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TIMM

Die Zeit raste wie ein Hochgeschwindigkeitszug. Oftmals spürte Timm nur den Fahrtwind; so konzentriert arbeitete und lernte er. Petra beschwerte sich nie und war stets an seiner Seite. Sie lernte mit ihm, sie feierte mit ihm. Sie liebte ihn. Er spürte ihre Wärme und ihre echte, tiefe Freude darüber, mit ihm zusammen zu sein. Doch er selbst zeigte ihr nur selten echte Zuneigung, mied Momente der Zweisamkeit und Intimität. Vielleicht war er noch zu jung für das emotionale Zeug, dachte er manchmal, wenn er bemerkte, dass sie mehr brauchte, als er ihr geben konnte. Es war komisch. Petra gehörte irgendwie zu ihm und doch fühlte er keine echte Bindung zu ihr. Er wusste, dass sie diese Verbundenheit sehr wohl spürte und hätte ihr niemals absichtlich weh getan.

Je bekannter Timm wurde, desto mehr Mädels scharten sich in den ersten Reihen vor seinem DJ-Pult und versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Manchmal erschreckte es ihn, zu erleben, was Frauen alles taten, um wahrgenommen zu werden, um nur einen Blick von ihm zu erhaschen. Dabei sah er nicht einmal gut aus. Eher durchschnittlich. Er war mittelgroß, hatte mittelbraune Haare, die in großen Wellen bis auf seine Schultern fielen. Bei der Arbeit trug er meistens einen Zopf, Jeans und T-Shirt. Dadurch sah er viel eher wie ein Skater oder Surfer, als wie ein Techno-DJ aus. Für die meisten, die ihn anhimmelten, war er definitiv viel zu jung. Er selbst hatte kein Interesse am Flirten. Er fühlte sich irgendwie immun gegen jegliche Art von weiblichem Begehren. Er hatte alles, was er wollte. Zu sehr erfüllte ihn, was er tat. Und doch spürte er, dass er auch hier Macht hatte und sie – vielleicht ungewollt - ausübte. Seine Unnahbarkeit verlieh ihm diese Macht gegenüber denjenigen, die ihn begehrten. Aus welchen Gründen auch immer. Häufig scherzte er nach einem Rave mit Petzi darüber.

„Hast du die Blonde vorne an der linken Säule gesehen? Wie sie ihre Haare hin und her geschmissen hat, als wollte sie dich mit einem Lasso einfangen?“, amüsierte sich Petra, während sie gemeinsam nach Hause radelten. Sie konnte so locker darüber Witze machen, weil sie wusste, dass Timm niemals links oder rechts schaute und ihr absolut treu war.

Timm grunzte. „Ich glaube, sie hat versucht, mich zu hypnotisieren. Wie die Schlange Ka! Mir wurde schon ganz schwindelig.“

„Ja, klar. Die sind wirklich gefährlich, diese Frauen.“ Petzi kicherte.

„Ich habe keine Angst vor ihnen“, scherzte Timm. „Wenn die wüssten, wie langweilig ich bin.“

„Ja, du bist wirklich sehr langweilig. Ich sollte mir überlegen, warum ich eigentlich mit dir zusammen bin.“

„Das solltest du wirklich, Petzi. Ich arbeite dauernd, ich liebe die Musik mehr als dich. Ich brauche ständig deine Hilfe und, und, und...“

Sie lachten gemeinsam, doch irgendetwas in Timm registrierte, dass seine ironischen Worte sein Verhalten sehr genau auf den Punkt gebracht hatten.

Das zwölfte Schuljahr ging langsam zu Ende. Timm bereitete sich gemeinsam mit Mattes und seinem Freund, DJ Frank, auf den nächsten Frank Beats Rave vor, ihr Techno-Highlight jedes Sommers. Die drei hockten stundenlang in Mattes Laden und tüftelten beinahe wie besessen an neuen Tracks und feinsten Feinheiten. Das Festival würde in diesem Jahr noch mehr Raver und DJs aus der ganzen Welt anziehen und sie, als Frankfurter, wollten für ihre Stadt und ihre Fans das Allerbeste geben. Die enorme Energie, die von der Frank Beats ausging, inspirierte und beflügelte ihre Kreativität. Sie hatten das Gefühl, als ginge von Frankfurt ein Ruf in die Welt, dem tausende Techno-Fans begeistert folgten. Es war eine Ehre, ein Privileg, bei der Planung und Durchführung der Frank Beats dabei zu sein; ein Ritterschlag für jeden DJ.

Nach drei Stunden intensiver Arbeit rieb Timm sich müde die Augen. „Ich glaube, ich brauche bald eine Brille.“ Er lachte jungenhaft und ein bisschen selbstironisch.

„Ich kann dir da was Cooles besorgen...“, scherzte DJ Frank.

„Aber bitte nicht mit rosa oder gelben Gläsern, das trübt nur meinen Blick.“

„Ich hätte da was Verspiegeltes im Angebot.“

„Super. Das nehme ich.“

Mattes holte statt der Brille drei Bier aus dem stets gefüllten Kühlschrank im Hinterzimmer. „So meine Herren. Genug gearbeitet. Jetzt ist Feierabend.“

Sie stießen gemeinsam an und tranken durstig den ersten Schluck.

„Ich habe übrigens noch eine kleine Überraschung für dich, Timmy.“ Mattes blickte ihn neutral, fast nüchtern, an. Nichts an seiner Mimik verriet Timm, was er wohl meinen könnte.

„Was denn?“

„Das ist echt der Hammer, Timmy.“ Frank wusste offenbar schon Bescheid und schürte seine Neugier.

„Was denn, sagt schon!“

„Nichts Großes...“

„Nun sagt schon.“

„Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich es überhaupt erwähnen soll.“ Jetzt grinsten beide Freunde.

„Hallo. Was ist es?“

„Du könntest… Also, nur wenn du wolltest…“

„Wenn du nicht sofort mit der Sprache rausrückst, Mattes, platze ich!“

„Das wäre aber sehr schade... Weil du dann nämlich nicht in den Sommerferien auf Ibiza auflegen könntest.“

„WAS!“ Timm sprang auf. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Doch. Ist es. Das El Gallito hat angefragt, ob du im Sommer vier Wochen auflegen könntest.“

„Das El Gallito? Das glaub ich nicht. Das ist der beste, schickste Club auf Ibiza.“

„Ja. Und du bist dabei...“

„Ihr verarscht mich.“

„Nein. Hier ist die Anfrage, wenn du mir nicht glaubst.“

Mattes drückte Timm einen Vertrag in die Hand. Timm versuchte zu lesen, was dort stand, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er musste sich höllisch konzentrieren, um die einfachen englischen Sätze zu lesen und zu verstehen. Als er endlich kapiert hatte, dass er tatsächlich als Summer-DJ nach Ibiza eingeladen war, fiel er Mattes um den Hals.

„Ich fass´ es nicht. Es ist doch alles schon so genial, und jetzt wird es noch genialer.“

„Das ist erst der Anfang, Timmy“, sagte Mattes und Frank nickte begeistert, bevor er einen großen Schluck aus seiner Bierflasche nahm.

Timms Eltern zeigten sich von der Einladung nach Ibiza nicht so begeistert wie seine Freunde, aber tolerant genug, ihm diese Chance nicht zu verbauen. Sie vertrauten ihrem Sohn und vielleicht noch mehr seinem Ehrgeiz, dem sie manchmal völlig überrascht begegneten.

„Ich weiß gar nicht, von wem er das hat“, sagte Timms Vater in dem ernsten Gespräch, das er mit seiner Frau führte, um zu beraten, ob sie ihren minderjährigen Sohn wenige Monate vor seinem achtzehnten Geburtstag vier Wochen lang allein nach Ibiza lassen konnten. Am Ende hatten sie einen annehmbaren Kompromiss gefunden.

„Wir wissen, dass das ein grandioses Angebot für dich ist. Und wir wollen, dass du das machst, Timmy. Aber wir haben zwei Bedingungen. Nicht, weil wir dich irgendwie kontrollieren wollen, sondern weil wir als Eltern auch aufpassen müssen, dass es dir gut geht und dass du dich nicht übernimmst.“

Timm sah seinen Vater fragend an.

„Wir halten es für das Beste, wenn Petra dich begleitet.“

„Kein Problem. Ich hab´ sie schon gefragt. Sie ist dabei und freut sich noch mehr als ich.“

„Und du arbeitest nicht jeden Tag, sondern machst zwei Abende die Woche frei.“

„Wie das klingt: Arbeit. Die Musik ist keine Arbeit für mich. Ob ich in einer Disco stehe oder zu Hause bin, ich mache sowieso immer dasselbe: auflegen, auflegen, auflegen. Aber ich verstehe, was ihr meint. Ich hab den Vertrag zwar noch nicht im Detail gelesen, aber ich denke, so wird das sowieso sein. Kein DJ der Welt legt jede Nacht auf.“

„Dann kannst du von uns aus nach Ibiza.“

„Danke. Das ist echt cool von euch. Das wird der Sommer meines Lebens!“

Schon Tage vor Beginn des Sommer-Rave hatten Petra und Timm ihre Sachen gepackt. Je eine Tasche, ein Schlafsack und ein gemeinsames Zelt standen für die Frank Beats bereit; daneben ihre Koffer für Ibiza. Nach dem Festival würden sie keine Zeit zu packen haben. Ihr Flug ging Montagmorgen, nur wenige Stunden nach dem Ende des Techno-Events, auf dem Timm dieses Jahr gleich zwei Mal auflegen durfte.

Sie hatten ohne Ende Freikarten und einige Backstage-Pässe verschenkt. Alle, die sie kannten, sollten und wollten dabei sein. Petra hatte sich ein paar neue Outfits gekauft, nur Timm trug wie immer T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. So fühlte er sich einfach am wohlsten.

Während Petra noch das Zelt einrichtete, machte Timm sich schon auf den Weg zum Soundcheck. Die Autos und Campingbusse, die neben den Zelten parkten, kamen von überall aus Deutschland, sogar aus Frankreich und Holland. Für einen Moment konnte Timm selbst kaum glauben, dass er vor so vielen, fremden Menschen spielen würde. Doch so richtig fremd war ihm hier eigentlich niemand. Sie waren eine Gemeinschaft, die mehr verband als trennte, dachte er, bevor er die Stahltreppe zur schwarzen Bühne erklomm.

Sobald er seine Geräte angeschlossen und die vorhandenen Geräte auf seinen Synthesizer eingestellt hatte, vergaß er alles, um sich herum. Jetzt funktionierte er präzise wie ein Uhrwerk, dachte keinen unnötigen Gedanken, fühlte kein unwichtiges Gefühl. Er war vollkommen konzentriert. Jede Bewegung saß ebenso wie jeder Handgriff. Sein Gehör war so exakt geeicht wie die feinfühligste Stimmgabel. Als dann die ersten Töne erklangen, trennte ihn nichts von seiner Musik. Er sah die Leute, die später hier ekstatisch tanzen würden, die rhythmische Bewegung der Hände und Köpfe, die er von hier oben aus sehen würde, vor seinem inneren Auge. Dankbarkeit erfasste ihn. Was für ein Glück er hatte. Womit hatte er so etwas Großartiges wie das, was er tun durfte, nur verdient, fragte er sich, während er die Bässe und die Höhen professionell austestete.

Während Timm mit Mattes, DJ Frank und anderen Backstage saß und auf den Startschuss zur mehrtägigen Party wartete, fanden sich nach und nach alle Freunde bei Petra ein. Die Mädels brezelten sich mit Hilfe kleiner Handspiegel auf und die Jungs grillten für alle. Für viele von ihnen waren dies die freiesten, die ausgelassensten Momente ihres Lebens. Schule und Eltern waren weit weg. Niemand verschwendete auch nur einen Gedanken daran.

Schon lange vor dem Start des Raves, suchten sich Petra und ihre Freunde die besten Plätze in der Nähe der gigantischen Bühne. Sie war aufgeregt; aufgeregter als Timm, der als erster DJ auflegen würde.

Und dann begann das Spektakel mit einem Feuerwerk aus Licht und Nebel, mit schnellen Beats, hohen Tönen und beruhigenden Bässen. Und mit einer fantastischen Überraschung. Timm und Frank standen sich gegenüber und warfen sich die Sounds scheinbar spielerisch zu. Doch hinter all dem steckte unendliche Planung und wahnsinnige Präzisionsarbeit. Ihr Plan ging jedoch auf. Die Masse tobte bereits nach einer Minute, der Elektro-Vibe ergriff die Tänzer. Er fegte sie über den sandigen Boden der alten Kiesbaggerei. Petra kreischte euphorisch tanzend. Wieso hatte ihr Timm von seinem genialen Plan, mit Frank aufzutreten, nichts erzählt? Das Beste behielt er immer für sich, dachte sie nüchtern, mit einer leisen Spur von Enttäuschung.

Kurz darauf hatte sie den kleinen Stich ins Herz, der die Enttäuschung begleitete, schon wieder vergessen, weil sie sich von der Musik, von Timms Musik, einfangen und ganz und gar tragen ließ. Ihr Körper zappelte und bog sich, schien viel beweglicher als sonst. Diese Körperlichkeit katapultierte sie und die meisten Raver um sie herum mit aller Macht in die Gegenwart. Ungeahnte Energien wurden frei. Die Raver lösten sich in ihrem ekstatischen Gemeinschaftstanz gefühlt in eine große Ganzheit auf. Ein einmaliges und unbeschreibliches Glücksgefühl ging damit einher.

Timm beobachtete die Magie von seinem DJ-Pult aus. Hier war er zwar Teil des Erlebnisses und doch von ihm getrennt. Er selbst kannte jeden Sound, bevor er ihn spielte, bevor die anderen ihn hörten und spürten. Kurz fühlte er sich wie ein Hellsichtiger, der wusste, was passieren würde, noch bevor die anderen es ahnten. Er sah Frank grinsend an, während sie sich weiter die elektronischen Bälle zuwarfen wie ein perfekt eingespieltes Jongleur-Team. Dies war ein perfekter Moment. Ein Moment, in dem alles stimmte, die gesamte lang erarbeitete Choreographie und die Reaktion der Raver. Innen und außen waren eins in diesem idealen Moment, Wünschen, Wollen und Handeln, ebenso wie Denken und Fühlen.

Timms gemeinsamer Auftritt mit DJ Frank war zwar erst der Auftakt der Frank Beats, und doch schon der eigentliche Höhepunkt, ein unvergessliches Gipfelerlebnis, das vieles, was vorher war und einiges, was noch kommen würde, in den Schatten stellte. Selbst die folgenden zwei Tage konnten nicht mit diesem fulminanten Start mithalten, obwohl sie für Timm unvergesslich blieben.

Am frühen Samstagabend legte Timm ein weiteres Mal auf. Diesmal stand er allein auf der gigantischen Bühne vor geschätzten dreitausend Tänzern. Die Raver waren nach über vierundzwanzig Stunden Dauerparty noch immer nicht müde oder erschöpft. Timm holte die besten Tracks aus seinem Repertoire. In den vergangenen Wochen hatte er oft bis spät in die Nacht daran gefeilt. Ohne es zu bemerken, war er zu einem Perfektionisten geworden, dem gut nicht mehr gut genug war. Den Lohn dieser Akribie durfte er hier und jetzt ernten, und er genoss jede Sekunde davon. Mit Leib, Herz und Seele.

Beim Abschied am Flughafen, nach dem Check-Inn, war Timm am Montag nicht nur hundemüde, sondern so sentimental wie selten. Er umarmte seine Mutter lange und fest und drückte auch seinen Vater innig. Er hatte das Gefühl, dass dieser Abschied ein wichtiger Meilenstein für ihn war; als würde er sich zum ersten Mal in seinem Leben ein Stück von seiner Familie abnabeln. In diesem Moment war er seinen Eltern unsagbar dankbar für ihre Toleranz und Unterstützung.

„Ihr seid die Besten“, sagte er kurz, damit er nicht in Tränen ausbrach. Petras Blicken wich er gekonnt aus. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn so emotional sah.

„Genießt die Zeit auf Ibiza. Ihr seid jung, ihr seid frei.“ Timms Vater wirkte, als wollte er seine Lebensuhr am liebsten eigenhändig zurückdrehen.

„Das machen wir“, versicherten Timm und Petra im Chor. Alle umarmten und küssten sich noch einmal, dann verschwanden Timm und Petra Hand in Hand hinter der Absperrung des Sicherheitschecks.

Timms Mutter winkte ihnen noch nach, als sie schon lange außer Sichtweite waren.

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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