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TIMM

Mit Ehrgeiz und Willenskraft schaffte Timm den ständigen Spagat zwischen Schule und Musik, zwischen Pflicht und Leidenschaft.

„Bist du sicher, dass du dir nicht zu viel zumutest?“, fragte sein Vater eines Abends beim gemeinsamen Essen, weniger besorgt, als fürsorglich.

„Ach, Papa. Es ist schon manchmal viel, aber es geht schon. Ich will das schaffen, und ich kann das schaffen.“

„Es wäre auch okay, wenn du noch ein Jahr länger zur Schule gingst.“

„Waas?“ Timm war empört. „Auf gar keinen Fall! Ich will so schnell da raus wie möglich. Ich habe schon so viele Jahre das Gefühl, dass ich da eigentlich nicht hingehöre.“

„Wie meinst du das?“, horchte seine Mutter auf.

„Ach weißt du, die meisten Leute in der Schule kennen nichts als Lernen, Sport, Freunde und Ausgehen. Das hat mich alles nie interessiert. Ich fühle mich manchmal wie ein Alien.“

„Aber du hast doch auch Freunde und deine Petra!“, warf seine Mutter erschüttert ein.

„Ja, und das ist gut so. Ich sag ja nur, dass ich mit den anderen und deren Interessen wenig anfangen kann. Mit Mattes und DJ Frank hab ich mehr zu reden, als mit Jörg, den ich schon seit dem Kindergarten kenne.“

Timms Mutter wirkte traurig nach seinen ehrlichen Worten. Er fühlte sich mit einem Mal schlecht, weil er sie unnötig in Sorge versetzt hatte. Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass sich seine Aussage für eine Mutter fürchterlich anhören musste. Für ihn war es völlig normal, sich anders zu fühlen. Es machte ihm nichts mehr aus, denn er wusste ja, wohin er gehörte.

„Ach, Mama. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin okay. Ich mache das, was ich liebe und kriege so viel Liebe zurück. Du kannst dir das nicht vorstellen, wie das ist, wenn die ganze Halle zu deiner Musik tanzt… Ich wollte, jeder könnte das erleben, das fühlen.“

„Wir sind wahrscheinlich zu alt für diese Art von Musik“, versuchte sein Vater sich zu erklären.

„Für mich wäre das nichts. Das ist mir alles viel zu laut und viel zu monoton“, legte auch seine Mutter nach.

Timm lachte laut und die bedrückte Stimmung löste sich augenblicklich auf.

„Willst du denn nach dem Abi nur noch Musik machen?“, fragte sein Vater vorsichtig. Timm spürte, dass er auf jeden Fall vermeiden wollte, Druck auf ihn auszuüben.

„Nein! Auf gar keinen Fall. Ich habe an Soziologie oder Psychologie gedacht.“

Natürlich entging Timm die Erleichterung seiner Eltern nicht.

„Wie kommst du gerade auf diese Fächer?“

„Nun. Irgendetwas fasziniert mich total an dem, was ich gerade erlebe und auf jedem Rave, auf jeder-Party sehe. Dieses Gruppengefühl, dieses Gefühl, eine große Familie zu sein. Ich würde gerne wissen, woher das kommt und warum man das nicht überall empfindet. Ich meine, ich glaube, eigentlich suchen alle danach, aber es lässt sich nicht überall finden. Warum nicht? Und wieso ist es dann plötzlich einfach da!“

Timms Eltern blickten sich staunend an. Es dauerte eine Weile, bis sein Vater die Sprache wiederfand. „Du weißt, dass wir dich immer unterstützen, Timmy.“

Jörg hatte Timm eingeladen, mal wieder bei ihm zu kickern, und obwohl Timm keine rechte Lust gehabt hatte, hatte er zugesagt – um der alten Zeiten willen. Jörg wirkte total aufgedreht und benahm sich irgendwie eigenartig. Er redete viel zu viel und haute Luftlöcher, statt den Ball zu treffen. Irgendwann hatte Timm genug von Jörgs eigenartigem Verhalten, und er sprach ihn direkt darauf an. „Sag mal, Jörg, was ist eigentlich mit dir los? Erst lädst du mich seit ewigen Zeiten mal wieder ein, dann rennst du herum wie ein aufgescheuchtes Huhn und triffst keinen Ball. Das macht echt keinen Spaß!“

„Sorry, Timmy. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich…, ich...“

„Raus mit der Sprache, sonst geh ich auf der Stelle.“

„Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht zwei Freikarten für deinen Samstags-Rave besorgen könntest?“

„Du lädst mich ein, weil du Karten von mir willst? Wir sind Freunde, Mann!“

Jörgs Blick wurde ernst und traurig. „Sind wir das noch, Timmy? Wir waren Freunde und haben echt viel geteilt. Aber jetzt? Jetzt gibt es für dich nur noch Musik und diese ganzen DJs, den Technostore, die Raves und Festivals… Alle kennen dich. Ich verstehe ja, dass ich für dich nicht mehr interessant bin.“

Timm setzte sich auf das durchgewetzte Sofa, das in Jörgs Kickergarage stand. Die Worte seines alten Freundes taten weh. Nicht, weil sie ungerecht waren, sondern, weil sie wahr waren. Das musste er erst einmal verdauen. Dass Jörg sich so fühlte, tat ihm unsagbar leid. „Mensch, Jörg, warum sagst du denn nichts?“

„Wann denn? Und warum denn? Wir können doch nichts daran ändern, dass wir nicht mehr dieselben sind. In deiner Liga kann ich einfach nicht mitspielen.“

„Das ist doch kompletter Schwachsinn! Petzi ist doch auch immer dabei. Du könntest jedes Wochenende mitfeiern.“

„Wie dein Groupie? Nein danke. Du stehst doch nur hinter diesem verdammten DJ-Pult und legst auf. Ich weiß gar nicht, wann ich dich das letzte Mal hab´ tanzen sehen.“

Timm schwieg traurig. Jörg hatte recht. Sie hatten sich auseinandergelebt. Konnte er diese Freundschaft noch reparieren? „Pass auf! Ich hab´ eine Idee. Wir gehen Freitag zusammen tanzen. Du und ich und sonst keiner. Ich zeig dir den neuesten Club in der Stadt, und wenn es dir gefällt, dann machen wir das öfter.“

So richtige Erleichterung wollte jedoch bei beiden alten Freunden nicht aufkommen. Irgendwie ahnten sie, dass Timms Welt nicht Jörgs Welt war, und dass es keinen Sinn hatte, zusammenbringen zu wollen, was nicht zusammen gehörte.

Vor dem Eingang des Tower Clubs im Bankenviertel traute Timm am Freitagabend seinen Augen kaum. Jörg trug einen viel zu engen Papieroverall und orangefarbene Gummistiefel. Dazu eine rosafarbene Sonnenbrille.

„Was ist das denn für ein schräges Outfit?“, fragte Timm gerade heraus.

„Hab ich mir extra gekauft. So was trägt man doch bei euch, oder?“

„Äh, ja, nein. Ach, ist doch egal. Jeder kann tragen, was er will.“

„Hör mal, wenn ich dir peinlich bin, dann lassen wir das.“

„Spinnst du, Jörg. Du bist mir doch nicht peinlich. Jetzt hör´ mit dieser blöden „ich spiele nicht in deiner Liga“-Nummer auf. Wir sind als Freunde hier, um Spaß zu haben. Verstanden?“

Jörg wirkte erleichtert, als er spürte, dass Timm meinte, was er sagte. „Also los, rein ins Getümmel.“

„Rein ins Getümmel.“

Der Türsteher in der 25. Etage des Bürogebäudes kannte Timm und winkte beide durch; nicht ohne Jörg einen geringschätzigen Blick zuzuwerfen. Timm entging der Blick nicht, und er spürte den dringenden Impuls, seinen Freund zu beschützen. „Komm, lass uns direkt tanzen.“ Timm zog Jörg am Papierärmel hinter sich her auf die Tanzfläche, hinaus aus der Schusslinie.

Die durchdringenden Technobeats trafen sie im ersten Moment wie elektrische Schläge, unsichtbaren Peitschen gleich, die körperlich weh taten, solange man sich nicht auf sie einstimmte, die aber die Kraft hatten, einen zu bewegen, wenn man begann, sie zu fühlen und gleichzeitig loszulassen.

Jörg stapfte steif wie ein Tanzbär von einem Fuß auf den anderen. „So wird das nie was“, dachte Timm. Also drängte er seinen Freund wieder durch die tanzende Menge in eine Ecke, die sie vor den Blicken anderer schützte. „Hier! Wir nehmen jetzt jeder eine.“

Die gelben Pillen sahen aus wie Brausebonbons. „Sind das Drogen, Timm?“

„Ja, das sind Drogen. Die nimmt hier jeder.“

„Du etwa auch?“

„Nur, wenn ich nicht auflege.“

„Ich weiß nicht...“

„Komm schon, die sind harmlos. Morgen hast du nicht einmal Kopfschmerzen. Du trinkst doch auch Alkohol.“

„Das ist doch was anderes.“

„Ist es nicht. Komm. Auf drei. Eins, zwei, drei...“

Sie schluckten beide die Pille und kämpften sich zurück auf die Tanzfläche. Es dauerte eine Weile, bis die Musik sie einfing und die Ecstasy zu wirken begann. Timm beobachtete sehr genau, wie Jörg von Minute zu Minute lockerer und freier wurde. Endlich fühlte auch Timm sich besser.

Binnen weniger Minuten begann er, die Musik auf ganz andere Weise wahrzunehmen. Er sah sie mit einem Mal mehr, als dass er sie fühlte. Sie erschien ihm wie Fäden aus Energie, die ein eigenartiges, vielfarbiges Netz auf die Tanzfläche warfen. Die Töne wirkten Laserpointern gleich, deren verschiedene Farben verschiedene Bewegungen erzeugten. Manche Töne kitzelten, manche schmerzten ein wenig. Doch vor allem fühlte Timm, dass sie ihn mit Energie aufluden; mit Energie, die ihn veränderte, die ihn dehnbarer und beweglicher machte und ihn aus der Enge seines kleinen Ichs befreite. Sein Körper bewegte sich schneller als eigentlich möglich. Die Wellen der Elektroklänge erfassten langsam auch Jörg. Er wirbelte gelenkig herum, statt wie zuvor tapsig von einem Bein auf das andere zu stapfen.

Sie tanzten die halbe Nacht, berauscht von den Klängen, der Wirkung der Pille und der tanzenden Menge, die sie umgab. „Wie ein Wesen“, dachte Timm immer wieder, und zum ersten Mal erinnerte er sich wieder an den Traum vom Fischschwarm, den er nach seiner ersten Ecstasy geträumt hatte. Für einen Moment wusste er heute nicht, ob er ein einzelner Fisch oder der ganze Schwarm war, oder etwas anderes, viel Größeres, Unsichtbares, das den Schwarm zusammenhielt und seinen wunderschönen Tanz dirigierte. Timm fühlte sich nicht nur anders, er nahm auch ganz anders wahr. Diese andere Wahrnehmung schien viel besser, viel richtiger, viel wahrer, als die gewohnte Art, die Dinge zu sehen.

Schon am nächsten Nachmittag legte Timm selber wieder in der Ravehalle im Casellahafen auf. Um vierzehn Uhr war die Halle nur halb voll, aber sie würde sich innerhalb der nächsten Stunde bis zum Bersten füllen. Timm spürte keine Müdigkeit, obwohl er erst um vier Uhr ins Bett gefallen war. Sein rechter Fuß schmerzte ein bisschen. Er musste beim Hüpfen umgeknickt sein. Und er hatte furchtbaren Durst und trank alle paar Minuten ein großes Glas Wasser. Sonst war er hellwach, sehr aufmerksam und vollkommen eins mit der Musik. Er wusste genau, welche Tracks er spielen würde, wie er die Übergänge gestalten und der Sound am Ende klingen würde.

Heute blickte er aus einer anderen Perspektive auf die tanzende Menge als gestern; nicht als ein integraler Teil, sondern als deren externer Beweger. Ja, so eigenartig dieses Wort wirkte, genauso fühlte es sich für ihn an. Er bewegte die Masse, den Fischschwarm, wie eine Marionette, die an elektronischen Klangfäden hing. Fast hatte Timm den Eindruck, als wüsste er genau, mit welchem Sound er welche Bewegung der Menge erzeugen konnte. Und mit einem Mal überkam ihn ein Gefühl der Macht. Er war mit der Musik, die er spielte, in der Lage, das Verhalten der ganzen Masse zu beeinflussen. Auch dieses Machtgefühl löste einen seltsamen Rausch in ihm aus. Anders als dem Rausch durch Ecstasy, Musik und Tanz, haftete diesem Machtrausch aber eine kaum wahrnehmbare, intuitive Warnung vor Gefahr an. Timms Brust schnürte sich für einen Nano-Augenblick zusammen. Doch das Machtgefühl war zu stark und zu gut, als dass ein vages Ziehen in der Brust ihn davon hätte abhalten können, es voll und ganz zuzulassen und zu genießen. Dies war sein Moment, dachte er, sein Lohn.

Vier Stunden später, Timm packte gerade seine Platten ein, tauchte Mattes neben ihm auf. „Hey, Mann. Das war großartig. So gut warst du noch nie.“

„Irgendwas war anders heute, ja.“

„Du hast den Leuten wirklich etwas gegeben.“

„Meinst du?“

„Mensch, Timm. Du weißt gar nicht, wie gut du bist. Die Leute haben alles vergessen, haben alles hinter sich gelassen, was vor der Tür auf sie wartet. Sie waren total im Jetzt, in der Musik. Das ist echte Magie. Das macht dir so schnell keiner nach.“

Jetzt, im Gespräch mit Mattes, erschien Timm das Gefühl der Macht, das er eben noch genossen hatte, wie eine Art Größenwahn. „Ich hab doch gar nichts gemacht.“

„Nichts gemacht? Du hast den Leuten Freiheit geschenkt, Glück, Lebensfreude. Das ist doch nicht nichts.“

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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