Читать книгу Naranari - Mehr als Glückseligkeit - Daniela Jodorf - Страница 7

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TIMM

Timm wusste nicht mehr, wann er das erste Mal begriffen hatte, dass er anders war. Es musste irgendwann in der siebten oder achten Klasse gewesen sein. Auf der jährlichen Klassenfete hatte er gerade noch ausgelassen getanzt, da dimmte der DJ das Licht und legte einen Schmuseblues auf. Jeder Junge schnappte sich ein Mädchen, und es bildeten sich im Nu eng umschlungene Paare, die sanft im Kreis wogten und kuschelten. Vorwärts, rückwärts, vor und zurück. Nur Timm stand da, wie gelähmt, unfähig sich eine Tanzpartnerin zu suchen. Er fand die Mädchen blöd, hasste die Musik, wollte weder schmusen noch knutschen. Er hätte gar nicht gewusst mit wem. Also rannte er davon. Verkroch sich auf der Toilette, bis er hörte, dass sich die Musik wieder änderte. Erst als alle wieder ausgelassen herum hopsten, wagte er sich aus seinem Versteck. Doch seine gute Stimmung war dahin. Timm fühlte sich klein, leer, mut- und kraftlos und hoffte, dass es keiner bemerken würde. Doch Petra hatte ihn schon im Visier. Sie steuerte direkt auf ihn zu, als er ins Klassenzimmer zurückkehrte.

„Hey, Timmy. Was ist mit dir? Tanzen wir gleich den nächsten Blues?“

„Nee. Ich muss heim!“

„Was? Jetzt schon? Der Spaß fängt doch gerade erst an!“

Sie kam immer näher. Er fühlte sich bedrängt. „Ich hasse Blues!“

„Warum?“

Warum, hatte er sich bereits selbst die gesamte halbe Stunde gefragt, die er allein auf der Toilette gehockt hatte. Petras Fragen waren ihm unangenehm und noch mehr ihre Distanzlosigkeit. Er fühlte sich irgendwie ertappt und wollte nichts als seine Ruhe haben. „Weiß nicht. Mag´s halt nicht“, gab er deshalb nur lakonisch von sich und blickte dabei unbeteiligt aus dem Fenster.

Ihr Blick wurde ein wenig hämisch, fast verächtlich. „Bist du etwa zu schüchtern!?“

„Ich muss jetzt wirklich nach Hause, Petra.“

Unsanft schob er sie an die Seite und rannte wie ein Gejagter aus der Tür, durch die halbe Schule und endlich hinaus ins Freie, tief verstört von seinen eigenartigen Empfindungen der Abwehr und der Scham. Warum wollte er nicht, was alle anderen toll fanden? Warum fand er es sogar so schlimm, dass er sich verstecken und weglaufen musste? Den Tränen nahe, konnte er in diesem Moment seine unsagbare Einsamkeit kaum ertragen. Ein eigenartiger Schmerz legte sich auf seine Brust, so schwer wie ein Fels, der ihm auch die Kehle zuschnürte.

„Wie, schon zu Hause?“, fragte seine Mutter, als er viel früher als erwartet heimkam.

„Ja, war doof!“

„Hast du Hunger?“

„Nee. Bin müde.“

Sie sah ihm besorgt nach, als er sich in sein Zimmer zurückzog. So wortkarg und niedergeschlagen hatte sie ihren Sohn nur selten gesehen.

Timm schmiss sich auf seine Matratze und grub sein Gesicht in das Kissen, damit niemand hörte, wie verzweifelt er weinte.

Er lag an diesem Abend lange wach und kämpfte gegen die unbeherrschbaren Gefühle, die ihn noch immer fest im Griff hatten. Erst weit nach Mitternacht fasste er, des inneren Kampfes müde, einen tiefgreifenden Entschluss. So wollte er sich nie wieder fühlen. So würde er sich nicht wieder fühlen. Er beschloss an diesem Tag, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um sich selbst vor dieser tiefen Traurigkeit und Einsamkeit zu schützen. Es war wie ein Gelübde, wie ein heiliger Schwur, den er vor sich selbst und für sich ablegte: „Nie wieder werde ich mich so fühlen. Koste es, was es wolle!“

Am nächsten Morgen ging es Timm wieder gut. Er war noch ein bisschen matt und müde, aber der Schmerz war fort, und eigenartigerweise wusste er, sobald er die Augen aufschlug, ganz genau, was er zu tun hatte. Es war alles ganz einfach; er sah es klar und deutlich vor sich.

Gleich am Wochenende fuhr er in den Technostore am Frankfurter Hauptbahnhof, in dem alle DJs der Stadt einkauften. Timm fragte die Verkäufer nach den neuesten Tracks, den aktuellen Trends und freundete sich schnell mit ihnen an. Plötzlich tauchte er in eine magische Welt ein und lernte jeden Tag etwas dazu. Er gab sein ganzes Taschengeld für Musik aus und schlachtete sein blaues Sparschwein für sein erstes, gebrauchtes DJ-Pult. Jeden neuen Track probierte er sofort aus, testete die besten Übergänge, stand täglich in seinem Zimmer hinter seinen Turntables und übte so lange, bis er jede Note und jeden Beat auswendig kannte. Und ein Jahr später, beim nächsten Klassenfest, legte er selbst auf; machte er die Musik.

Die Klasse tanzte ohne Pause zu seinen liebsten Elektro-Sounds. Plötzlich wollte keiner mehr Blues tanzen, und Timm hatte das Erlebnis vom letzten Jahr völlig vergessen. Hier und heute war er in seinem Element. Jetzt gab er den Ton an. Und er war gut, sehr gut sogar. Nichts liebte er mehr, als die Musik, die ihn elektrisierte, bewegte, beflügelte. Sie machte etwas mit ihm, veränderte ihn, und er ließ das gerne geschehen.

Spät an diesem Abend spielte er den letzten Song und beobachtete seine Mitschüler, die sich in den letzten Stunden fast in Ekstase getanzt hatten. So ausgelassen, so frei hatte er seine Freunde noch nie gesehen. Etwas war geschehen an diesem Abend, aber Timm hätte nicht sagen können, was.

Nach dem Wochenende zurück in der Schule, noch vor dem ersten Klingeln, umringte Timm ein großer Pulk von Klassenkameraden und bombardierte ihn mit Lob und Fragen.

„Was war das denn, Timm?“

„So coole Musik hab´ ich noch nie gehört.“

„Mega, was du drauf hast.“

„Ich will mehr davon.“

„Kannst du mir das aufnehmen?“

Timm wusste gar nicht, mit wem er zuerst reden, wem er zuerst antworten sollte. Der Englischlehrer, der pünktlich mit dem Gong die Klasse betrat, hielt von diesem Aufruhr gar nichts und scheuchte alle Schüler auf ihre Plätze. „Es ist ja toll, Timm, dass du deine Klassenkameraden mit dieser Elektro-Musik erfreut hast, aber heute ist Schule und nicht Klassenfete!“

Widerwillig grummelnd und schimpfend folgten alle der Aufforderung.

„Ich hoffe, deine Noten leiden nicht unter deinem musikalischen Interesse und Talent.“

Plötzlich applaudierten alle und Timm errötete.

Von jetzt auf gleich war alles anders; Timm war ein anderer. Er wusste plötzlich genau, was er mochte, was er konnte und wollte. Timm begann, für das Auflegen und durch das Auflegen zu leben. Die Musik bestimmte fortan sein Leben, war in kürzester Zeit sein Lebensinhalt geworden. Nichts interessierte ihn so sehr. Nichts ließ ihn so sehr sich selbst vergessen. Schon im Sommer legte er auf der Schulparty auf und bewegte die Masse. Tausend Schüler der Mittel- und Oberstufe tanzten zu seinen Beats und jeder, der dabei war, fühlte sich besonders und beflügelt.

Seine Eltern beobachteten Timm zuerst besorgt, doch als sie merkten, dass es ihm gut ging und seine schulischen Leistungen nicht nachließen, ließen sie ihn machen. Irgendwie waren sie sogar stolz auf ihren Sohn, sein neu entdecktes Talent, seine Disziplin und Zielstrebigkeit. Er war ein Teenager und hätte seine Zeit auch ganz anders verbringen können.

Sogar seine zwei Jahre ältere Schwester begann, sich für Timm und seine Musik zu interessieren. Sie hing oft in seinem Zimmer ab, wollte immer die neusten Stücke hören und verteilte seine Aufnahmen stolz an ihre Freunde.

Schon nach kurzer Zeit spielte Timm erste kleinere, bezahlte Gigs. Und jeden Abend wieder sah er die Menschen tanzen und eins mit seiner Musik werden. Die meisten Tänzer vergaßen alles, solange die Musik spielte; sogar oder vor allem sich selbst. Viele berichteten von einem Gefühl der Leichtigkeit und Leere. „Mein Körper hat einfach getanzt. Ich hätte ihn nicht stoppen können“, beschrieben mehrere Freunde ihre Erlebnisse auf der Tanzfläche.

Die elektronische Musik versetzte alle in einen eigenartigen Rausch. Timm fühlte sich von einem nie gekannten Flow getragen, der ihn einfach mitriss. Er hätte sich nicht gegen diesen magischen Fluss wehren können und genoss das Gefühl, dass er nichts dafür tun musste, um Neues zu entdecken und weiterzukommen. Alles ergab sich wie von selbst, jeder nächste Schritt, jede Handlung, jede Entscheidung. Leider war er erst sechzehn und durfte deshalb keine Angebote bis spät in die Nacht annehmen. Er legte hauptsächlich auf Partys von Freunden oder Schulfesten auf. Doch weil er immer in seinem geliebten Technoladen unter dem Bahnhof auf der Suche nach neuen Sachen war, knüpfte er enge und wichtige Kontakte zu den älteren Vorreitern der Frankfurter Technoszene. Manchen gab er seine Aufnahmen und immer wieder hörte er dasselbe:

„Zu dumm, dass du noch keine achtzehn bist. Deine Musik ist wirklich besonders.“

Timm bekam sein erstes Engagement auf einem Rave in einer alten Lagerhalle im Casellahafen und legte zwei Mal im Monat samstags von elf bis vierzehn Uhr auf. Die Halle war immer voll. Viele der Raver kamen tatsächlich nur wegen ihm. Manche reisten von weit her an. In kürzester Zeit war er zu einem Geheimtipp der echten Raver geworden. Wer ihn kannte, gehörte wirklich zum engsten Kreis der Frankfurter Clubszene.

Petra, mit der er seit einigen Monaten zusammen war, begleitete ihn sichtlich stolz zu fast jedem Gig. Timm selbst sah „die Sache“, wie er seine erste Beziehung nannte, wesentlich nüchterner als Petra. Sie hatte lange darum gekämpft, ihn für sich zu interessieren. Auf der letzten Klassenfahrt hatte er einfach nicht länger nein sagen können. Vielleicht verletzte seine Unnahbarkeit sie, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ebenso, wie er ihre Anhänglichkeit tolerierte. In seiner Gegenwart war sie stets fröhlich und wirkte verliebt. Timm nahm sich nicht die Zeit, sich zu fragen, ob ihm eine solch unausgeglichene Beziehung reichte, ob er vielleicht etwas ganz anderes wollte oder sogar gar keine Freundin. Wenn es morgen aus gewesen wäre zwischen ihnen, hätte es ihn wohl kaum berührt. Petra passte perfekt in sein Leben. Sie forderte nichts, außer ein wenig seiner Aufmerksamkeit und ging mit ihm, wohin er wollte.

An einem heißen Spätsommersamstag stand sie plötzlich neben seinem DJ-Pult und legte ihm drei bunte Pillen neben seine Cola. Timm trank keinen Tropfen Alkohol.

“Die musst du probieren, das ist unglaublich. Wie fliegen. Alles ist soo leicht...“

Timm sah sie skeptisch an. „Lass die Finger weg von den Drogen, Petzi. Guck dir die ganzen Leute doch an, die jedes Wochenende etwas anderes einwerfen.“

„Ach, Mensch, Timmy. Du bist ein echter Spielverderber. Du stehst hier an deinem Mischpult und liebst, was du tust. Gönn´ mir doch auch ein bisschen Spaß.“

„Drogen sind kein Spaß, und das weißt du ganz genau.“

Sie tänzelte davon, hinein in die wogende Menge, in der wahrscheinlich achtzig Prozent der Leute diese Pillen genommen hatten.

Während der nächsten zwei Stunden würdigte Timm die Pillen keines Blickes. Er brauchte kein Ecstasy, um high zu sein. Später, beim Einpacken, steckte er die Dinger achtlos in die Brusttasche seiner Jeansjacke und fuhr nach Hause, während Petra unermüdlich auch beim nächsten DJ weiter tanzte.

Nur eine Woche später waren Timm und Petra bei einer gemeinsamen Freundin eingeladen, auf deren Geburtstagsparty Timm ausnahmsweise mal nicht auflegte. Susanne konnte, wie so viele, mit Techno gar nichts anfangen. Sie liebte Independent und Rock und hatte deshalb einen anderen Freund gebeten, die Musik zu machen. Timm hatte sich erst vor der Party drücken wollen, hatte das dann aber doch nicht übers Herz gebracht. Jetzt stand er mit Petra in einer Ecke und fühlte sich irgendwie unwohl. Die Musik langweilte ihn zu Tode. Er hatte weder Bock zu reden, noch zu tanzen. Das hier war gar nicht seine Welt, und er spürte das mit jeder Faser seines Körpers. Doch er wollte Susanne und Petra auf keinen Fall enttäuschen. Es bedeutete ihnen viel, dass er hier war. Die paar Stunden würde er ihnen zuliebe schon durchhalten.

Petra hatte immer und überall Spaß. Das war vielleicht ihre größte Stärke, die er ganz besonders an ihr schätzte. Sie zerrte ihn kurze Zeit später fröhlich hopsend auf die enge Tanzfläche. Sie musste einfach tanzen, wenn sie Musik hörte, egal, welche. Wie anders war er doch, dachte Timm. Für ihn gab es nur noch Techno. Jede andere Musik erschien ihm furchtbar. Er gab sich Mühe, seine wahren Gefühle zu verbergen, fühlte sich aber gerade deshalb auf der Tanzfläche wie ein schwerer, steifer Betonklotz. Nach drei Liedern zog er sich wieder einmal auf die Toilette zurück. Dort kämpfte er tapfer gegen die Abwärtsspirale der negativen Stimmung. Er versuchte, sich mental zu motivieren, den Abend durchzuhalten, als er sich unvermittelt an die Pillen in seiner Jackentasche erinnerte. Vielleicht sollte er doch einmal eine probieren? Er kämpfte nicht lange mit sich, denn er erinnerte sich an seinen Schwur. Koste es, was es wolle… Mit einem Schluck Leitungswasser spülte er eine grüne Pille hinunter.

Zurück bei Petra fühlte er sich bereits entspannter, dem Geschehen um sich herum und seinen eigenen Reaktionen und Emotionen weniger ausgeliefert. Eine halbe Stunde später spürte er den Rhythmus der Musik in seinem ganzen Körper so deutlich wie seinen eigenen Herzschlag und ließ sich einfach von ihm bewegen. Mit einem Mal spielte es gar keine Rolle mehr, ob er Indie oder Techno hörte. Er fühlte die Musik in sich, und er liebte es. Petra sah ihn fragend an. So kannte sie Timm gar nicht. War er endlich aufgetaut, fragte sie sich. Timm tanzte und tanzte, zu jedem Song, zu jedem Beat, völlig frei und losgelöst. Die Abwehr, die Beklemmung und die Hemmung von vorhin waren gänzlich vergessen. Stattdessen breitete sich ein seltsames Gefühl des entspannten Glückes in ihm aus. Je mehr er tanzte, desto stärker wurde dieses Glücksgefühl, das fast seine Liebe zum Techno in den Schatten stellte.

Timm und Petra verließen die Party als Letzte und fuhren mit dem Fahrrad zu Timm nach Hause. Vor der Haustür hielt Petra ihn fest und sah ihm tief in die Augen. „Mal ehrlich, Timmy. Hast du eine von den Pillen genommen?“

„Nur eine.“

„Ist das nicht ein irres Gefühl?“

„ Ich hab´s mir nicht so befreiend vorgestellt.“

Petra küsste ihn leidenschaftlich. Fast hatte er das Gefühl, als liebe sie ihn dafür, dass er eine Ecstasy genommen hatte, noch mehr. „Willkommen im Club“, sagte sie grinsend, während er sich über diese Logik wunderte.

Obwohl die Wirkung der Pille längst nachgelassen haben musste, träumte Timm in dieser Nacht einen eigenartigen Traum. Er sah sich an seinem DJ-Pult vor Tausenden von Leuten, die alle synchron zu seinen Beats tanzten. Die Masse wogte wie ein Wesen, wie ein Fischschwarm, der graziös durch das Wasser tanzte. Die Einzelnen schienen jegliche Identität verloren zu haben. Aber das war nicht erschreckend, sondern schön, schöner als alles, was Timm jemals gesehen und erlebt hatte. Irgendwie wusste er in diesem Moment, dass er deshalb auflegte: um diesen Zustand, an dem er selber teilhatte, zu erleben. Dieses Einheitsgefühl berührte ihn tief, bewegte ihn sogar zu Tränen. Dies war ein Moment der Seligkeit, der Glückseligkeit, und er wollte ihn unbedingt festhalten.

Doch Träume können grausam sein. Timm wachte unvermittelt auf. Er hatte noch nicht länger als eine Stunde geschlafen. Petra setzte sich verschlafen neben ihm auf. Kurz sah er auch sie mit den Augen der Verbundenheit und für diesen Moment liebte er sie. Erstmals sah er, wie hübsch sie eigentlich war, und für einen winzigen Augenblick schätzte er sie, ihre Zuneigung und ihre Anhänglichkeit, die plötzlich wie unerschütterliche Loyalität wirkten.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie ein wenig besorgt, als sie seinen verklärten Blick wahrnahm.

„Ja, ja, alles in Ordnung. Hab nur komisch geträumt...“

„Komisch? Was denn?“

„Weiß auch nicht. Ist schon wieder weg. Irgendwas vom Auflegen.“

Der Traum war flüchtig. Ebenso flüchtig wie das Einheitsgefühl, das Timms Unterbewusstsein für einen nächtlichen Moment in archetypische Traumbilder gefasst hatte. Am nächsten Morgen erinnerte Timm sich nur daran, dass er etwas Schönes gefühlt und gesehen hatte.

Timms DJ-Karriere nahm weiter Fahrt auf. Er konnte sich vor Anfragen kaum retten und verbrachte fast jeden Nachmittag im Technostore. Mattes, der Besitzer, hatte ihn unter seine Fittiche genommen. Oft probierten sie im Hinterzimmer des Ladens neue Tracks gemeinsam aus oder kreierten Loops und ganze Songs.

„Du musst unbedingt im Sommer auf der Frank Beats auflegen, Timm“, sagte Mattes eines nachmittags.

„Auf der Frank Beats?“

„Ja, der Frank Beats!“

„Machst du Witze? Das Festival ist legendär.“

„Genau. Deshalb musst du unbedingt dabei sein.“

„Ehrlich, Mattes? Das ist ein Traum für mich.“

„Gut, dann hätten wir das also geklärt.“ Mattes klopfte Timm freundschaftlich auf den Rücken und spielte den nächsten Beat an.

Petra kreischte wie verrückt, als sie hörte, dass Timm im Sommer auf dem weltberühmten Techno-Festival an einem Baggersee außerhalb von Frankfurt spielen würde. „Timmy, das ist Wahnsinn. Nimmst du mich mit?“

„Natürlich, Petzi. Du bist überall dabei!“

„Ich kann´s kaum erwarten. Da sind alle. Einfach alle.“

„Ja, und wir zwei.“ Timm umarmte Petra herzlich und ließ sie seine Freude und Zuneigung spüren.

Petra wirkte auf einmal nachdenklicher als sonst. „Ich weiß gar nicht, was wir ohne die Musik machen würden.“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine, Techno bedeutet uns so viel. Wir verbringen soviel Zeit damit. Du noch mehr als ich. Ich hab´ das Gefühl, dass es nichts auf der Welt gibt, das uns so wichtig ist. Nichts, das uns so sehr verbindet.“

Timm ließ sich von ihrer Nachdenklichkeit anstecken. „Ja, das ist wahr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur am DJ-Pult und durch die Musik wirklich lebe.“

„Und wir gehören alle zusammen. Ich meine, die, die Techno lieben, sind wie eine große Familie. Wir verstehen uns blind. Wir lieben das Gleiche, wir denken das Gleiche, wir machen das Gleiche. Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt.“

Timm sagte nichts mehr. Ihre Worte hallten in ihm nach. Irgendwie erschienen sie ihm groß und wichtig. Warum hatte er noch nie so über Techno nachgedacht? Ja, auch er hatte das Gefühl, irgendwie angekommen zu sein; das gefunden zu haben, was ihn ausmachte und erfüllte. Techno bedeutete ihm alles. Die Liebe zur Musik erfüllte ihn mit nie gekannter Leidenschaft. Er hatte das Gefühl, endlich das gefunden zu haben, was ihn ausmachte. Die Musik gab ihm Kraft, Identität und Selbstbewusstsein.

Das nächste Ziel stand für Timm also fest. Je konzentrierter er darauf hinarbeitete, desto rasender verging die Zeit. Timm bereitete sich akribisch auf seinen Auftritt auf der Frank Beats vor. Mattes spielte ihm ungefragt immer wieder neue Ideen und Anregungen zu. Er rückte nicht richtig mit der Sprache heraus, aber Timm hatte das Gefühl, als wolle er ihn aufbauen, als hätte er in Zukunft irgendetwas mit ihm vor.

Und dann war es endlich soweit. Timm und Petra standen im Hochsommer zum Soundcheck auf der riesigen Bühne des sandigen Festival-Areals, das größer als zwei Fußballfelder sein musste. Bald würden hier tausende Technofans aus aller Welt vor ihnen stehen und tanzen. Timm sah es schon vor seinem geistigen Auge. Das Ganze wirkte auf die beiden Schüler vollkommen surreal und überwältigend.

Die Sonne knallte vom blauen Himmel. Das Wetter war einfach perfekt für diesen Rave, der am späten Freitagnachmittag begann und erst Sonntagmorgen enden würde. Mattes kam vorbei und klopfte Timm auf die Schulter. „Na, aufgeregt?“

„Total. Meine Knie schlottern. Diese Bühne und dieser Blick sind einfach gigantisch.“

„Du machst das schon. Denk daran: du tust hier nur, was du immer machst und am besten kannst. Lampenfieber ist gut. Es gibt einem den nötigen Kick, um noch ein bisschen besser zu sein als sonst.“

Und genau so war es. Timm war einer der ersten Künstler, die am Freitag das Festival eröffneten. Als er von seinem Synthesizer aufsah und in die erwartungsvolle Menschenmenge blickte, klopfte sein Herz rasend schnell und laut. Jetzt galt die gesammelte Aufmerksamkeit ihm. Jetzt konnte er zeigen, was er konnte. Mit seiner Musik konnte er die Menge in Ekstase versetzen. Er konnte ihr Freude schenken, das Gefühl, sich wie ein Wesen zu bewegen, eine große, begeisterte Einheit zu sein. Nach den ersten Tracks spürte er, dass der Funke übersprang, dass seine Intention aufging und seine Musik ankam. Jetzt erst verstand er, dass Techno so viel mehr als Musik, Tanz und Vergnügen war. Techno war eine Einstellung, eine Lebensart, eine Philosophie, die einen beinahe unergründlichen Tiefgang zu haben schien und sich mit nichts vergleichen ließ, das er bisher kannte oder erlebt hatte.

Sie rauschten euphorisch durch die Tage auf der Frank Beats. Nach seinem Gig war Timm selbst in die Menge getaucht, hatte mit Petra die ganze Nacht durch getanzt und alles andere vergessen. Es hatte nur noch diesen Moment gegeben und sonst nichts.

Wenn Timm später nach dieser Zeit gefragt wurde, fand er nie die richtigen Worte, um sie zu beschreiben. Er sagte dann immer: „Das alles war größer als wir. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich richtig lebendig und dazugehörig gefühlt. Das alles war ich. Es war genau so, wie ich sein wollte, wie ich mich ausdrücken wollte. Alle waren so und alle wollten dasselbe.“

Nach seinem Auftritt auf dem Festival wurde Timm mit Angeboten für Gigs überschwemmt und verkaufte inzwischen eigene Aufnahmen in Mattes Laden. Dies war keine Zeit für Selbstzweifel, keine Zeit zur Selbstreflexion. Das Leben schenkte Timm Spaß, Anerkennung und vieles mehr, und er musste nie darüber nachdenken, welchen Schritt er als nächstes machen sollte. Die Frage, ob er das Richtige tat, stellte sich ohnehin nicht.

„Hör mal, Timmy. Wann wirst du denn endlich achtzehn?“, fragte Mattes ihn irgendwann. Timm spürte, dass dies ein ernsteres, wichtigeres Gespräch war, als sonst.

„Nächstes Jahr im November! Warum?“

Mattes lachte. „Es gibt ein paar Leute, die dich gerne häufiger hören würden.“

„Ich will das Abi machen, Mattes. Ich will unbedingt studieren.“

„Das schaffst du doch mit links, oder?“

„Na ja. Ich muss schon was dafür tun. Ohne Petra wäre es viel schwieriger. Sie hilft mir oft aus, wenn ich in der Schule zu müde bin und nur die Hälfte verstanden hab.“

„Ihr seid ein gutes Team. Ich mag Petzi. Also, nochmal fürs Protokoll: nächsten November wirst du achtzehn und im Sommer darauf machst du Abi?“

„Wenn alles so läuft, wie geplant...“

Naranari - Mehr als Glückseligkeit

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