Читать книгу Naranari - Mehr als Glückseligkeit - Daniela Jodorf - Страница 6

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MEERA

Die saftig grüne, tropische Landschaft flog mit der gemächlichen Geschwindigkeit des alten rostigen Taxis an Meera vorüber. Sie konnte kaum fassen, dass sie endlich hier war. Wie viele Jahre hatte sie von Goa geträumt. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, hier mit Janaka herzukommen, sich von ihm alle Orte zeigen zu lassen, die ihn berührt und inspiriert hatten; die Orte, an denen er erwacht war, die ihm seinen Weg und seine Mission enthüllt hatten. Nun war sie hier, doch der Sitz neben ihr leer. Tränen rollten über ihre Wangen, als sie sich sein schönes Gesicht vorstellte. Er fehlte ihr so.

Das Taxi wurde im Laufe der Fahrt immer schneller, als hätte es sich erst vom Rost befreien müssen. Inzwischen düste der Fahrer hastig und eckig um die Kurven. Meera sah angestrengt und konzentriert aus dem Frontfenster, um die Übelkeit zu bekämpfen. Trotz der wunderschönen Umgebung wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück zu Janaka und seinen bunten, ausgeschmückten Erzählungen von seiner Zeit in Indien.

In ihr regte sich unendliche Traurigkeit. Sie hätte ständig weinen können. Um Janaka, der so tief gefallen war. Und auch um sich, weil sie geglaubt hatte, alles gefunden zu haben, wonach sie sich gesehnt hatte, nur um am Ende alles wieder zu verlieren. Der Schmerz saß tief und schien unheilbar. Sie war unerträglich verletzt, furchtbar verstört und verwundet. Sich das einzugestehen, war ihr so schwer gefallen, dass sie mehr als zehn Jahre dafür gebraucht hatte. Jahre, in denen sie sich täglich eingeredet hatte, dass alles in Ordnung war, obwohl gar nichts in Ordnung gewesen war.

Sie mahnte sich zur Disziplin. Wenn sie einigermaßen heil in ihrem Hotel ankommen wollte, dann durfte sie jetzt nicht darüber nachdenken. Sie musste sich konzentrieren. Auf das Hier und das Jetzt. Jetzt saß sie in einem Taxi in Goa und schwitzte. Jetzt freute sie sich auf Ferien am Strand. Jetzt schien die Sonne. Jetzt spürte sie Durst. Es gelang ihr, die Vergangenheit auszublenden, sie rigoros auszuschließen aus ihrem Erleben.

Der Fahrer deutete auf einen Tempel und rief begeistert: „Shiva Temple, Madame. Sehr heilig.“

Er konnte nicht wissen, dass sie auch das an Janaka erinnerte, wie eigentlich alles die schmerzlich geliebten Erinnerungen hochspülte. Hatte sie überhaupt ein Leben ohne ihn, fragte sie sich verzweifelt und ein bisschen wütend. Würde sie jemals wieder ein Leben ohne ihn haben?

Der Fahrer wartete offenbar auf ihre Reaktion, denn er starrte sie im Rückspiegel erwartungsvoll an. Sie nickte freundlich. „Ja, ich kenne Shiva. Sehr, sehr heilig“, antwortete sie, und endlich blickte der Fahrer wieder auf die holprige Straße vor ihnen, die in Richtung Ashvem Beach im nördlichen Teil Goas führte. Er konnte nicht wissen, wie verbunden sie mit Shiva war, was er ihr bedeutete, obwohl sie Deutsche war. Auch Shiva verband sie mit Janaka, mit ihrem geliebten Lehrer, der ihr alles, was sie über die geistige Welt wusste, beigebracht hatte. Der ihr vor allem zuerst das Vertrauen in die Existenz der geistigen Welt gegeben hatte. Sollte das alles Illusion gewesen sein? Sie konnte und wollte das nicht glauben. Was war überhaupt noch wahr in einer Welt, in der die Menschen nicht das waren, was sie zu sein vorgaben? Was war wirklich, in einer Welt, in der man dem, den man am meisten liebte, nicht vertrauen konnte? Wieder begannen ihre Tränen zu fließen und diesmal ließ sie es geschehen.

„Traurig, Madame?“, fragte der Fahrer mitfühlend und starrte wieder nur in den Rückspiegel, statt die Straße im Blick zu behalten.

„Nein, sehr glücklich“, log sie, um ihn dazu zu bewegen, nach vorne zu sehen. „Ich wollte schon so lange herkommen.“

Der Fahrer freute sich und lachte. „Goa sein beste Platz von India! Alles hier: Meer, Strand, Kultur, Musik, Party, Yoga, Tempel, Gewürze, Ayurveda… Alles.“

Sie nickte wieder und war froh, dass er ihre Gedanken nicht hörte. „Ja, alles ist hier, aber nicht das, was ich mir am sehnlichsten wünsche.“

Der Taxifahrer spürte, dass er sie nicht aufmuntern konnte und schwieg den Rest der Fahrt. Sie fuhren jetzt auf kleineren Landstraßen kreuz und quer durch Palmenhaine, kleine Siedlungen, vorbei an einer schneeweißen christlichen Kapelle, über Brücken und Flüsse. Goa war so schön. Meera atmete tief durch, als sie ein überraschender Hoffnungsschimmer mitriss.

„Vielleicht finde ich hier doch die Erlösung, die ich suche“, dachte sie. „Aber was, wenn nicht“, durchfuhr sie gleich wieder der alte, grauenvolle Schrecken. Was, wenn sie keinen Weg fand, mit dem Schmerz und der Enttäuschung, die sich tief in ihr Herz gegraben hatten, zu leben? Was, wenn sie keinen Weg fand, mit ihrer eigenen Vergangenheit zu leben?

Nach etwa eineinhalb Stunden bog der Fahrer in der ihm eigenen zackigen Weise in eine von hohen Kokospalmen gesäumte, enge Straße ein. Er deutete nach vorne auf ein schwarzes Eisentor, das von einem bewaffneten Mann und einem schlafenden, beigefarbenen Hund bewacht wurde.

„Hotel Cozy Yoga, Madame! Sehen Sie. Sie haben geschafft Reise und jetzt an Ihre Ziel!“

Wie schön wäre es, wenn sie ihre Reise wirklich endlich geschafft, wenn sie ihr Ziel erreicht hätte. Sie war jetzt Mitte Dreißig und von sich selbst und der Verwirklichung ihrer Ziele vielleicht so weit entfernt wie niemals zuvor. Einst hatte sie gehofft, dass Janaka sie zu ihrer Berufung führen würde, dass er ihr zumindest helfen würde, sie zu entdecken. Aber es war alles ganz anders gekommen.

Das Tor öffnete sich automatisch, nachdem der Fahrer dem Wächter ihren Namen genannt hatte. Der lächelte sie an und nickte freundlich, als ihr Taxi in Schritttempo an ihm vorbeifuhr. Der Hund würdigte sie keines Blickes. Er schlief ungerührt tief und fest in der schwülen Hitze des indischen Nachmittags.

Sie folgten weiter der schmalen, palmengesäumten Straße, bis sie ein zweistöckiges Gebäude in satten Erdtönen erreichten, das über und über mit blühenden Ranken bewachsen war. Schon als Meera die Wagentür öffnete, stieg ihr der betörende, süßliche Duft von Frangipani-Blüten in die Nase. Automatisch atmete sie tief ein und spürte, wie sich etwas in ihr entspannte und zur Ruhe kam, das in den letzten fünfzehn Jahren immer rastlos und angespannt gewesen war.

Der Fahrer hatte bereits ihr Gepäck ausgeladen und es an einen eilig herbeigeeilten Porter übergeben, der geduldig auf sie wartete, während sie das Taxi bezahlte und dem Fahrer ungewöhnlich freundlich alles Gute wünschte. Vielleicht hatte er ja doch einen sechsten Sinn und sie war wirklich am Ziel ihrer Reise. Jetzt, als sie hier vor dem Hoteleingang stand, auf der Schwelle zu einem neuen Kapitel ihres Lebens, fühlte sie jedenfalls etwas, das sie lange nicht empfunden hatte: das Gefühl, sich endlich nicht mehr schützen zu müssen. Fast hätte sie wieder geweint, doch der Porter blickte sie auffordernd an. Er wartete darauf, sie zur Rezeption zu führen.

Sie folgte ihm in das Innere des zweistöckigen Gebäudes, das sie ein bisschen an eine französische Villa erinnerte. Die Fassade war aus beigefarbenen und bräunlichen Natursteinen gebaut, das Dach mit terrakottafarbenen Ziegeln gedeckt. Meera hatte Mühe, in der schattigen und angenehm kühlen Lobby etwas zu erkennen, nachdem das Sonnenlicht sie auf der ganzen Fahrt geblendet hatte. Zuerst hörte sie deshalb das laute Kreischen und Plappern eines munteren Papageien. „Hallihallo. Fremde. Hallihallo.“

Meera antwortete dem Vogel lachend. „Hallihallo. Wer bist denn du?“

„Ich heiße Captain Hook. Captain Hook. Hallihallo.“

„Hallo, Captain Hook. Ich bin Meera.“

„Meera, Meera, Meerabai!“

„Du kennst Meerabai?“ fragte sie erstaunt, denn ihr Name stammte tatsächlich von der bekannten indischen Heiligen, die im sechzehnten Jahrhundert in Rajasthan gelebt hatte. Janaka hatte Meera vor Jahren so genannt. „Dieser Name ist sehr besonders“, hatte er damals nach der Einweihungszeremonie, bei der er allen neuen Sannyasins indische Namen gegeben hatte, zu ihr gesagt. „Meerabai war die vielleicht größte Bhakta, die es je gegeben hat. Ihre Liebe zu Krishna, zum Göttlichen, war so groß, dass sie jedes Hindernis und jede Gefahr überwand. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihren Geliebten, sang von ihm Tag und Nacht. Die Sehnsucht nach ihm zerriss fast ihr Herz. Dein Weg ist der Weg dieser Liebe, Meera. Doch dieser Weg ist der schwierigste von allen. Er ist wie das Balancieren auf Messers Schneide. Wenn du abrutschtst, wirst du dich schwer verletzen. Nur wenn dein Herz vollständig von der Liebe gereinigt ist, wirst du dein Ziel erreichen. Du musst den Mut haben, dich ganz und gar in der Liebe zu verlieren...“

Die warme Stimme des Concierge riss sie aus ihren Erinnerungen. „Willkommen im Cozy Yoga Resort. Captain Hook ist ein schlauer Kerl, der wirklich weiß, wer Meerabai ist. Wir singen hier oft ihre Bhajans. Manchmal singt er sogar mit oder er flötet dazu. Nicht wahr, Captain Hook?“

Wie zur Bestätigung stimmte der Papagei eine melancholische Melodie an.

„Sie sind also auf jeden Fall richtig bei uns.“ Der Concierge lachte fröhlich und sie stimmte - zurückhaltend zwar - in sein gelöstes Lachen mit ein. „Sie werden drei Wochen bleiben?“, fragte der Concierge.

„Ja. Voraussichtlich.“

„Wunderbar. Dann werden Sie sehr viel Zeit haben, sich gut bei uns zu erholen und viel von Goa zu sehen.“

„Ich habe sehr viel von Goa gehört und wollte schon lange herkommen. Jetzt bin ich endlich da.“

„Dann noch einmal ein herzliches Willkommen. Bitte füllen Sie das Anmeldeformular in aller Ruhe aus und geben es mir später zurück. Jetzt sind Sie sicher müde. Rajkumar wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Wenn irgendetwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit ist, geben Sie mir bitte sofort Bescheid. Wir finden eine Lösung.“

Im ersten Moment dachte sie, dass dieser Hotelangestellte sehr gut dressiert war und seine Rolle als zuvorkommender Freund perfekt spielte. Ihre Gefühle widersprachen. Seine Worte und Versprechungen fühlten sich echt und ehrlich an. Doch gerade diesen Gefühlen vertraute sie nicht mehr. Wie viele Worte und Versprechungen hatte sie schon für echt und aufrichtig gehalten, die doch nur leer und unaufrichtig gewesen waren.

Rajkumar führte Meera durch das Haupthaus hindurch, hinaus ins Freie, über verschlungene Wege zwischen zweistöckigen Bungalos, die wie kleine Kopien des Haupthauses aussahen, kreuz und quer durch die Anlage. Unmöglich konnte sie sich den Weg merken. Überall zwitscherten Vögel, zirpten Grillen, schwirrten Insekten. Und immer wieder erreichte sie der unvergleichliche Duft der Frangipani, die neben Hibiskus und anderen exotischen Pflanzen und Blumen auf den Wiesen und in den Beeten des paradiesischen Hotelgartens standen.

Fast fünf Minuten später hatten sie endlich ihr Zimmer im Parterre eines Bungalows direkt am Meer erreicht. Meera roch den salzigen Duft und hörte die ersten Wellen. Rajkumar öffnete die schwere, eisenbeschlagene Holztür und führte sie hinein. Er schien ihre Reaktion sehr genau zu beobachten. Meera spürte seine Neugierde. Wie viele Gäste mochte er schon auf ihre Zimmer gebracht haben? Wie oft hatte er sie wohl Staunen sehen? So, wie Meera jetzt. Die weiß gekalkten Wände waren mit erdfarbenen Mandalas bemalt. Das große Bett aus dunklem Teakholz hatte einen weißen Baldachin. Überall standen kleine Vasen mit Blumen. In einer Ecke, direkt neben dem großen Fenster, gab es einen kleinen Altar, auf dem ein Elefantengott stand.

„Das Zimmer ist wunderschön, Rajkumar. Danke.“

Der Porter lächelte glücklich. Meera spürte, dass ihre Reaktion ihn berührte und erfreute.

Rajkumar stellte ihren Koffer neben den Wandschrank und ging Richtung Fenster. „Warten Sie, bis Sie den Blick gesehen haben, Miss Meera.“

Stolz öffnete er die Tür zur Veranda, die wie ein Safarizelt mit Stoff überdacht war und zwei herrlichen Liegen mehr als ausreichend Platz bot. In etwa fünfzig Meter Entfernung sah sie den gelben Strand und das tiefblaue Meer. Ein Schauer des Wohlbefindens lief ihr durch den ganzen Körper. Wann hatte sie sich zuletzt so gefühlt? Ihr war, als sei das in einem anderen Leben gewesen. In einem Leben, an das sie sich kaum mehr erinnerte.

Rajkumar ließ die Türen zur Veranda weit geöffnet und kam zurück ins Zimmer, um ihr die wichtigsten Dinge zu erklären.

„Das ist unser Haustelefon. Über die 202 erreichen Sie die Rezeption. Hier in diesem Prospekt finden Sie alle wichtigen Informationen zu den Mahlzeiten, Yogastunden, Meditationen, Ausflügen. Alles, was wir täglich für unsere Gäste anbieten.“

Meera hatte plötzlich große Mühe zuzuhören. Ihr Kopf schien leer und schwer von Begriff. Langsam wiederholte sie: „Rezeption 202?“

„Die Nummer finden Sie auch hier in unserem Prospekt. Sie müssen sehr müde sein, nach Ihrer langen Reise, Miss Meera.“

„Ja. Das bin ich auf einmal. Ich glaube, ich lege mich direkt ein bisschen hin.“

Sie drückte Rajkumar dankbar ein paar Rupien in die Hand und schloss die Tür hinter ihm.

„Ein fremder Mensch ist aufmerksamer und fürsorglicher zu mir, als die Menschen, die mir am meisten bedeuten“, dachte sie erschüttert, nur um sofort wieder den Schmerz und die negativen Erinnerungen niederzukämpfen.

Sie trank durstig einen Schluck eiskaltes Wasser aus einer Thermoskanne, die zwischen Bett und Veranda auf einem Sideboard neben einem Wasserkocher, Tee und Instant-Kaffee bereitstand. Dann ging sie ins Bad, wusch sich Gesicht und Hände und legte sich anschließend völlig erschlagen auf das riesige, himmlische Bett, wo sie binnen Sekunden in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Zwei Stunden später wachte Meera von ihrem laut und unkontrolliert klopfenden Herzen auf. Es raste in ihrer Brust in einem wild galoppierenden, undefinierbaren Rhythmus. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Hatte sie etwa ihre Tabletten nicht genommen? Panisch sah sie auf ihr Handy, das sie zwei Mal täglich an ihre Tabletten erinnerte und stellte erschrocken fest, dass die Funktion ausgeschaltet war. Wieso hatte sie das nicht bemerkt? Meera rannte zu ihrem Handgepäck, das sie vorhin achtlos auf dem Sideboard unter dem Fernseher abgestellt hatte. Ihr Herz raste weiter ungestüm. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Gleich konnte sie die Betablocker nehmen, die es wieder in den richtigen, sanften Rhythmus bringen und die Atemnot der Angstattacke auflösen würden. Hastig schüttete sie den Inhalt ihrer Tasche auf den kühlen Steinboden vor dem Bett. In ihrem Schminketui waren die Tabletten. Sie fingerte nervös eine der kleinen Pillen aus der Aluverpackung und schluckte sie ohne Wasser. Der psychische Druck ließ sofort nach, die körperlichen Symptome jedoch nicht.

Meera ging wackelig in das Badezimmer und ließ kaltes Wasser über ihre Hände und Unterarme laufen. Anschließend klopfte sie mit einer Hand mehrfach auf die Haut unterhalb der Schlüsselbeine und sagte sich laut: „Ich bin sicher und geborgen. Ich bin sicher und geborgen. Ich bin sicher und geborgen.“

Das Klopfen und die Affirmation beruhigte sie langsam. Ihr Herz raste nicht mehr, aber es klopfte noch immer viel zu schnell. Meera wiederholte ihr Ritual drei Mal. Und endlich spürte sie, dass sie wieder tiefer und ruhiger atmen konnte. Die Lungen öffneten sich, die Blockade hatte sich gelöst. Zittrig und mit weichen Knien ging sie zurück zum Bett und legte sich auf den Rücken. Ihr Herz klopfte weiter laut und arhythmisch, aber wesentlich langsamer als zuvor. Jetzt spürte sie die Wirkung des Adrenalins in ihrem Körper. Sie fühlte sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen.

Meera wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Sie hatte es mit ihrer Therapeutin tausendfach geübt. Noch einmal klopfte sie die EFT-Punkte an den Schlüsselbeinen und sagte sich: „Ich bin geborgen und sicher“. Dann klopfte sie weitere Punkte im Gesicht, an den Handkanten und Rippen und wiederholte verschiedene Affirmationen, die sie in- und auswendig kannte. Die Enge löste sich mehr und mehr, ihr Brustraum dehnte sich weiter aus, und Meeras Herz begann, sich zu beruhigen. Zuletzt atmete sie abwechselnd durch das rechte und linke Nasenloch ein und aus. Diese alternierende Nasenatmung brachte das Nervensystem, Sympatikus und Parasympatikus, wieder in sein natürliches Gleichgewicht, das durch die Panikattacke verloren gegangen war.

Eine halbe Stunde nachdem die Angst sie aus dem Schlaf gerissen hatte, war Meera wieder ruhig. Herz und Atmung hatten sich normalisiert. Doch die Gedanken rasten noch wild hin und her, angepeitscht von Wut und Verzweiflung, von Selbsthass und dem Hass auf Janaka. Seitdem sie ihn und seine Gruppe verlassen hatte, litt sie unter dieser Angststörung. Auch eine zweijährige Therapie hatte sie nicht davon geheilt, sondern ihr nur geholfen, mit ihr zurechtzukommen. Für Meera war das nur ein weiterer Beweis dafür, dass Janaka ihr Leben noch immer bestimmte, obwohl sie ihn fast vier Jahre nicht gesehen hatte. In geistiger Form lebte er weiter mit ihr, sagte ihr noch immer, was sie glauben, tun und lassen sollte, lobte sie, tadelte sie, trieb sie an … und liebte sie.

Mühsam riss sie sich aus der Gedankenspirale, die sie immer tiefer hinab in die Traurigkeit zog. Sie hatte doch ihrer Mutter versprochen, sich zu melden, sobald sie sicher im Hotel angekommen war. Meera stand auf, stieg über den Inhalt ihrer Handtasche, der überall auf dem Boden verstreut lag und suchte auf dem Hotelprospekt nach dem WiFi-Passwort. Schnell hatte sie es gefunden und tippte es in ihr Handy ein. Wenige Sekunden später klingelte bereits das Handy ihrer Mutter in Deutschland.

„Meera, endlich. Wie geht es dir?“

„Sehr gut, Mama. Der Flug war super, die Fahrt zum Hotel total interessant und das Hotel ist ein Traum.“

„Gott sei Dank, mein Schatz. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

„Alles gut, Mama. Ich bin hier sehr gut aufgehoben. Sobald ich mich ein bisschen umgesehen habe, schicke ich dir ein paar Fotos. Vor allem von meinem bombastischen Zimmer mit Himmelbett.“

„Unbedingt. Wie spät habt ihr denn jetzt?“

„Ich habe keine Ahnung. Es wird langsam dunkel. Vielleicht so gegen sechs. Ich habe einen Riesenhunger und gehe gleich etwas essen.“

„Mach das, Schatz. Pass gut auf dich auf. Wenn etwas ist, kannst du mich jederzeit anrufen. Ich lass dich in Ruhe, damit du die Zeit ganz für dich hast.“

„Ach, Mama. Du weißt doch, wie viel mir unsere Gespräche bedeuten.“

„Ich weiß, mein Schatz. Aber du weißt auch, dass du viel zu lange viel zu wenig Freiheit und Privatsphäre hattest.“

Meera schwieg und spürte den ganzen Schmerz ihrer Mutter, die ihr Kind fast verloren hätte und dann viele Jahre hatte leiden sehen, ohne ihm helfen zu können. „Danke, Mama. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch, Meera. Bis bald...“

„Küsschen und bis bald.“

Den Tränen nahe legte Meera das Handy weg. Ihre Mutter so besorgt und so traurig zu erleben, war schlimm für sie. Nur selten wagte sie sich einzugestehen, dass sie nicht die einzige war, die in ihrer Zeit bei Janaka gelitten hatte. Wie sehr hatte sie ihre Mutter verletzt. Heute schämte Meera sich dafür. Wie blind war sie gewesen, wie egoistisch und wie dumm.

Nachdem Meera den Inhalt ihrer Tasche sortiert und wieder eingeräumt hatte, meldete sich der Hunger erneut. Sie suchte online nach der aktuellen Uhrzeit. Es war 18:30 Uhr. In einer halben Stunde öffnete das Restaurant. Ausreichend Zeit also, ihren Koffer auszupacken und etwas Leichteres, Bequemeres anzuziehen.

In einem weiten Hosenanzug mit Spaghettiträgern schlenderte Meera eine halbe Stunde später über die verschlungenen Wege durch den Hotelgarten. An jeder Wegbiegung tauchte sie in einen anderen floralen Duft ein. Mal waren es Hibiskus, mal Bougainvillea, mal einfache Geranien und immer wieder die betörenden Frangipani-Blüten.

Sie brauchte über zehn Minuten, um das Restaurant zu erreichen, das am anderen Ende des Geländes oberhalb des Strandes lag, und Meera genoss jede Minute des Weges. Es war so herrlich hier, so beruhigend und entspannend. Ihr war, als bröckele hier im Cozy Yoga Hotel Stück für Stück eine verkrustete Schutzschicht von ihr ab, die sie hart, unbeweglich und angespannt gemacht hatte. Meera wusste, dass diese Schutzschicht sie gerettet hatte. Ohne sie hätte ihre Psyche nicht überlebt, hätte sie selbst nicht überlebt. Aber sie wusste auch, dass sie nur eine Zukunft hatte, wenn sie es schaffen würde, diese Härte, diesen emotionalen Panzer, wieder abzulegen und sich dem Leben erneut zu öffnen.

Ein adrett gekleideter Kellner empfing sie am Eingang zum Restaurant, das eigentlich nur eine überdachte Terrasse war. Der Boden schien aus Ton oder Sand gestampft zu sein. Das Dach bestand aus robusten Hölzern, Stoffen und Palmblättern. An verschiedenen Tischen saßen bereits drei bis vier Personen zusammen und redeten leise.

„Möchten Sie sich zu jemandem setzten, Madame, oder lieber alleine speisen?“, fragte der Kellner in akzentfreiem Englisch.

„Ich wäre gerne allein, wenn das möglich ist.“

„Aber selbstverständlich. Kommen Sie.“ Der Kellner führte sie an einen Tisch neben einer aus Blättern geflochtenen Brüstung. „Wie gefällt Ihnen dieser Tisch? Sie können sogar das Meer sehen.“

Und tatsächlich. Rechts von sich hörte sie das Rauschen des Meeres, und als sie genauer hinsah, sah sie es sogar. „Dieser Tisch ist wunderbar. Danke.“

Der Kellner rückte ihr den Stuhl zurecht und zündete eine Eukalyptuskerze an. „Kann ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen. Wasser, Wein, Bier, Softdrinks, Mangolassi?“

„Ein Wasser und ein Lassi wären toll. Danke sehr.“

Immer mehr Gäste trafen in kleinen Gruppen ein. Die meisten waren braun gebrannt, wirkten fröhlich und erholt. Niemand schien allein hier zu sein.

Der Kellner brachte Meeras Getränke. „Wenn Sie möchten, können Sie sich direkt am Buffet bedienen. Es beginnt mit den Vorspeisen. In der Mitte finden Sie die Hauptgerichte und am Ende die Desserts. Wenn Sie noch etwas brauchen, rufen Sie mich.“

Meera nickte dankend und trank durstig einen Schluck des eiskalten Mangolassis, sobald der Kellner sich anderen Gästen zugewandt hatte, die einen Tisch suchten. Schnell füllte sich das Restaurant mit fast fünfzig Leuten. Und Meera begann, sich unwohl zu fühlen. Wieder krochen die Erinnerungen aus ihrem Unterbewusstsein hervor, nicht schnell und überwältigend, sondern leise und verführerisch. Sie dachte an die vielen, köstlichen Mahlzeiten, die sie in Janakas Ashram auf dem Boden sitzend mit den Fingern gegessen hatte. Oft hatte sie selbst in der Küche geholfen. Eine Zeit lang hatte sie sogar die Küche geleitet und stets versucht, gute, ausgewogene, vegetarisch- ayurvedische Ernährung für über hundert Bewohner auf die Teller zu zaubern. Diese Arbeit hatte sie geliebt. Bis Janaka eines Tages bemerkt hatte, mit wie viel Freude und Leidenschaft sie bei der Sache war und wie sie täglich mehr aufblühte. Er hatte sie noch am gleichen Abend zu sich in sein Apartment auf dem Ashramgelände, einem alten Gutshof im Odenwald, gerufen. Nichtsahnend war sie zu ihm gegangen, hatte sich sogar auf die Zeit mit ihm allein gefreut. Doch sein strenger Blick hatte ihr gleich verraten, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Er hatte sie nicht lange im Ungewissen gelassen. „Was bedeutet vairagya, Meera?“ hatte er sie gefragt, und sie hatte gleich gewusst, dass das eine Fangfrage war.

„Losgelöstheit, Verhaftungslosigkeit.“

„Genau. Und wie praktiziert man Verhaftungslosigkeit?“

„Indem man an nichts festhält, nichts als sein Eigentum betrachtet.“

„Richtig. Und warum praktizieren wir vairagya?“

„Weil das Leben ein stetiger Wechsel und Wandel ist und wir stets bereit sein müssen, Dinge, die uns lieb sind, loszulassen.“

„Bist du bereit, das, was dir lieb ist, loszulassen?“

„Ich glaube schon.“

„Du glaubst schon? Ist das die Antwort eines reifen spirituellen Menschen?“

Meera hatte verunsichert auf den Boden geblickt. Jetzt hatte er sie, und sie war dagegen völlig machtlos gewesen. Den Tränen nahe, wäre sie am liebsten fortgerannt.

„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, Meera. Ist das die Antwort eines reifen spirituellen Menschen?“

Meera hatte den Blick wider Willen gehoben und Janaka, in dessen Gesicht sie weder Zuneigung noch Mitgefühl erkannte, sondern nur Kälte und Verachtung, direkt angesehen.

„Nein, Guruji. Das ist die Antwort eines ängstlichen und verunsicherten Menschen.“

Meera hatte sich zur Gewohnheit gemacht, in solchen Situationen, die beinahe wöchentlich vorkamen, stets offen und ehrlich zu sein. Wenn er sie kleinmachen und demütigen wollte, war das seine Sache. Sie wollte zu sich und ihren Gefühlen stehen, auch wenn die Konsequenzen schmerzhaft waren. Sie würde nicht vorgeben, etwas oder jemand zu sein, der sie nicht war. Sie wusste genau, dass ihn das wütend machte, doch er ließ sich nichts anmerken.

„Du wirst die Chance bekommen, vairagya zu üben, Meera. Ab morgen wirst du deinen Dienst im Garten verrichten und nicht mehr in der Küche.“

Es hätte keinen Sinn gehabt, mit ihm zu diskutieren und seine Entscheidung in Frage zu stellen.

Meera hatte sich mit vor der Brust aneinandergelegten Händen verneigt und war gegangen.

„Bedeutet vairagya, dass man nichts lieben darf? Dass man nichts mit Leib und Seele und mit Herzblut tun darf?“, hatte sie sich damals traurig und verletzt gefragt. „Bedeutet Verhaftungslosigkeit, dass Freude bei dem, was man tut, schlecht ist? Dass man dann gehen muss, wenn es am schönsten ist? Das glaube ich nicht.“ Janaka selbst sprach immer davon, dass man leidenschaftlich bei der Sache sein sollte, dass man nichts nur mechanisch tun sollte, sondern stets achtsam und mit der Kraft der Seele. Warum galten diese Dinge immer nur dann, wenn er in seinem Satsang, seinem sonntäglichen Vortrag, darüber sprach? Warum galten sie nicht im Leben hier im Ashram? Warum galten sie für ihn, aber nicht für sie und die vielen anderen, die hier lebten und für die Janaka ein Lehrer und Vorbild war?

Meera wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch aus den Augen. Der Kellner sah, dass sie weinte und kam mitfühlend zu ihr. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Madame? Kann ich etwas für Sie tun?“

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu sammeln. „Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Es geht schon wieder. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert.“

„Etwas Schönes oder etwas Schlechtes?“ fragte der Kellner unschuldig.

„Das ist eine sehr gute Frage. Mal scheint es schön zu sein und mal schlecht. Auf jeden Fall ist es vorbei, und das macht mich traurig.“

„Jetzt sind Sie ja hier, und hier werden Sie viele neue, schöne Erinnerungen sammeln. Dieser Ort hat schon viele traurige Menschen glücklich gemacht.“

Meera lächelte und sah sich dabei zu, wie sie eine Hand auf ihr Herz legte. Die Reaktion des Kellners berührte sie sehr. Er ahnte gar nicht, wie sehr sie hoffte, dass seine Worte wahr wären, dass auch sie wieder glücklich sein könnte.

Mit einem Mal hatte Meera keinen Hunger mehr. Vielleicht lag es am sättigenden Lassi oder an ihren schweren Erinnerungen. Nach der langen Reise und dem anstrengenden Tag hatte sie nicht die Kraft, dem Fluchtimpuls zu widerstehen. Sie stand auf und ging am Buffet vorbei, nahm sich eine Banane, ein paar Datteln und eine Orange und verließ das Hotelrestaurant.

Zurück in ihrem Zimmer aß sie die Orange und eine Dattel, duschte endlich ausgiebig und legte sich dann erschöpft ins Bett. Kurz bevor sie einschlief, dachte sie: „Wie soll ich hier nur drei Wochen aushalten, wenn die Erinnerungen jeden Tag so stark sind. Ich dachte, ich wäre schon viel weiter in meinem Heilungsprozess.“

Meera war noch wach genug, eine Bitte an Shiva zu formulieren: „Ich brauche deine Hilfe. Bitte hilf mir. Ich brauche Heilung. Bitte heile mich.“

Noch nie hatte sie so deutlich gespürt, dass es so, wie es jetzt war, nicht weitergehen konnte.

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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