspielt“, erklärte der Mahut ruhig.

Das verspielte Elefantenkind holte mit seinem Rüssel überaus geschickt Meeras Hut zurück und setzte ihn ihr wieder auf. Meera sah das Tier noch einmal an und bedankte sich mit einem stummen Nicken. Die Nähe, die sie in diesem Moment zwischen sich und dem Tier spürte, war so stark, so überwältigend, dass ihr schwindelig wurde. Schnell trank sie einen Schluck ihrer Limonade und zog sich aus der Enge der Menge, die sich um sie und Shishu gebildet hatte, ein paar Schritte zurück. Der Mahut ließ die Touristen noch einige Minuten streicheln, fotografieren und filmen und setzte dann mit seiner Elefantengruppe gemächlich seinen Weg fort.

Und auch die Gewürzführung näherte sich langsam dem Ende. Die Gruppe kletterte noch, einer nach dem anderen, über einen wackeligen, schwimmenden Holzsteg unter dem Meera einige Wasserschildkröten entdeckte und wurde dann in eine Bambushütte geführt, wo alle Gewürze, Nüsse und Früchte verkauft wurden, die auf der Farm wuchsen. Meera kaufte Ingwer, Vanille, Cashews, Nelken, Koriandersamen und Pfeffer. Obwohl alles gut verpackt war, strömte ein betörender, orientalischer Duft aus ihrer Tasche.

Direkt aus dem Shop gelangte die Gruppe ins einfache Restaurant, in dem schon andere Gruppen saßen, plauderten und aßen. Ihre Führerin zeigte Meeras Gruppe den Tisch, der für sie reserviert war und verabschiedete sich mit einer freundlichen Verneigung.

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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