Читать книгу Naranari - Mehr als Glückseligkeit - Daniela Jodorf - Страница 12

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MEERA

Meera war eine der Ersten beim Frühstück und stand schon vor neun bei Captain Hook an der Rezeption. Sie hatte ihm zwei Cashewnüsse und ein Stück Apfel vom Buffet mitgebracht.

„Darf ich ihm das geben?“ fragte sie den Concierge.

„Ja, gerne. Captain Hook liebt Sie, Misses Meera. Er redet den ganzen Tag von Ihnen.“

Sie näherte sich langsam und vorsichtig der Sitzstange des lustigen Vogels. „Hallihallo. Meerabai. Taurig und schön!“, krächzte der Papagei wie letztes Mal.

„Hallo, Captain. Ich hab´ dir etwas zu futtern mitgebracht. Magst du Nüsse?“

„Ich bin Captain Hook. Captain Hook.“

Meera legte Apfelstück und Nüsse in ihre geöffnete Hand. Der Captain sah zuerst sie mit schief gelegtem Kopf an, dann ihre Hand und die Köstlichkeiten darin. Und schon kletterte er von seiner Stange auf ihren Unterarm. Er war ganz schön schwer. Jetzt begann er, an dem Apfelschnitz zu knabbern und ließ sich durch nichts und niemanden stören. Meera sah ihm begeistert dabei zu und freute sich über die Zutraulichkeit und den Appetit des Vogels. In aller Seelenruhe verspeiste er den ganzen Snack und kletterte dann zurück auf seinen Platz. Meera gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich. „Bye-bye. See you later, Captain.“

„See you later, Meera, meine Meera.“

Zum Abschied pfiff er wieder die bereits vertraute melancholische Melodie.

Den Concierge fragte Meera nach einem Gemüsemarkt in der Nähe. Sie wollte unbedingt die ganzen köstlichen Sachen sehen, anfassen und riechen, die sie gestern bei Nilesh in der Küche verarbeitet hatten.

„Der Markt ist nicht weit von hier. Sie können mit einer Motorriksha hinfahren. Soll ich Ihnen eine rufen? Die Fahrt dauert ungefähr zwanzig Minuten und sollte nicht mehr als hundertachtzig Rupien kosten.“

„Perfekt. Ich warte draußen auf den Fahrer. Vielen, vielen Dank.“

Weniger als fünf Minuten später brauste eine gelb-schwarze Motorriksha auf Meera zu. Der Fahrer trug eine bunte Kappe und hinter seiner Windschutzscheibe hingen allerlei bunte Devotionalien, Malas, Heiligenbildchen und -figürchen – wie in einem Hippiebus. Meera kletterte auf den Rücksitz und hielt sich gut fest. Sie hatte mehr als einmal erlebt, wie die Riskhawalas durch den Verkehr rasten. Auch dieser Fahrer gab rücksichtslos Gas. Er wusste offenbar, wo Meera hinwollte, denn er sprach kein Wort mit ihr. Sie bretterten über die lange Einfahrt des Cozy Yoga Resorts und bogen hinter dem Tor rechts auf die Landstraße ab. Der Fahrer beschleunigte in Windeseile. Zum Glück waren nur wenige andere Fahrzeuge unterwegs. Meera klammerte sich eisern fest und ruckelte und schuckelte auf dem roten Plastiksitz hoch und runter, hin und her. Fünfzehn Minuten später stoppte der Fahrer mit einer Vollbremsung am Eingang zu einer Fußgängerzone.

„Der Markt ist gleich dahinten. Am Ende der Straße. Ich kriege zweihundertzwanzig Rupien, Misses.“

Meera lachte. „Sorry. Yatra key kimat adhikatam 150 thee. Die Fahrt war höchstens hundertfünzig wert“, sagte sie auf Hindi.

Der Fahrer staunte. „Aap hindi baat kr rahe hain? Sie sprechen Hindi? Wunderbar! Hundertfünfzig. Sahmat hona. Einverstanden.“

Meera gab ihm hundertachtzig Rupien und verabschiedete sich lachend. Der Fahrer winkte ihr fröhlich hinterher.

Auf dem Markt war Meera gleich in ihrem Element. Obst, Gemüse, Früchte, Kräuter. Alles lag ordentlich nebeneinander auf großen Tüchern auf dem Boden oder auf Tischen. Vieles davon kannte Meera aus Deutschland, aber es gab auch einige Gemüse- und Obstsorten, die sie noch nie gesehen hatte. Sie fragte nach den Namen und durfte daran riechen. Einige Händler erklärten ihr sogar, wie man ihr Gemüse am schmackhaftesten zubereitete. Es war herrlich. Ein kleines Schlaraffenland. Obwohl Indien noch immer ein Land war, in dem es viel Armut gab, wirkte dieser Markt hier üppig und frisch. In Deutschland hatte sie nie so eine Vielfalt und Frische auf dem Wochenmarkt erlebt.

Meera probierte frischen Ingwer und Kardamon. Ein besonders herzlicher Händler schenkte ihr eine saftige Orange. Sie hätte Stunden, ja Tage, hier verbringen können, obwohl es von geschäftigen Menschen nur so wimmelte. Wieder füllte sich ihre Einkaufstasche schnell mit haltbaren Produkten, die sie in ihrem Zimmer aufbewahren und zubereiten konnte.

Meera feilschte gerade mit einer Marktfrau über ein großes Stück Kurkuma, das sie sich abends vor dem Schlafengehen mit heißem Wasser und Kokosmilch zubereiten wollte, als sie eine vertraute Stimme hörte.

„Meera? Hallo!“

Meera sah erschrocken auf. Wer kannte sie denn hier? „Nilesh! Hallo. Du hast mich ganz schön erschreckt.“

„Hat dir das Kochen gestern so gut gefallen, dass du heute selbst einkaufen gehst?“

Meera strich sich eine lockige Strähne aus dem Gesicht. „Ja, hat es tatsächlich. Schade, dass ich keine Küche in meinem Hotelzimmer habe.“

„Du kannst jederzeit in unserer zweiten Küche kochen. Wir nutzen sie nur für Feste und unsere Kochkurse.“

„Wow, das ist ein tolles Angebot, Nilesh. Danke.“

„Hast du Lust, mir beim Einkaufen zu helfen?“

„Du kaufst für das Hotel hier ein?“

„Nicht alles. Vieles wird uns geliefert. Aber ich lasse es mir nicht nehmen, so oft es geht herzukommen und ein paar frische Sachen selbst auszusuchen, die ich spontan für das Buffet zubereite.“

„Ich helfe dir gerne. Was suchst du heute?“

„Ich dachte an ein paar ungewöhnliche Gemüse und Früchte für das Nachtischbuffet.“

„Ungewöhnliches Gemüse habe ich gerade erst dahinten gesehen. Die Marktfrau hat mir auch ein tolles Rezept verraten.“

Meera zog Nilesh begeistert hinter sich her. Sie bemerkte gar nicht, dass sie sich wie ausgewechselt verhielt, wie ein anderer Mensch, der spontan und fröhlich und nicht immer nur niedergeschlagen, selbstkontrolliert und nachdenklich war. Sie zeigte Nilesh ihre Entdeckung und bat die Marktfrau, ihm noch einmal das Rezept zu erklären. Er kannte das Gemüse sogar, das Broccoli ein bisschen ähnelte, aber das Rezept war ihm neu. Er kaufte gleich eine ganze Kiste und freute sich. „Das ist eine tolle Entdeckung. Hilfst du mir beim Kochen?“

„Ich?“

„Nein, du!“ Nilesh lachte.

„Das kann ich doch nicht.“

„Warum? Du kochst hervorragend.“

„Aber nicht in einer professionellen Restaurantküche.“

„Du musst doch nicht allein kochen. Ich bin ja auch noch da.“

„Meinst du wirklich?“

„Natürlich. Du hast das Gemüse ja entdeckt. Es kann doch nichts schief gehen. Im schlimmsten Fall essen wir es selbst.“

„Okay. Überredet.“

Sie gingen noch weiter über den Markt, kauften frisches Obst und eine besondere Sorte Zwiebeln. „Welches ist dein indisches Lieblingsgericht?“, wollte Nilesh von Meera wissen.

„Du wirst es nicht glauben. Dal Makhani. Darin steckt für mich alles, was ich an Indien liebe?“

Er sah sie neugierig an. „Und das wäre?

„Hm, also zuerst einmal die Bodenständigkeit. Bei uns in Deutschland sind Linsengerichte althergebrachte Alltagsgerichte, die sich früher jeder leisten konnte. Arbeiter, Bauern, einfach jeder. Aber: Dal Makhani ist gleichzeitig irgendwie erhaben, samtig und fein auf der Zunge. Irgendwie edel. Die Schärfe verleiht dem Gericht Mut und Lebenskraft und die sahnige Süße Geborgenheit und Freude, die butterige Note verstärkt das noch und setzt dem Ganzen einen Hauch von Glückseligkeit hinzu. Das ist für mich Indien. Es steckt sehr viel Konträres darin und doch ist das Ganze vollkommen harmonisch.“

Nilesh schien sprachlos. Er brauchte ein bisschen, bis er etwas sagen konnte. „Ich habe schon viele Beschreibungen von Indien gehört. Aber das…, das ist sehr besonders.“ Er wirkte nachdenklich, gerührt und berührt.

Sie kamen an einem Streetfood-Restaurant vorbei. „Darf ich dich auf eine Nimbu-Limonade einladen“, fragte Nilesh vorsichtig. Er schien ihre Vorsicht und Zurückhaltung zu spüren und zu respektieren.

Trotzdem nahm sie die Einladung an. Sie setzten sich an einen schäbigen, von der starken Sonne ausgeblichenen, ehemals roten Plastiktisch mit passenden Stühlen. Nilesh holte an der Theke zwei Limonaden mit Blätterstrohhalm.

„Was bedeutet Kochen für dich?“, fragte Meera ihn, als er neben ihr saß und sie den ersten Schluck der sauer erfrischenden Limonade mit Strohhalm getrunken hatten.

Er sah in den Himmel und holte tief Luft. Auch wenn er nichts gesagt hätte, hätte sie in diesem Moment gewusst, dass ihm Kochen alles bedeutete.

„Alles“, sagte er und schwieg eine Weile. „Mein Vater hatte ein indisches Restaurant in London. Ich bin in seiner Küche groß geworden. Ich weiß noch ganz genau, wie es dort roch, wie heiß es dort war, wie ich überall herumlief und alles probierte. Die Köche hatten ihre liebe Not mit mir.“

„Und du?“

Meera holte ebenfalls tief Luft, aber ihre Reaktion war schwerer, belasteter als seine. Er nahm sofort den Schmerz wahr, der für sie mit dem Kochen verbunden war. „Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst“, sagte er mitfühlend.

„Doch, will ich“, entgegnete sie bestimmt, wie um sich selbst zu motivieren. „Ich war noch sehr jung, Anfang zwanzig, als ich in Deutschland in einen Ashram gezogen bin. Dort habe ich sehr viel gearbeitet und dadurch auch sehr viele verschiedene Dinge gelernt. Eines Tages sollte ich in der Küche aushelfen. Weil ich ganz gut war, habe ich immer mehr Verantwortung gekriegt. Am Ende habe ich die Küche praktisch geleitet und jeden Tag drei Mahlzeiten geplant, eingekauft und gekocht. Wir haben ausschließlich vegetarisch und meistens indisch gekocht, weil unser Guru in Indien erwacht war und schon als sehr junger Mann den Auftrag erhalten hatte, sein spirituelles Wissen nach Deutschland und in die ganze Welt zu tragen.“

„Und was tut daran so weh?“ fragte Nilesh sehr direkt, aber mit einem Unterton, der Meera nicht verletzte, sondern ermunterte, ehrlich zu sein.

„Alles!“, anwortete sie, und sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Irgendwann holte mich Janaka, der Guru, zu sich und sagte mir, dass ich die Küche sofort verlassen müsse, weil ich meine Tätigkeit zu sehr lieben würde. Diese Anhaftung wäre nicht gut für mich. Ich müsste vairagya üben, Verhaftungslosigkeit. Es sind dort viele schlimme Dinge passiert. Ich habe trotzdem noch viele Jahre ausgehalten, bis es zu viel war und ich eines Tages geflüchtet bin. Da war ich plötzlich über dreißig und hatte nichts mehr. Das war die wirkliche Lektion in Verhaftungslosigkeit, in Loslassen. Ich habe sie bis heute nicht gelernt.“

„Weil du das alles noch liebst und gleichzeitig weißt, wie falsch und furchtbar es war und noch ist?“

„Ja. Woher weißt du das?“

„Mein Vater war oder ist auch Anhänger eines sehr berühmten indischen Gurus. Für uns Inder ist das eigentlich normal. Deshalb war es für alle völlig selbstverständlich, dass meine Mutter und auch wir Kinder dem Meister und seinen Lehren folgten. Aber meine Mutter war schon immer eine sehr aufgeklärte, extrem unabhängige und selbstbewusste Frau, die sich und ihr Leben dem Guru nicht vollständig unterwerfen wollte. Sie konnte es einfach nicht, weil sie der Mensch ist, der sie ist. Niemand hat Macht über sie. Mein Vater hatte das völlig unterschätzt. Wir lebten damals in London, aber der Guru kam einmal im Jahr zu Besuch, und wir flogen einmal jährlich nach Indien. Nicht zu unseren Verwandten, zu den Menschen, die wir liebten, sondern zu irgendwelchen Festen im Ashram des Heiligen. Ich habe schöne Erinnerungen an diese Zeit, aber ich habe auch immer gespürt, dass etwas nicht stimmte. Ein anderer hat unser gesamtes Leben bestimmt, bekam all unsere Aufmerksamkeit, unser ganzes Erspartes; sagte uns, was richtig und was falsch war... Als ich acht war, konnte meine Mutter einfach nicht mehr. Sie trennte sich von meinem Vater, dem Guru und dem Ashram und nahm meine Schwester und mich mit zurück nach Indien. An dem Tag waren wir für meinen Vater gestorben. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“

Auch Nileshs Augen füllten sich mit Tränen. Meera spürte die Leere, die die frühe Trennung von seinem Vater in ihm hinterlassen hatte. Sie berührte tröstend seinen Arm.

„Du musst meine Mutter unbedingt kennenlernen. Sie ist leider gerade bei ihrer Schwester in Delhi und kommt erst in zwei Wochen zurück.“

„Dann bin ich leider schon wieder in Deutschland. Ich reise heute in zwei Wochen ab.“

„Ich habe ganz vergessen, dass du ja eine Touristin und unser Hotelgast bist.“

„Ist das nicht eigenartig? Ich auch.“

Meera nahm Nileshs Angebot an, mit ihm zurück zum Hotel zu fahren. Sie lachte, als sie seinen Wagen sah, eine knallbunte Motorriksha mit Ladefläche.

„Warum lachst du? Gefällt dir mein Auto nicht?“, fragte Nilesh augenzwinkernd.

„Oh, doch. Ich hatte nur etwas anderes erwartet.“

Er fragte nicht, was sie sich vorgestellt hatte. Wahrscheinlich wusste er es genau. Sie war einem Klischee aufgesessen und hatte Nilesh in einem dieser weißen, asiatischen SUV gesehen, die hier scheinbar alle fuhren, die es sich leisten konnten.

Erst als sie ihre Einkäufe auf der Ladefläche verstaut hatten und Meera auf der Vorderbank neben ihm Platz genommen hatte, griff Nilesh das Thema Auto erneut auf.

„Das ist nur mein Arbeitswagen. Wenn ich frei habe, fahre ich am liebsten Motorrad.“

Er hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, da schoss Meera der Gedanke durch den Kopf, dass er nicht verheiratet war. Automatisch sah sie auf seine Hände, die ringlos das Steuer umfassten. Sie erschrak. Warum spielte das eine Rolle für sie? Gefiel er ihr etwa? Sie versuchte, ihre Gefühle zu erfassen, doch da war nichts, als ein undurchsichtiger Nebel, der hin und her waberte. Dieses undefinierbare Etwas hätte alles sein können, von großer Zuneigung bis hin zu ebenso großer Abneigung. Ihre Angst vor Nähe vernebelte ihre Empfindungen und die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle klar zu erfassen, verstärkte die Angst. Sie kam ihrem dunkelsten inneren Teufelskreis gefährlich nahe. Würde sie jemals wieder ihre Gefühle erkennen, ihnen vertrauen und sie zulassen können?

Zum Glück startete Nilesh den knatternden Motor des Zweitakters und bemerkte ihre emotionale Reaktion nicht. Meera konnte sich gerade noch festhalten, bevor er Gas gab und hupend auf die Fahrbahn knatterte, ohne sich ordentlich einzuordnen. Seine forsche Aktion wurde mit einem wütenden Hupkonzert gekontert, doch Nilesh scherte sich nicht darum. Er beschleunigte ungerührt und brauste Richtung Hotel. Meera hielt die Augen während der ganzen Fahrt geschlossen. Nilesh fuhr noch wahnsinniger als der Fahrer, der sie hergebracht hatte. Er bremste erst im allerletzten Moment, kurz bevor er seinem Vordermann aufzufahren schien. Den Blinker benutzte er offenbar grundsätzlich nicht. Meera versuchte, ruhig zu bleiben, doch ihr Herz raste und sie bekam schwer Luft. Sie stand die ganze Fahrt über auf einer imaginären Bremse, aber das nützte nichts. Sie versuchte, sich in alter Gewohnheit mit Worten zu beruhigen und wiederholte ihre Affirmation: „Ich bin geborgen und sicher.“ Aber die Wirklichkeit strafte ihre Worte lügen. Dieser Höllenritt war alles andere als sicher. Ihre Angst war vollkommen berechtigt und ließ sich nicht verdrängen.

Trotzdem erreichten sie das Cozy Yoga Hotel unversehrt. Meera stieg auf wackeligen Beinen aus. Es dauerte einige Sekunden bis sie sich ein bisschen beruhigt hatte und auf dem festen Boden einigermaßen sicher stand. Ihre Brust war eng, und sie kämpfte um jeden Atemzug, während ihr Herz unregelmäßig klopfte. Hatte sie heute Morgen ihre Medikamente genommen?

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Nilesh, der plötzlich wieder ganz sanft wirkte, obwohl er Meera gerade wie ein aggressiver Rüpel vorgekommen war.

Wenn sie in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann ehrlich zu sein. „Ich bin gerade fast gestorben.“

„Wegen meines Fahrstils?“

„Fahrstil, nennt man das?“ Meera versuchte, trotz allem Humor zu beweisen.

„Ich bin etwas wild unterwegs. Ich weiß. Entschuldige bitte.“

„Alles gut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass du wie ein verrückter Rikshawala fährst. Es fällt mir sehr schwer, die Kontrolle derart abzugeben. Das löst absolute Panik in mir aus.“

Nilesh kam zu ihr herüber und nahm sie fest in den Arm. „Ich bin ein Idiot. Ich habe nicht eine Sekunde nachgedacht.“

Meera zitterte in seinen Armen, beruhigte sich aber langsam. Nilesh sagte kein Wort mehr. Er hielt sie einfach fest. In dieser einen Minute schoss ihr unendlich viel durch den Kopf. Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, dass jemand ihre Gefühle, ihre Ängste ernst nahm und sie respektierte. Janaka und seine Anhänger hatten jeden verachtet, der Schwäche zeigte. Die schlimmsten emotionalen Wunden waren im Ashram gnadenlos aufgedeckt und erneut aufgerissen worden – manchmal vor aller Augen und nicht immer nur von Janaka. Vorgeblich aus altruistischen, spirituellen Gründen, um sie sichtbar zu machen und zu heilen, doch eigentlich war es nur darum gegangen, auf sadistische Weise andere bloßzustellen, sie zu verletzen und klein zu machen. Janaka hatte jede Schwäche Meeras in Sekundenschnelle erfasst und nicht lange gezögert, nicht nur einen Finger, sondern seine ganze Faust in ihre Wunden zu bohren. Franka hatte ihr in der Therapie erklärt, dass das ein sehr typisches Verhalten von autoritären Gruppenführern – zu denen offenbar viele Gurus gehörten - war. So gewannen sie Macht über ihre Anhänger, die ihnen bedingungslos vertrauten; die ihrer Ideologie bedingungslos vertrauten. Janaka hatte fast täglich gepredigt, dass alle alten Wunden aufgerissen werden müssten, damit man sich von ihnen befreien konnte. Doch wer riss seine Wunden auf? Gab es irgendjemanden, der ihn mit sich selbst und seinen Schwächen auf die gleiche, oftmals brutale Weise konfrontierte? Meera hatte im Ashram nicht einen Menschen gesehen, der es gewagt hätte, die strenge Hierarchie zu durchbrechen und Janaka auf Augenhöhe gegenüber zu treten. Wie viel Schmerz hatten sie alle erlitten? Franka hatte ein hässliches Wort dafür gebraucht: psychologischer Missbrauch. Meera hatte sich lange und heftig gewehrt, diese Strategie von Janaka und seiner spirituellen Gemeinschaft so zu nennen. Sie hatte sich selbst nicht als Opfer von Missbrauch sehen wollen. Zuerst hatte sie selbst noch geglaubt, dass extremes Leiden einen spirituellen Sinn hatte und einen der Wahrheit näher bringen konnte; ja, dass Leiden sogar ein wichtiger Katalysator für persönliches Wachstum und Transformation war. Lange hatte sie glauben wollen, dass Janaka es doch eigentlich gut mit ihr gemeint hatte. Er hatte sie wirklich stärken und befreien wollen. Dieser höhere Zweck schien alle Mittel zu heiligen. Hatten nicht viele Menschen, die heute als spirituelle Vorbilder galten, furchtbar gelitten?

Nilesh löste die liebevolle Umarmung langsam, lehnte sich ein wenig zurück und sah ihr fest in die Augen. „Ich verspreche dir, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Es tut mir unendlich leid. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich gerade geritten hat.“

Meera erwiderte seinen Blick dankbar und viel ruhiger als zuvor. „Du musst dich für nichts entschuldigen, Nilesh. Woher solltest du von meinen Ängsten wissen?“

Er drückte ihre Hände, die er jetzt hielt. „Ich hätte es spüren können. Ich meine, ich spüre es. Deine Verletzlichkeit. Deine Verletztheit.“

Sie sah auf den Boden, um sich ein bisschen zu schützen. Sie fühlte sich nackt und wie ein offenes Buch. „Mir sind sehr schlimme Dinge passiert, Nilesh. Über viele Jahre hinweg. Das mit dem Kochen, das ich dir vorhin erzählt habe, war wahrscheinlich das Harmloseste von allem. Und, auch wenn ich einen guten, einen souveränen und gesunden Weg aus diesem leidvollen Leben heraus gefunden habe, sind meine Wunden noch lange nicht verheilt. Aber all das ist nicht das Erste, über das ich mit jemandem spreche, den ich bei einem Kochkurs im Urlaub kennenlerne.“

Nilesh lachte, vielleicht auch, um die Anspannung loszuwerden. „Oh nein. Das bin ich also für dich. Ein Koch-Animateur, der dich ein bisschen bespaßt, aber mit dem du nicht ernsthaft reden kannst?“

Sie stimmte in sein Lachen ein, weil diese Vorstellung völlig absurd war. Nilesh war vom ersten Moment an sehr viel mehr oder etwas ganz anderes für sie gewesen.

„Hast du überhaupt noch Lust mit diesem wahnsinnigen Rikshawala zu kochen?“, fragte er flapsig, aber mit einem Hauch von Unsicherheit in der Stimme.

Sie tat so, als müsse sie überlegen. Er schubste sie leicht und tat beleidigt.

„Natürlich. Aber ich muss mich erst umziehen und frisch machen.“

Er wirkte erleichtert. „Dann in einer halben Stunde in meiner Küche?“

„Sehr gerne.“

Meera sprang schnell unter die Dusche und erholte sich langsam von dem Höllenritt und der erneuten Angstattacke. Sie prüfte nach, ob sie ihre Tabletten genommen hatte und stellte erleichtert fest, dass sie keine vergessen hatte, seit sie in Goa war. Dann zog sie sich eine lockere Pumphose und ein helles T-Shirt über und knotete ihre leicht gelockten, rot-blonden Haare zu einem hohen Dutt. Zuletzt schlüpfte sie in bequeme Turnschuhe und machte sich auf den Weg zur Küche.

Die Hauptküche lag im hinteren Teil des Hotelgartens, gut versteckt hinter einer Bambushecke. Meera hörte schon von weitem das vertraute Klappern der Töpfe und Pfannen. Es duftete nach Garam Masala, einer indischen Gewürzmischung, Ingwer, Knoblauch und Butterschmalz. Meera liebte diesen Duft über alles. Wieder klopfte sie zaghaft an die Tür. Der fröhliche Bikram öffnete wie gestern mit seinem strahlenden Lächeln. „Hello. Misses Meera. Wie schön, dass Sie mit uns kochen.“

Nilesh war sofort an Bikrams Seite und winkte Meera in sein Heiligtum. Die Küche war riesig, sicher über sechzig Quadratmeter und mindestens so gut ausgestattet und blitzblank wie die Außenküche am Restaurant, in der sie gestern Nachmittag gekocht hatten.

„Sehr schön ist dein Reich...“, staunte Meera, und Nilesh freute sich stolz.

„Alle mal herhören. Das ist Meera. Sie wird heute mit mir kochen. Bitte behandelt sie wie eine von uns. Sie ist ein Profi.“

Die Köche nickten stumm und machten sich nach Nileshs Ansage direkt wieder an die Arbeit. Nilesh führte Meera an einigen Stationen vorbei an seinen Platz. „Fühl dich bitte frei, alles zu benutzen und zu probieren, was du willst. Hier, deine Schürze und dein Kopftuch. Die tragen wir alle. Messer hängen dort an der Wand. Gewürze stehen da oben auf dem Regal. Willst du lieber allein oder wollen wir zusammen kochen?“

„Mit dir natürlich!“

„Hast du das Rezept noch im Kopf?“

Sie tippte mit dem Zeigefinger an ihre Stirn. „Und du?“

„Dann los?!“

Sie schnibbelten, schälten, rösteten Gewürze, mörserten Knoblauch und Ingwer, häuteten Tomaten. Meera war vollkommen ruhig, sehr konzentriert und ganz bei der Sache. Sie brauchte nur wenige Worte, um sich mit Nilesh zu verständigen. Es war, als hätten sie immer so zusammen gearbeitet; Hand in Hand, wie ein perfektes Uhrwerk. Völlig im Fluss.

Zuerst erhitzten sie in einer Art Wok Erdnussöl und brieten darin verschiedene Gewürze und grüne Chilis scharf an, bevor sie die Knoblauch-Ingwerpaste und weitere, bereits geröstete Gemüse hinzugaben. Meera liebte den scharfen Duft, der kurz darauf aus dem Wok aufstieg und sie immer ein wenig zum Husten brachte. Nun kam das Gemüse hinzu, das nach einiger Zeit mit etwas Wasser abgelöscht wurde. Nach etwa zehn Minuten folgten die inzwischen gehackten Tomaten. Dann musste alles noch einmal solange köcheln, bis die Tomaten auseinanderfielen und zu einer Sauce eingekocht waren. Ganz am Ende rundeten ein Becher Kokosmilch und eine Handvoll frischer Koriander alles ab.

Nilesh reichte Meera eine Untertasse zum Probieren. „Was meinst du?“

Das Gericht duftete leicht kohlig und intensiv nach Kokos, Koriander und Gewürzen. Meera liebte es jetzt schon. Sie hatte ein bisschen Angst, dass es zu scharf sein könnte, doch sie hatten wohl eine milde Sorte Chili verwendet, die eine angenehme, leichte Schärfe an das Essen abgegeben hatte. Nilesh kostete ebenfalls. „Wunderbar. Das schmeckt herrlich“, stellte er begeistert fest.

„Eine Kleinigkeit fehlt noch, finde ich.“ Meera suchte auf dem Gewürzregal nach Zucker und fügte etwa eine halben Teelöffel braunen Rohrzucker hinzu.

„Zucker?“, wunderte sich Nilesh.

„Ja. Zucker hebt die Säure der Tomate auf und gibt ihr dadurch mehr Aroma. Außerdem nimmt er die Bitterkeit, die man ganz leicht hinten am Gaumen schmecken konnte.“

Nilesh probierte erneut und freute sich. „Das gibt es doch gar nicht. Das ist ein Riesenunterschied.“

Auch Meera probierte ein weiteres Mal und war endlich zufrieden. Nilesh winkte Bikram herüber und reichte ihm eine Probierportion.

„Es riecht wunderbar, leicht kohlig, aber angenehm. Hm…, und es schmeckt perfekt. Sehr gut gewürzt. Sehr gut abgeschmeckt. Obwohl es ein einfaches Gericht ist, ist es sehr fein. Ihr seid ein gutes Team.“

Meera sah Nilesh an. Er wirkte glücklich und stolz. „Du bist ein Naturtalent“, lobte er sie schon wieder.

„Du übertreibst“, wiegelte sie ab. Es war ihr unangenehm, gelobt zu werden.

„Übertreibe ich, Bikram?“

„Nein, ganz und gar nicht. Sie kochen sehr gut, Misses Meera. Mit Technik, Struktur, Geschmack und Herz.“

„Siehst du! So etwas hat Bikram von mir noch nie gesagt.“

Bikram ging lachend zurück an seinen Arbeitsplatz, und Meera stand allein mit Nilesh da. Nun, da die Arbeit getan war, war ihr die Nähe, die Intimität zwischen ihnen plötzlich wieder unangenehm. Ihr Fluchtimpuls regte sich. Sie fürchtete, er könnte sie erneut umarmen. Deshalb machte sie sich daran, ihren Arbeitsplatz akribisch aufzuräumen.

„Das brauchst du nicht. Das mache ich gleich.“

Hatte er sie etwa durchschaut? „Eine echte Köchin räumt ihren Arbeitsplatz immer auf.“

„Aber nicht, wenn die Köchin eigentlich Urlaub hat.“

„Stimmt, ich habe Urlaub. Wie eigenartig.“ Sie lachte. „Okay, dann lasse ich den Koch, der leider keinen Urlaub hat, jetzt mit seiner Arbeit allein. Wann kann ich dieses hervorragende Spargoli-Gericht denn auf dem Büffet finden, Chef Nilesh?“

Nilesh sah auf die Uhr. „In einer halben Stunde.“

Meera verabschiedete sich schüchtern. Sie hatte das Gefühl, dass alle Köche und Gehilfen Nilesh und sie genau beobachteten. Sie nahm kurz seine Hand, hielt sie fest gedrückt und sagte leise danke. Als sie seine Hand loslassen wollte, drehte er seine blitzschnell um, griff ihr Handgelenk und hielt sie zurück. Er sah ihr tief in die Augen, als wäre er mit ihr allein. „Ich danke dir, Meera. Das war der schönste Morgen, den ich seit Jahren hatte. Du bist wunderbar! Ich genieße jede Minute mit dir.“

Sie errötete und blickte sich um. Die anderen Köche taten zumindest so, als hätten sie nichts bemerkt. Obwohl Meera sich innerlich dagegen wehrte, war dies ein schöner, ein sehr glücklicher Moment. Sie spürte Nileshs aufrichtige Zuneigung. Etwas in ihr genoss seine Aufmerksamkeit und Nähe. Aber da war auch noch ein anderer Teil von ihr, der genau diese Aufmerksamkeit und Nähe wie die Hölle fürchtete. Es war gefährlich, einem anderen sein Herz zu öffnen, dessen Liebe anzunehmen und die eigene Liebe zuzulassen, hatte sie gelernt. Ihr unterbewusstes Frühwarnsystem schlug heftig Alarm.

So viel wie heute, hatte Meera ewig nicht erlebt und doch wusste sie, dass sie keine normale Müdigkeit überfiel sobald sie in ihrem Zimmer war, sondern die altbekannte Fatigue. Sie legte sich matt auf ihr Himmelbett, deckte sich mit einem leichten Baumwolltuch zu und döste fast augenblicklich ein.

Ein Stunde später wachte sie auf und sah sich in ihrem Zimmer um, noch immer viel zu müde, um aufzustehen. „Ich kann doch den Rest dieses schönen Tages nicht einfach verschlafen“, dachte sie. Doch ihr Körper war anderer Meinung, und sie schlief wieder ein.

Das nächste Mal wachte sie gegen halb vier am Nachmittag auf. Sie hatte plötzlich großen Durst, trank einen Schluck Wasser und kochte sich einen Tee, der vielleicht die Lebensgeister in ihr wieder zu wecken vermochte, hoffte sie. Sie saß im Bett und trank den heißen Tee mit Ingwer in kleinen Schlucken. Fast unmittelbar begann der Ingwer seine wärmende Wirkung zu entfalten, und Meera fühlte sich ein bisschen wacher und klarer im Kopf. Ihr Körper hingegen schien noch immer bleischwer und müde. Das war genau der Zustand zwischen Wachen und Schlafen, in dem es die Erinnerungen am leichtesten hatten, sie zu überfallen und zu überfluten. Sie war einfach zu schläfrig, um etwas dagegen zu tun.

Mit einem Mal war ihr, als drehe jemand das Rad der Zeit einfach zurück und immer weiter zurück; fünfzehn Jahre bis zu dem Tag, an dem sie Janaka das erste Mal begegnet war. Drei Wochen nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Damals hatte sie noch Britta geheißen, wie ein anderer Mensch in einem anderen Leben.

Kati, eine gute Freundin, hatte ihr zum Geburtstag den Eintritt zu einem Satsang von Janaka geschenkt. Sie hatten beide keine Ahnung, was ein Satsang eigentlich war und was sie dort erwartete. Meeras Freundin studierte Psychologie und hatte einen Aushang am schwarzen Brett in der Uni gelesen. Auf Meeras Geburtstagskarte hatte sie geschrieben: „Vielleicht hat er Antworten auf die vielen Fragen, die wir uns in unseren herrlichen, nächtlichen Gesprächen bei Vino Rosso und Chips selbst nicht beantworten können.“

Anbei lag der Flyer, den sie vom schwarzen Brett geklaut hatte. Darauf stand eigentlich nicht viel.

„Janakananda bedeutet Erschaffer der Glückseligkeit. Diesen Namen erhielt Janaka, wie sich der deutsche Lehrer westlicher und indischer Spiritualität nennt, von Shiva und seinem indischen Guru, Sri Adideva, im Jahr 1998. Sein Lehrer war es auch, der dem jungen, suchenden Deutschen das höchste Selbst oder das reine Sein enthüllte und ihn kurz darauf als eigenständigen Lehrer und Fortführer der Tradition zurück nach Deutschland schickte, um die Spiritualität der Neuen Zeit mit der zeitlosen indischen Spiritualität zu verbinden und westlichen Menschen zugänglich zu machen. Janaka erfüllt damit seine Mission: anderen Suchenden den Weg zur Seele zu zeigen, die er selbst mit Hilfe verschiedener Lehrer fand. Seine Organisation, die Menschen aus vielen Ländern der Welt anzieht, heißt deshalb Atma Jivan, Seele des Lebens. Janaka lebt in Deutschland, in einem kleinen Ort im Odenwald in seinem Ashram, Pavitra Nagar, mit Schülern und Sannyasins nach alter indischer Tradition.“

Meera hatte kein Wort verstanden. Auch das Bild Janakas, das ihn an einem Fluss in Meditationshaltung mit geschlossenen Augen zeigte, sprach sie nicht besonders an. Doch die Worte ihrer Freundin lösten die Hoffnung in ihr aus, dass es vielleicht wirklich einen Menschen geben könnte, der ihre drängenden Fragen über sich und das Leben, über Glück und Unglück, Leben und Tod, beantworten konnte; einen Menschen, der ihr zeigen konnte, wie man glücklich lebte, wie man Frieden mit sich und der Welt schloss. Vielleicht konnte das nur jemand, der in einem anderen Land etwas gefunden hatte, was in Deutschland nicht zu finden war. Vielleicht kannte dieser Janaka ja wirklich das Geheimnis der menschlichen Seele, das sich ihr einfach nicht erschloss. Und wenn nicht, dann hätten sie und ihre Freundin einen lustigen Abend zusammen und sicher viel, über das sie hinterher lästern, lachen oder diskutieren konnten. Wie naiv sie damals gewesen war.

Der Satsang fand in einem alten Kino statt, das inzwischen für Veranstaltungen aller Art genutzt wurde. Die Leute wirkten auf Meera ein wenig alternativ, doch die meisten waren jung und schienen sehr aufmerksam und interessiert. Im Hintergrund lief chillige Housemusik mit indischem Gesang. Das passte gar nicht zum Ambiente und den Leuten, fand Meera, doch die Musik beruhigte und entspannte sie sehr schnell und sehr tief. Meera war noch mit dem Ausschalten ihres Handys beschäftigt, als sie eine starke Welle der Energie im Raum spürte. Sie blickte neugierig auf, Janaka direkt in die Augen. Er stand schweigend auf der Bühne und strahlte eine verzaubernde Ruhe und Tiefe aus. Er hielt ihren Blick mit seinen leuchtenden grün-blauen Augen und nickte kurz, als würde er sie ganz persönlich grüßen und schon sehr, sehr lange kennen. Dann setzte er sich auf einen niedrigen Sessel in der Mitte der Bühne, kreuzte die Beine und deckte sich mit einem Kashmirschal zu. Meera war wie elektrisiert. Ihr Herz dehnte sich in alle Richtungen aus, in ihrem Bauch kribbelte es und kurz wurde ihr sogar ein bisschen schwindelig. Es war paradox. Von diesem Janaka schien eine ungeheure Energie auszugehen, obwohl er so ruhig und in sich gekehrt wirkte. Die Musik spielte weiter, und Janaka blickte still und aufmerksam in die Menge. Es waren mehr als hundert Leute gekommen, schätzte Meera. Einige lächelte er an, andere begrüßte er mit vor der Brust zusammengefalteten Händen, als würde er sie bereits persönlich kennen. Manche brachen gleich darauf in Tränen aus. Meera hatte keine Ahnung, was hier geschah. Es war seltsam und schön zugleich.

Die Musik wurde leiser, als Janaka begann, mit angenehmer Stimme völlig frei zu sprechen. Erst jetzt nahm Meera wahr, dass er ein langes, blaues indisches Hemd über einer weiten weißen Hose trug. Auf dem sehr kurz geschorenen Kopf trug er eine ebenfalls blaue Wollmütze. Er wirkte mittelgroß, aber sehr schlank und jugendlich. Wie war es möglich, dass er in diesem Alter schon so viel erreicht hatte, fragte sie sich ein wenig neidisch. Was hatte sie bisher getan, um ein erfüllteres, sinnvolleres Leben zu leben? Was hatte sie erreicht?

„Namasté“, begrüßte Janaka die Versammelten. „Seid herzlich willkommen zu unserem Satsang, der uns alle hoffentlich dem höchsten Selbst näherbringen wird.“

Dann sprach er eindringlich und mit ruhiger Stimme eine viertel Stunde über die Suche des Menschen, über Ich-Bewusstsein und das höhere Selbst, über Transformation und Evolution und darüber, dass jeder, der es wirklich wollte, ein anderes, ein bewussteres, ein erfüllteres Leben finden konnte.

„Das ist kein leeres Versprechen. Das ist ein universelles Gesetz, das sich in meinem Leben bereits erfüllt hat und in eurem Leben erfüllen wird. Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“

Meera hatte sich in jedem Wort, in jedem Satz wiedererkannt. Ihr war, als spräche er direkt zu ihr; als kenne er all ihre Sehnsüchte und Wünsche und wüsste auch, wie groß ihre Zweifel waren. Er schien überhaupt alles zu wissen. Meera spürte, dass dieses Wissen auf eigener Erfahrung beruhte. Immerhin hatte ihn seine Suche bis nach Indien geführt, und er war nicht als Suchender, sondern als Lehrer zurückgekehrt. Mit einem Mal gab es für Meera die Hoffnung, dass ihr Leben sich verändern konnte; dass sie sich verändern konnte; dass sie nicht länger die extrem empathische junge Frau bleiben musste, die unter ihrer Feinfühligkeit und dem Leben litt. Auch sie konnte etwas finden, das ihren Fähigkeiten Sinn und Zweck verlieh, eine individuelle Aufgabe, die nur sie zum Wohle aller erfüllen konnte und gleichzeitig ein universelles, höheres Selbst, das sie mit allem und jedem verband.

Im darauffolgenden Dialog mit Einzelnen hatte Janaka auf jede Frage ein kluge, aber auch sehr praktische Antwort, die augenblicklich den Leidensdruck von den Menschen nahm. Problemen begegnete er gelassen mit Lösungen und Fragen mit Antworten, auf die Meera niemals gekommen wäre, weil sie aus einer ganz anderen Perspektive auf die Dinge blickte als er. Meera konnte kaum glauben, dass es Menschen wie Janaka überhaupt gab; Menschen, die dem Leben mit Gelassenheit, Weisheit und Weitsicht begegneten, die nicht in allem verstrickt zu sein schienen, sondern ein größeres Ganzes im Blick hatten, das alles viel klarer, durchschaubarer und weniger dramatisch machte. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, einem Heiligen begegnet zu sein. Janaka hatte etwas, das sie an Jesus erinnerte. Es musste sein tiefes Gottvertrauen sein, ja überhaupt zuerst einmal seine innere Verbindung zu Gott. Er selbst nannte es nicht einmal Gott oder göttlich. Er sprach immer nur von Seele, von Bewusstsein, vom höchsten Selbst, doch instinktiv wusste Meera, dass er Gott damit meinte, und es schreckte sie nicht ab. Ganz im Gegenteil, es faszinierte sie nur noch mehr, weil sie hier durch ihn, das Göttliche zu spüren glaubte.

Im Nu waren drei Stunden um. Ein Mittfünfziger betrat die Bühne mit einem Mikrofon in der Hand und bedankte sich bei Janaka für sein Kommen und seine weise, liebevolle Führung. Kurz darauf applaudierte der ganze Saal, und schon verließ Janaka die Bühne. Im Vorbeigehen sah er Meera noch einmal intensiv an und legte die Hände grüßend vor der Brust aneinander. Sie konnte nicht anders, als ihn auf dieselbe Weise zu verabschieden. Plötzlich war ihr, als löse sie sich auf, als sei sie nichts und niemand. So wirkte seine charismatische Präsenz auf sie. Gleich darauf, nahm sie sich selbst und alles um sich herum wieder auf die gewohnte Weise wahr und fragte sich, was mit ihr geschah. Wie konnte ein fremder Mensch so eine gewaltige Wirkung auf sie haben? Und nicht nur auf sie, sondern auf die meisten im Saal, die noch immer lachten oder weinten. Er hatte sie alle tief berührt.

Draußen vor der Tür brach Kati in schallendes Gelächter aus. „Was, zum Teufel, war das denn für eine grottige Vorstellung? Ich dachte, der Typ hört nie mehr auf zu quatschen. Hast du die ganzen Idioten gesehen? Wie sie den angehimmelt haben? So was hab ich noch nie erlebt. Wir sollten unser Eintrittsgeld zurückverlangen.“

Meera schämte sich mit einem Mal für ihre eigenen Reaktionen und Empfindungen. „Ich fand es gar nicht so schlecht“, gab sie trotzdem kleinlaut zu.

„Was? Ist das dein Ernst? Du hast dem Typen geglaubt?“

„Ja. Ich hatte das Gefühl, dass er wirklich etwas weiß, was andere nicht wissen.“

Kati wurde beinahe wütend. „Das kann mal wohl sagen. Der kennt diesen ganzen Eso-Schnickschnack und verbreitet den jetzt, als hätte er ihn selbst erfunden.“

„Meinst du? Kann man so etwas denn spielen?“

„Klar. Ich fand den Auftritt ziemlich schlecht.“

„Du studierst ja auch Psychologie.“

„Das hat doch damit nichts zu tun, Britta. Das ist nichts als gesunder Menschenverstand. Der Kerl hat eine Masche drauf und macht damit wahrscheinlich Unsummen. Die Menschen sind wirklich so dämlich. Man könnte glauben, sie wollen verarscht werden.“

Was wäre gewesen, wenn Meera an diesem Abend genauso gedacht und gefühlt hätte wie Kati? Oder wenn sie die heftige, klare Meinung ihrer Freundin in diesem Moment wachgerüttelt hätte? Dann wäre ihr ganzes Leben anders verlaufen.

Stattdessen hatte sie drei Wochen später an einem Seminar in Janakas Ashram teilgenommen. Seelenvolles Leben, hatte es geheißen. Und drei Monate später hatte sie ihr Hab und Gut in drei Kartons verpackt bei ihrer Mutter untergestellt, sich exmatrikuliert und war in den Ashram zu einem Sannyasa-Training gezogen, das zwei Jahre dauern sollte. Aus diesen zwei Jahren waren zwölf geworden, und sie hatte Kati seit diesem Abend nie wieder gesehen.

Meera erschrak ob der Heftigkeit des Bedauerns, das sie überfiel, als sie aus der Erinnerung erwachte. Was würde sie dafür geben, diesen ersten Moment mit Janaka noch einmal erleben zu dürfen; die erste Zeit mit ihm, die die glücklichste ihres ganzen Lebens gewesen war. Nie vorher und nie nachher hatte sie eine solche Bewunderung, eine solche Liebe für einen anderen Menschen empfunden. Sie versuchte, wie schon tausend Mal zuvor, sich vorzustellen, wie alles gewesen wäre, wenn diese Liebe von Dauer gewesen wäre, wenn dieses Glück angehalten hätte, wenn es das Leid, die Verletzungen, die Demütigungen, die später kamen, nicht gegeben hätte. Wenn Janaka der gewesen wäre, der er an diesem Abend vorgegeben hatte zu sein; wenn er seine Versprechungen gehalten hätte.

Warum? Warum war alles so gekommen? Und warum hatte sie die Gefahr nicht sofort gespürt? Warum hatte sie diesen leidvollen Weg eingeschlagen, um glücklicher zu werden? Was stimmte nicht mit ihr, dass sie auf Janaka hereingefallen war? Und warum war sie nicht sofort gegangen, als sie gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, dass sie in Pavitra Nagar immer unglücklicher wurde, statt glücklicher, dass sie immer mehr von sich aufgab, statt mehr zu sich zu finden?

Dicke Tränen liefen über Meeras Wangen. Sie schluchzte und weinte laut. Sie hatte so viel verloren. So viel. Würde sie das jemals akzeptieren können? Würde sie irgendwann ein anderes Leben mit derselben Freude und Begeisterung annehmen können? Würde je ein anderes Leben die gleiche Tiefe und Sinnhaftigkeit haben, die der spirituelle Weg mit Janaka für sie gehabt hatte? Würde sie noch einmal auf dieselbe Weise lieben?

Die Traurigkeit wollte einfach nicht von ihr weichen, die Tränen nicht versiegen. Meera wusste, dass sie in so einem Moment Hilfe brauchte. Allein würde sie es tagelang nicht aus dem Tief heraus schaffen. Ohne zu wissen wie spät es in Deutschland war, rief sie Franka, ihre Therapeutin, mit dem Handy an. Es klingelte nur zwei Mal, dann sah sie Frankas Gesicht, und Franka sah sie, wie sie tränenüberströmt zu sprechen versuchte.

„Meera. Ich bin jetzt bei dir. Nimm dir ein bisschen Zeit, und dann erklärst du mir, was diese Traurigkeit ausgelöst hat.“ Franka war vollkommen ruhig. Bereits ihre ersten Worte brachten die nötige Distanz zwischen Meera und die unkontrollierbaren Gefühle. Jetzt nahm Meera sie nicht mehr als etwas wahr, das sie ewig gefangen halten würde, sondern als etwas Vergängliches, das kam und ging. Sie brauchte einige Minuten und zwei Taschentücher, bevor sie sprechen konnte.

„Es ist so schön hier, Franka“, sagte sie von einigen Schluchzern unterbrochen. „Ich fühle mich jeden Tag besser. Manchmal sogar glücklich. Heute habe ich mit dem Chefkoch gekocht. Wir verstehen uns gut. Vom ersten Moment an. Doch immer, wenn ich glücklich bin, kommt alles wieder hoch. Heute war es der Tag, an dem ich Janaka kennengelernt habe. Ich weiß noch genau, wie fasziniert und berührt ich von ihm war, wie tiefgründig alles auf mich wirkte, wie heilig. Diese starken Gefühle damals waren wie Liebe auf den ersten Blick. Wahre Liebe. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich noch einmal etwas Ähnliches erleben werde, oder dass ich jemals mit etwas anderem zufrieden sein kann.“

Dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal. Franka war trotzdem sehr geduldig und mitfühlend. „Denk nicht an die Zukunft, Meera. Was ist jetzt? Welche Gefühle nimmst du jetzt wahr? Was ist deine aktuelle Realität?“

„Jetzt bin ich traurig. Verzweifelt. Verletzt. Enttäuscht. Ohne Hoffnung.“

„Hoffnung richtet sich auf die Zukunft. Bleib in diesem Moment. Sieh dich um. Was siehst du?“

„Ich sehe ein wunderbares Mandala an der Wand. Einen riesigen Fernseher an der Wand. Wenn ich aus dem Fenster sehe, das Meer.“

„Gut. Jetzt ist alles in Ordnung. Spürst du das?“

„Es fällt mir so schwer, die Vergangenheit nicht in das Jetzt mit einzubeziehen.“

„Das ist normal. Nur so kannst du heilen. Die leidvollen Gefühle sind alt, aber sie vermischen sich mit dem, was jetzt ist. Das ist das Wichtigste, das du begreifen musst. Dann erkennst du, wenn Aktuelles, Altes triggert. Das Gefühl glücklich zu sein, ist für dich mit Schmerz verbunden. Kannst du die beiden Empfindungen jetzt unterscheiden?“

Meera hatte den Faden verloren. „Welche?“

„Das alte Leid und das aktuelle Glück.“

Meera fühlte in sich hinein. „Das alte Leid. Ja. Das aktuelle Glück? Ja. Aber da ist noch etwas, das das aktuelle Glück mit dem alten Glück vergleicht und mir zeigt, dass es nicht dasselbe ist.“

„Sehr gut. Was unterscheidet das alte vom jetzigen Glück?“

„Ich weiß nicht. Das jetzige Glück ist leiser, dezenter, unspektakulärer. Es kommt mir deshalb weniger vor. Nicht so gut. Nicht so glücklich. Nur halb so intensiv.“

„Sehr gut, Meera. Kann es sein, dass du damals Euphorie mit Glück verwechselt hast?“

Meera spürte wieder in sich hinein; versuchte, beide Empfindungen miteinander zu vergleichen.

„Was unterscheidet Euphorie von Glück?“ fragte sie Franka, die nicht lange überlegen musste.

„Euphorie ist ein übersteigertes Glücksgefühl, eine Hochstimmung, die einen vollkommen beflügelt und glauben lässt, dass man das gefunden hat, was man immer gesucht hat; dass nichts unmöglich ist. Euphorie ist wie ein Rausch, der alte Grenzen und Hemmungen sprengt, auf den aber fast immer eine Katerstimmung folgt.“

„Ja. Das könnte sein.“

„Fühlst du das? Fühlst du den Unterschied?“

Meera nickte konzentriert mit geschlossenen Augen.

„Kannst du dir erklären, warum du damals so euphorisch auf Janaka reagiert hast?“

Meera versuchte ihre Gefühle zu erinnern und zu erfassen. „Nein, das kann ich nicht. Sobald ich das will, löst sich das Gefühl auf, und ich bin ganz raus.“

„Okay. Kannst du dich mehr auf das leise, stille Glück in diesem Moment konzentrieren als auf die alte Euphorie?“

Meera nickte.

„Dann nimm es wahr. Wie es dich ausfüllt. Dich durchdringt.“

„Dann steigt sofort die Angst auf, es wieder zu verlieren.“

„So wie du die Euphorie wieder verloren hast?“

„Ja. Genauso.“

„Ist die Angst ein Jetzt-Gefühl oder ein Zukunftsgefühl?“

„Ein Zukunftsgefühl.“

„Sehr gut. Was ist jetzt, Meera?“

„Jetzt fühle ich mich wohl und glücklich. Jetzt bin ich auch ruhig. Bei mir.“

„Gut. Nimm das weiter wahr. Verbinde dich damit. Kannst du noch ein bisschen mehr davon zulassen?“

„Ein bisschen. Sonst werde ich wieder müde.“

„Das ist gut. Lass noch ein bisschen zu. Wenn du müde bist, schläfst du. Die Müdigkeit wird vorbei sein, wenn die Energie erschöpft ist, die dich schützt. Vertraue der Müdigkeit und dem Glück.“

Das sanfte Glück schien Meera einzuhüllen wie eine warme, weiche Decke. Franka ließ ihr alle Zeit, die sie brauchte.

„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Franka.“

„Wofür?“

„Dafür, dass du da bist, wenn es wichtig ist.“

„Nichts lieber als das. Kann ich dich jetzt wieder alleine lassen?“

„Ja, das kannst du. Wenn du Mama siehst, sag ihr, ich schicke ihr einen Kuss.“

„Das mache ich. Ciao, Meera.“

„Danke nochmal. Ciao.“

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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