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Kapitel 1 Ein neuer Papst

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Vor dem Tor des Vatikans hatte sich eine kleine Menge versammelt und applaudierte den schwarzen Limousinen, die langsam in das von der mittelalterlichen Mauer umschlossene Gebiet einfuhren. Als Zeichen des Dankes oder aus bloßer Gewohnheit hob jeder eintreffende Kardinal vom Rücksitz aus die Hand zum kirchlichen Segen. Auf beiden Seiten des Tores standen Schweizergardisten in ihren buntscheckigen Uniformen und legten die weiß behandschuhte Hand zum Gruß an den glänzenden Helm. Wenig später, nachdem jeder Kardinal sein Zimmer im Apostolischen Palast bezogen hatte, eilten sechs Würdenträger mit Glocken durch die langen, kalten Korridore und läuteten. Als der letzte Außenstehende hinausging, rief jemand „Extra omnesl“. Der Zeremonienmeister des Konklaves aus der Adelsfamilie der Chigi verschloss die schwere Tür von außen mit einem massiven alten Schlüssel. Camerlengo Pietro Gasparri verschloss sie von innen. Die Fenster wurden versiegelt. Es war Donnerstag, der 2. Februar 1922. Bis zur Wahl eines neuen Papstes sollten die Türen sich nicht wieder öffnen.

Nur zwei Wochen zuvor hatte ein hartnäckiger Husten Papst Benedikt XV. zu plagen begonnen. Obwohl er ein kleiner, zerbrechlicher Mann war, der seit seiner Kindheit hinkte – böse Zungen im Vatikan nannten ihn „den Kleinen“ –, war er noch nicht alt und hatte sich in seinen sieben Jahren auf dem Thron Petri guter Gesundheit erfreut. Doch was als Bronchitis begann, wurde rasch zu einer Lungenentzündung, und der 68 Jahre alte Benedikt empfing am 20. Januar die Sterbesakramente. Am Nachmittag des nächsten Tages verlor er auf seinem einfachen Eisenbett das Bewusstsein. Am Morgen des 22. Januar war er tot.1

Giacomo della Chiesa war eine ungewöhnliche Wahl gewesen, als der leutselige, aber herrische Pius X. 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs gestorben war. Als sich die 52 Kardinäle Ende August des Jahres versammelten, um seinen Nachfolger zu wählen, war della Chiesa erst seit drei Monaten Kardinal. Er stammte aus einer adligen, aber keineswegs reichen Familie und wurde wegen seiner Intelligenz und seines Urteilsvermögens geschätzt, wirkte aber nicht wie ein Papst. Seine würdevolle Haltung und seine vornehmen Manieren kontrastierten mit seiner geringen Größe, der bleichen Gesichtsfarbe, dem undurchdringlichen schwarzen Haar und den hervorstehenden Zähnen. Alles an ihm wirkte ein wenig schief, von Nase, Mund und Augen bis zu den Schultern.2

Als junger Priester arbeitete della Chiesa im Vatikanischen Staatssekretariat, das für die Beziehungen des Heiligen Stuhls zu den Regierungen auf der ganzen Welt zuständig ist. Dort stieg er auf, bis er 1913 Erzbischof von Bologna wurde.

Manche glaubten, della Chiesas Versetzung aus dem Vatikan sei das Werk von Rafael Kardinal Merry del Val gewesen, Kardinalstaatssekretär unter Pius X. und sein wichtigster Verbündeter im Kreuzzug zur Ausrottung jedes Anzeichens von „Modernismus“ in der Priesterschaft. Pius X. befürchtete, dass moderne Ideen die jahrhundertealten Lehren der Kirche verdrängten. Besonders schädlich galten ihm der Glaube an die Rechte des Einzelnen und die Religionsfreiheit, dazu häretische Ideen wie die Trennung von Kirche und Staat und die Vereinbarkeit des Glaubens mit den Lehren der Wissenschaft. Da er della Chiesa für zu moderat hielt, wollte Merry del Val ihn aus dem Machtzentrum der Kirche entfernen.3

Beim zehnten Wahlgang erreichte della Chiesa ganz knapp die notwendige Zweidrittelmehrheit. Einer von Merry del Vals konservativen Mitstreitern, Gaetano Kardinal De Lai, demütigte den neuen Papst durch die Forderung nach einer Neuauszählung, um sicher zu gehen, dass er nicht für sich selbst gestimmt hatte.

Pius X. war zu einem für Italiener beängstigenden Zeitpunkt gestorben, aber der Tod seines Nachfolgers fiel 1922 in noch unruhigere Zeiten. Viele fürchteten, jederzeit könne die Revolution ausbrechen, obwohl man uneins war, ob Sozialisten oder Faschisten sie auslösen würden. Der Erste Weltkrieg, von dem sich die Elite eine verstärkte Einigung der hoffnungslos gespaltenen Italiener und stärkere Unterstützung für die Regierung erhofft hatte, hatte keines von beidem bewirkt. Über eine halbe Million Italiener waren gefallen, und noch mehr kehrten verwundet heim. Eine demobilisierte Armee fand bei ihrer Rückkehr nur wenige Arbeitsplätze vor. Die politischen Führer des Landes schienen unfähig, einen Weg aus der Krise zu finden.

Die Sozialisten, deren Zahl seit Jahrzehnten gewachsen war, hatten gehofft, auf der Welle des Volkszorns an die Macht zu kommen. Arbeiter besetzten Fabriken in Turin, Mailand und Genua. Landarbeiter streikten und bedrohten die alte ländliche Grundbesitzerklasse. Nur zwei Jahre zuvor hatte 1917 eine kommunistische Revolution die Bolschewiki in Russland an die Macht gebracht und die alte zaristische Ordnung zerstört. Von ihrem Beispiel befeuert, träumten Protestierende in Italien von einer Zukunft, in der Arbeiter und Bauern herrschen würden.4

Doch die Sozialisten waren selbst gewaltsam bedroht. Kurz nach dem Krieg gründete der 39 Jahre alte Benito Mussolini, früher einer der prominentesten Sozialisten des Landes, eine neue faschistische Bewegung. Sie wurde vor allem von enttäuschten Kriegsveteranen getragen. Bald entstanden in den Städten ganz Italiens faschistische Gruppen. Ihre ersten Rekruten stammten wie Mussolini von der Linken und teilten seinen Hass auf die Kirche und die Priester. Mussolini wechselte aber rasch von der Beschimpfung der Priester und kapitalistischen Kriegsgewinnler zur Verurteilung der Sozialisten, die sich gegen Italiens Kriegseintritt gestellt hatten. Nun schlossen sich auch Menschen von der extremen Rechten an.

Vor ihren Hauptquartieren in den Städten Nord- und Mittelitaliens zwängten sich Faschisten in schwarzen Hemden in Autos und marodierten durchs Land, wo sie Gewerkschaftssäle, Versammlungsräume der Sozialisten und die Redaktionen linker Zeitungen niederbrannten. Mussolini übte wenig direkte Kontrolle über diese squadristi aus, die unter der Leitung örtlicher Faschistenchefs, der sogenannten ras’, standen. Ab 1919 attackierten diese Banden drei Jahre lang immer häufiger und in immer größerem Ausmaß sozialistische Amtsträger und Aktivisten, schlugen sie zusammen und flößten ihnen Rizinusöl ein. Die squadristi empfanden sadistische Freude beim Verabreichen dieses Öls, das nicht nur Ekel, sondern auch demütigenden, unbeherrschbaren Durchfall erzeugte. Sozialistische Bürgermeister und Ratsmitglieder flohen in Panik und ließen einen großen Teil Italiens unter der Kontrolle faschistischer Schläger.5

Diese „Strafexpeditionen“ richteten sich auch gegen Mitglieder der katholischen politischen Partei Italiens. Der Partito Popolare Italiano (Italienische Volkspartei) war ein Versuch der Katholiken, sich politischen Einfluss zu verschaffen. Dass der Vatikan sich positiv zur Bildung einer solchen Partei in Italien stellte, war eine neue Entwicklung. 1861 hatte Vittorio Emanuele II., König von Savoyen in Nordwestitalien mit der Hauptstadt Turin, nach dem Anschluss eines Großteils der Apenninhalbinsel ein neues Königreich Italien ausgerufen. Zu den Territorien, die er durch eine Mischung aus Rebellion und Eroberung erwarb, gehörten auch die meisten Gebiete, die seit Langem von den Päpsten regiert wurden. Nur Rom und sein Hinterland blieben Teil des Kirchenstaats. Dann nahm eine italienische Armee 1870 auch Rom ein und erklärte es zur Hauptstadt der neuen Nation. Papst Pius IX. zog sich in den Vatikan zurück und schwor, seine Mauern nicht mehr zu verlassen, bis der Kirchenstaat wiederhergestellt sei.

Der Papst exkommunizierte den König und verbot es Katholiken, zu wählen oder sich selbst ins Parlament wählen zu lassen; er hoffte auch auf internationale Unterstützung, um Rom wieder unter päpstliche Herrschaft zu stellen. Doch je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt, desto unwahrscheinlicher erschien diese Aussicht. Unterdessen entstand eine neue Bedrohung durch den raschen Aufstieg der sozialistischen Bewegung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Pius IX. und seine Nachfolger regelmäßig den Sozialismus verurteilt. In seiner berühmten Enzyklika Rerum novarum hatte Leo XII. 1891 den Sozialisten vorgeworfen, dass „sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln.“6 Er verwarf ihre Forderung nach Abschaffung des Privateigentums. Als das neue Jahrhundert begann, hatte der Vatikan klargemacht, dass der Sozialismus einer der gefährlichsten Feinde der Kirche sei.

Mit der Ausweitung des italienischen Wahlrechts zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Wahlverbot des Vatikans unhaltbar. Wenn die Kirche nichts tat, würden wahrscheinlich die Sozialisten an die Macht kommen. Im November 1918 traf der sizilianische Priester Luigi Sturzo mit Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri zusammen, um seine Pläne für eine katholische Partei zu besprechen, die Italienische Volkspartei heißen sollte. Sie sollte eine progressive Plattform bieten, um Bauern und Arbeiter von den Sozialisten wegzulocken. Wenige Monate später wurde sie mit dem Segen Benedikts XV. offiziell gegründet. 1922 war sie eine der größten Parteien Italiens geworden.7

Das Konklave dieses Jahres wurde zum Duell zweier Fraktionen. Auf der einen Seite standen jene Kardinäle, die man die zelanti (Eiferer) nannte. Sie blickten nostalgisch zu den Tagen Pius X. zurück und wollten den Kreuzzug der Kirche gegen die Übel des modernen Zeitalters wieder aufnehmen. Auf der anderen Seite hofften die politicanti genannten Gemäßigten, den weniger extremen Kurs und die offenere Politik Benedikt XV. fortzusetzen. Die zelanti wurden vom Kardinalstaatssekretär Pius X., Rafael Merry del Val, angeführt. Die Gemäßigten unterstützten Benedikts Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri. Das Konklave versprach eine epische Schlacht um den Kurs der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert zu werden, deren Spannung durch den unsicheren Ausgang noch gesteigert wurde. Es war zweifelhaft, ob eine Fraktion die nötige Zweidrittelmehrheit gewinnen könne, und es gab keinen offensichtlichen Kompromisskandidaten.8

Wenn Kardinal Gasparri manchmal il pecoraio, der Schäfer, genannt wurde, geschah das nicht im pastoralen Sinne. Der zur Zeit des Konklaves 69 Jahre alte Mann entstammte einer Bauernfamilie aus einem kleinen Schafzüchterdorf im Apenningebirge in Mittelitalien. Sein Spitzname – auf den er stolz war – trug im Italienischen die Konnotation eines Bauerntölpels, eines Emporkömmlings unter den weltgewandten Angehörigen der vatikanischen Hierarchie. Als Kind folgte seine Familie ihrer Herde jeden Frühling in die Berge und kehrte im Herbst ins Tal zurück, wo Pietro zum Unterricht beim Gemeindepriester geschickt wurde. Der aufgeweckte Junge kam danach aufs Priesterseminar, doch im Gegensatz zu vielen Mitgliedern des hohen diplomatischen Dienstes des Vatikans besuchte er nicht die prestigereiche Päpstliche Diplomatenakademie, die traditionell die Söhne des Adels anzog.

Gasparri wuchs zu einem kleinen, rundlichen Mann heran, einem Priester, dessen Füße sich beim Gehen nie vom Boden zu heben schienen. Seine Kleidung „zeigte eine ungewöhnliche Gleichgültigkeit gegenüber der Sauberkeit.“ Doch er war beim diplomatischen Korps beliebt und machte durch Leutseligkeit wett, was ihm an Schliff fehlte. Er gestikulierte ausladend, seine Augen funkelten, und er lachte häufig. Ständig musste er sich das rote Käppchen zurechtrücken. Gasparri war stolz auf die Gerissenheit, Intuition, Hartnäckigkeit und Fähigkeit zu harter Arbeit eines Bergbauern, und andere sahen ihn ebenso. „Seine schwarzen, intelligenten Augen verrieten seine Schlauheit“, hielt ein Beobachter fest.9

Am Abend des 2. Februar 1922 begann das Konklave in der Sixtinischen Kapelle; jeder der 53 Kardinäle erhielt einen Platz an einem eigenen Tischchen. Unter den Abwesenden waren zwei Kardinäle aus den USA, deren Schiff sich noch auf dem Atlantik befand. Die 31 Italiener bildeten die Mehrheit, und nur starke italienische Unterstützung konnte einem Kandidaten zur Wahl verhelfen. Auf dem Altar an der Stirnseite der Kapelle standen ein großes Kruzifix und sechs brennende Kerzen. Bei jedem Wahlgang traten die Kardinäle in der Reihenfolge ihres Ranges zum Altar. Am Fuß des Altars kniete jeder nieder, betete kurz und sprach einen lateinischen Eid, den Mann zu wählen, der nach Gottes Willen für das Amt bestimmt war. Er warf seinen gefalteten Wahlzettel ein und senkte dann das Haupt vor dem Kreuz, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte.

Jeden Vormittag und jeden Nachmittag wurden zwei Wahlgänge abgehalten. Drei durch das Los bestimmte Kardinäle zählten die Stimmen aus. Im Lauf der kommenden Tage wiederholte sich die würdevolle Zeremonie vierzehn Mal und wurde nur einmal unterbrochen, als ein Dominikanerkardinal beim Aufstehen gegen sein Tischchen stieß und sich ein Tintenfläschchen über seine weiße Soutane ergoss.10

Zwölf Kardinäle bekamen Stimmen. Am zweiten Tag erreichte Merry del Val seinen größten Erfolg mit 17 Stimmen. Beim sechsten Wahlgang erhielt Gasparri 24 Stimmen, konnte die Zahl aber in den folgenden zwei Wahlgängen nicht steigern. Vor dem Vatikan warteten fromme und neugierige Römer voller Unruhe. „Nur eines ist sicher“, berichtete der französische Figaro, „niemand weiß irgendetwas.“11 Kardinal Gasparri lag in der Nacht nach dem achten Wahlgang schlaflos im Bett und wusste, dass er niemals Papst werden würde. Am nächsten Morgen, bevor der dritte Wahltag begann, besuchte er das jüngste Mitglied des Konklaves, Achille Ratti. Er sagte dem überraschten Ratti, der erst wenige Monate zuvor zum Kardinal ernannt worden war, er werde seine Unterstützer auffordern, ihre Stimmen auf ihn zu übertragen.

Achille Ratti war 1857 in der kleinen Stadt Desio in der streng katholischen Region Brianza nördlich von Mailand geboren worden, wo sein Vater eine Seidenfabrik leitete. Seine fromme Mutter war der Typ einer planvollen und einschüchternden Frau, die dazu geboren schien, etwas viel größeres als einen Haushalt zu leiten. In späteren Jahren sprach Ratti oft mit tiefer Zuneigung und Respekt von ihr, aber niemals von seinem Vater. Zur Zeit seiner Geburt gehörten Desio und Mailand zum Habsburgerreich, und Rattis frühste Erinnerung war, dass sein Vater ihm mit zwei Jahren erzählte, französische und savoyische Truppen kämpften in der Nähe gegen die Österreicher.12 Binnen weniger Wochen löste sich der Flickenteppich von Herzogtümern und Königreichen auf, aus dem Italien so lang bestanden hatte, und ein vereinigter italienischer Staat nahm Gestalt an.

Da es in Desio keine Schule gab, wurde Achille mit zehn Jahren zu seinem Onkel geschickt, dem Priester der kleinen Gemeinde Asso nahe dem Comer See. Die regelmäßigen Besuche von Priestern aus der Nachbarschaft brachten Geselligkeit in den Haushalt seines Onkels. Achille beschloss, ebenfalls Priester zu werden, und ging bald aufs Seminar. Jeden Sommer kam er zurück, aber nicht zu seinen Eltern, sondern zu seinem Onkel. Im Seminar herrschte äußerst strenge Disziplin. Gegenüber den Priestern galt unbedingter Gehorsam, und Regeln mussten in allen Einzelheiten befolgt werden. Der fleißige Junge störte sich nicht daran.13 Seine Kameraden nannten ihn den „kleinen alten Mann“, denn Achille blieb lieber mit seinen Gedanken allein, als mit den anderen zu spielen.14

1875 kam Ratti ins Seminar in Mailand, um sich auf das Priesteramt vorzubereiten. Er las unermüdlich, nicht nur die italienischen Klassiker wie Dante, sondern auch englische und amerikanische Literatur. Er empfand solches Mitgefühl für Jim, den Sklavenfreund von Mark Twains Huckleberry Finn, dass seine Klassenkameraden ihn l’africano nannten. Obwohl er den Spitznamen nicht lange behielt, war Achille erfreut darüber und sagte seinen Kameraden, er wolle eines Tages als Missionar nach Afrika gehen. Rattis Lieblingsautor war der große Mailänder Autor Alessandro Manzoni. Viele Jahre später, als er schon Papst war, betrat eines Tages der Zeremonienmeister sein Arbeitszimmer und kniete wie üblich nieder, um seine Anweisungen zu empfangen. Der Papst ging im Zimmer auf und ab, versunken in die laute Lektüre von Manzonis Verlobten. 20 Minuten vergingen, ehe er den knienden Geistlichen bemerkte. Der Papst entschuldigte sich für die Wartezeit, fügte aber lächelnd hinzu: „Diese Seiten verdienen es, auf den Knien angehört zu werden, Monsignore!“15

Nach vier Jahren in Mailand setzte Ratti seine Studien am kürzlich eröffneten Päpstlichen Lombardischen Priesterseminar in Rom fort. Rom hatte seit über einem Jahrtausend unter der Herrschaft der Päpste gestanden, aber neun Jahre zuvor war es von italienischen Truppen eingenommen worden und nun die Hauptstadt des neuen Italien.

Der 1,76 Meter große, breitbrüstige Ratti, dessen blondes Haar schon schütter wurde, trug bereits die Brille mit den runden Gläsern, die bald sein Erkennungszeichen werden sollte und ihm das Aussehen eines jungen Gelehrten verlieh. Im Dezember 1879 wurde er in der gewaltigen Lateranbasilika zum Priester geweiht und studierte weitere drei Jahre an der Gregoriana, wo die jesuitischen Lehrkräfte auf Latein dozierten.

1882 war Ratti wieder in Mailand und wurde bald am Priesterseminar der Stadt zum Professor für Homiletik (Predigtlehre) und Dogmatik ernannt. Trotz seines Titels war er nicht allzu eloquent. Er war so auf die Präzision seiner Aussagen bedacht, dass er bei der Suche nach den richtigen Worten schmerzhaft langsam sprach und sich ständig verbesserte, wenn er meinte, sich nicht genau genug ausgedrückt zu haben.16 Der wenig gesellige Ratti fühlte sich zwischen Büchern wohler als unter Menschen. Nach sechs Jahren als Professor wurde er Assistent an der Mailänder Ambrosiana-Bibliothek, deren unerreichte Manuskriptsammlung Schätze wie Leonardos Codex Atlanticus enthält. Er beherrschte nicht nur Latein, sondern auch Griechisch, Französisch und Deutsch.

Ratti war aber kein bloßer Bücherwurm. Als junger Mann in Mailand begeisterte er sich für das Bergsteigen und schloss sich dem örtlichen Zweig des italienischen Alpenvereins an. Jeden Winter studierte er mit seinem Bergsteigerfreund, einem anderen Priester, alles vorhandene Material über die Routen der Berge, die sie im nächsten Sommer besteigen wollten. Erfolg lag für ihn vor allem in der sorgfältigen Planung. Von 1885 bis 1911 machte er 100 Bergtouren, alle über 2500 Meter.17 Das Verspüren der kalten Luft, die Majestät der Alpengipfel und die Landschaft in den Tälern unter ihm zeigten ihm die Glorie von Gottes Schöpfung.18

Als der Präfekt der Ambrosiana 1907 starb, wurde der fünfzigjährige Ratti sein Nachfolger. Vier Jahre später beschloss der Direktor der Vatikanischen Bibliothek, es sei an der Zeit, einen Nachfolger für sich zu suchen. Als Direktor einer Bibliothek, deren Rang nur von der des Vatikans übertroffen wurde, war Achille Ratti keine überraschende Wahl. Die Mailänder Zeitung ergänzte die Meldung von der Ernennung mit einem Foto, das einen kahl werdenden Geistlichen zeigte, aber Rattis wichtigstes Erkennungszeichen blieb seine kleine runde Brille. Zusammen mit seinem ernsten Auftreten – manche würden es Melancholie nennen – verlieh sie ihm das Aussehen eines mürrischen Kirchenintellektuellen. Er zeigte jedoch väterliches Interesse für die Bibliotheksangestellten. Damit sie während des Ersten Weltkriegs ihre Familien ernähren konnten, erwirkte er bei Benedikt XV., dass der Innenhof der Vatikanischen Bibliothek als Gemüsegarten genutzt werden durfte. Wurde einer von ihnen krank, brachte er ihm persönlich Süßigkeiten oder eine Flasche guten Wein.19

Wäre Ratti vatikanischer Bibliothekar geblieben, wie er es erwartete, so wäre er 1922 niemals in der Position gewesen, Papst zu werden. Doch im März 1918 erhielt er eine überraschende Bitte: Benedikt XV. wollte ihn sofort als persönlichen Abgesandten nach Warschau schicken. Noch heute weiß man nicht, warum der Papst ihn für diese diffizile Aufgabe auswählte. Ratti besaß keine diplomatische Erfahrung und kein besonderes Wissen über Polen, doch als die Kardinäle der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten seine Ernennung diskutierten, nahmen sie seltsamerweise an, er spreche Polnisch.20 Mit 61 Jahren sah Ratti seiner Aufgabe voller Nervosität entgegen, reiste aber im Mai gehorsam ab. Man hatte ihm gesagt, er werde nur wenige Monate fort sein und solle einen Bericht für den Papst über die Lage in Polen anfertigen.

Als Ratti in Warschau eintraf, war das Blutbad des Ersten Weltkriegs kaum vorüber. Die Polen bereiteten die Wiedergeburt ihrer unabhängigen Nation vor, deren größter Teil über ein Jahrhundert lang von Russland beherrscht wurde, der Rest von Preußen bzw. dem Deutschen Reich und von Österreich. Rattis Aufgabe war delikat, denn die Grenzen des neuen polnischen Staates waren noch nicht festgelegt und es gab große Spannungen.

Bei seinen Reisen durchs Land war eines der Gefühle, das der vatikanische Bibliothekar am häufigsten von Geistlichen hörte, ihr Hass auf die Juden, die sie als Feinde des katholischen Polens ansahen. Während Italien nur einen winzigen jüdischen Bevölkerungsanteil von einem Zehntelprozent besaß, war in Polen ein Zehntel der Bevölkerung jüdisch. Ein Jahrzehnt zuvor hatte Ratti beim Mailänder Oberrabbiner Hebräischunterricht genommen, und die weitgehend assimilierte jüdische Bevölkerung der Stadt hatte ihm keine Sorgen bereitet.21 Doch obwohl sein persönliches Verhältnis zur kleinen jüdischen Gemeinde Mailands herzlich gewesen war, wusste er, dass der Vatikan die Juden viel negativer sah.

Die Geschichte der kirchlichen Dämonisierung der Juden ist alt und beginnt schon kurz nach dem Ursprung des Christentums als jüdischer Sekte. 1555 erließ Papst Paul IV. die Bulle Cum nimis absurdum, welche den Juden aller Länder unter seiner Herrschaft befahl, in Ghettos zu leben. Die Kontakte von Juden zu Christen sollten stark eingeschränkt werden, und sie durften nur die niedrigsten Berufe ausüben. Nach Ansicht des Papstes waren die Juden von Gott zu „ewiger Sklaverei“ verurteilt worden, weil sie die Lehren Christi abgelehnt und ihn gekreuzigt hatten. Erst 1870, als Rom durch italienische Truppen eingenommen wurde, durften die Juden das Ghetto der Stadt verlassen.22

In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte La Civiltà Cattolica, eine alle 14 Tage erscheinende und vom Vatikan beaufsichtigte Jesuitenzeitschrift, die Juden unbarmherzig attackiert. Die Zeitschrift wurde nicht von den katholischen Massen gelesen, für die sie zu hoch war, vielmehr vermittelte sie katholischen Meinungsführern, Zeitungsredakteuren und höheren Geistlichen die Sicht des Vatikans in aktuellen Fragen. Ein Mann in Achille Rattis Position an der Ambrosiana las jedes Heft gleich nach Erscheinen.

Einer der zahlreichen Angriffe lautete: „Die Juden sind ewig aufsässige Kinder, halsstarrig, schmutzig, Diebe, Lügner, Unwissende, Plagen und die Geißel aller in nah und fern. … Es gelang ihnen, sich in den Besitz … des ganzen öffentlichen Reichtums zu bringen … und fast ganz allein kontrollieren sie nicht nur das gesamte Geld …, sondern auch die Gesetze in jenen Ländern, wo man ihnen öffentliche Ämter erlaubte.“ Die vom Vatikan beaufsichtigte Zeitschrift betonte, die Kirche lehre seit Langem, man müsse die Juden von den Christen trennen, sonst würden sie die Christen zu ihren Sklaven machen: „Oh, wie stark ist Irrtum und Verblendung bei denen, die meinen, das Judentum sei bloß eine Religion … und nicht eine Rasse, ein Volk und eine Nation!“ Als schädlicher Fremdkörper, so die Zeitschrift, könnten Juden niemals dem Land, in dem sie lebten, treu sein, da sie planten, die Großzügigkeit derer auszunutzen, die ihnen leichtfertig gleiche Rechte gaben.23 Diese Kampagne nahm die Zeitschrift wenige Monate nach Rattis Wahl zum Papst in einer Artikelserie wieder auf, die den Juden die Russische Revolution zur Last legte und vor einer gewaltigen jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft warnte.24

Ratti war stark geprägt von einer Kirche, in der solche Meinungen über die Juden tief verwurzelt waren, und wurde so fast zwangsläufig von dem heftigen Antisemitismus beeinflusst, dem er in Polen begegnete. Die zahlreichen schriftlichen Berichte, die er von Mitgliedern der katholischen Elite Polens erhielt, zeigten ihm, wie sehr sie die jüdische Bedrohung beunruhigte. Juden wurde vorgeworfen, sie hätten sich im letzten Krieg auf die Seite der deutschen Invasoren geschlagen und trieben im ganzen Land Wucher durch Geldverleih. Besonderen Eindruck machte auf Ratti der Vorwurf, die Ausbreitung des Bolschewismus sei das Werk der Juden.25 Im Oktober 1918 sah er die Schuld für die jüngsten Unruhen in Polen bei „den extremistischen Parteien, die Unordnung schaffen wollen: Sozialanarchisten, Bolschewisten … und Juden.“26 Eine Pogromwelle in Polen führte zur Ermordung vieler Juden und dem Niederbrennen ihrer Häuser. Auf die Bitte Benedikts XV. – der antisemitischen Verschwörungstheorien weniger zuneigte als seine Vorgänger –, den Wahrheitsgehalt der Geschichten über diese Pogrome zu ermitteln, antwortete Ratti, das sei schwierig. Er betonte aber, die Juden seien ein gefährliches Element; die Polen seien zwar gute und treue Katholiken, aber er befürchtete, „dass sie in die Klauen jener bösen Einflüsse geraten könnten, die ihnen Fallen stellen und sie bedrohen.“ Ratti ließ keinen Zweifel daran, wer diese Feinde waren, und fügte hinzu: „Einer der übelsten und stärksten Einflüsse, die hier empfunden werden, vielleicht der stärkste und übelste, ist der Einfluss der Juden.“27

Im Herbst 1919 erkannte der Vatikan den neuen polnischen Staat offiziell an. Rattis Mission wurde verlängert, und er wurde zum päpstlichen Nuntius ernannt. Im folgenden Sommer stieß die Rote Armee nach einer Reihe von Schlachten mit polnischen Armeen im Baltikum und der Ukraine nach Polen vor und marschierte auf Warschau. Männer, Frauen und Kinder bewaffneten sich, um die Stadt zu verteidigen. Viele Ausländer flohen, aber Ratti hielt aus. Am 15. August warf eine polnische Gegenoffensive die bolschewistischen Truppen zurück, während die bewaffneten Einwohner nervös warteten. Für Ratti war dies ein traumatisches Erlebnis. Die Überzeugung, dass die westlichen Demokratien die kommunistische Bedrohung nicht verstanden, verließ ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr.28

1921 berief Benedikt XV. Ratti nach Italien zurück und ernannte ihn zum Erzbischof von Mailand. Da er nur wenig pastorale Erfahrung besaß und sein Leben lang Bibliothekar gewesen war, war Ratti eine überraschende Wahl, aber seine Kompetenz, seine Aufopferung für die Kirche und seine Selbstlosigkeit hatten Benedikt beeindruckt.29 Dass Ratti den größten Teil seines Lebens in Mailand verbracht hatte, spielte gewiss auch eine Rolle. Mit der Ernennung kam auch der Kardinalshut, der dem Oberhaupt der größten und reichsten Erzdiözese Italiens traditionell zustand.30

Als die zelanti im Verlauf des Konklaves merkten, dass weder Merry del Val noch ein anderer ihrer Kandidaten gewinnen würde, beschlossen auch sie, sich heimlich mit Achille Ratti zu treffen. Sie glaubten wohl, als jemand, der keiner der beiden Fraktionen angehörte, könne er ein erfolgreicher Kompromisskandidat sein. Außerdem meinten sie, jemand mit so wenig Erfahrung in der Kirchenhierarchie sei leichter zu beeinflussen, besonders wenn er seine Wahl ihrer Unterstützung verdankte. Gaetano Kardinal De Lai, der Sekretär der Bischofskongregation, trug Ratti im Namen der zwölf Kardinäle seiner Gruppe ein Angebot vor.

„Wir werden für Eure Eminenz stimmen, wenn Eure Eminenz verspricht, Kardinal Gasparri nicht zum Kardinalstaatssekretär zu machen“, sagte De Lai.

„Ich hoffe und bete, dass der Heilige Geist unter so vielen verdienten Kardinälen einen anderen auswählen wird“, antwortete Ratti. „Aber sollte ich gewählt werden, werde ich in der Tat Kardinal Gasparri zu meinem Kardinalstaatssekretär machen.“31 Ob Ratti das Gasparri bereits versprochen hatte, ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Mit seiner mangelnden Erfahrung in vatikanischen Angelegenheiten konnte er in jedem Fall den erfahrenen Diplomaten gut an seiner Seite gebrauchen. Vielleicht war er auch schlauer, als sie ihm zutrauten, und erkannte den Wert eines Kardinalstaatssekretärs, der ihn vor den Forderungen der zelanti abschirmen würde.

„Eure Eminenz würde einen schweren Fehler machen“, warnte Kardinal De Lai.


Bild 2: Achille Ratti, Erzbischof von Mailand.

„Ich fürchte, es wäre nicht der einzige Fehler, den ich machen würde, wenn ich auf dem Stuhl Petri sitze, aber sicher der erste.“

Beim zwölften Wahlgang, dem letzten des dritten Wahltages, erhielt der Mailänder Erzbischof 27 Stimmen.32 Am nächsten Morgen versammelten sich die Kardinäle erneut in der Sixtinischen Kapelle. Um zehn Uhr begannen sie mit dem dreizehnten Wahlgang, der wieder kein klares Ergebnis brachte. Doch beim nächsten Mal erreichte Achille Ratti die Zweidrittelmehrheit.

Die 52 Kardinäle standen in konzentrischen Kreisen um den Kardinal, der wie betäubt aufrecht auf seinem Stuhl saß, den Kopf gesenkt, als trügen seine Schultern eine neue Last. Der Kardinalprotodiakon stellte die obligatorische Frage mit einer Stimme, die auch die Schwerhörigsten verstehen konnten: „Nehmt Ihr die Wahl an, die Euch nach Kirchenrecht zum Pontifex Maximus beruft?“ Ratti antwortete nicht gleich, und einige Kardinäle wurden nervös. Nach ganzen zwei Minuten hob er den Kopf und antwortete auf Latein. Seine Stimme zitterte vor Bewegung. „Obwohl ich mir meiner Unwürdigkeit bewusst bin …“, begann er. Die Kardinäle wussten, dass sie einen neuen Papst hatten.33

Während all das geschah, fuhr im Bahnhof von Rom auf der anderen Tiberseite ein Zug aus Neapel ein, dem die beiden amerikanischen Kardinäle William O’Connell aus Boston und Dennis Dougherty aus Philadelphia entstiegen. Nach der langen Überfahrt auf der Woodrow Wilson waren sie von Neapel nach Rom geeilt, entdeckten aber zu ihrem Ärger, dass sie zu spät gekommen waren. O’Connell hatte besonderen Grund zum Missfallen, denn er verdankte seine Karriere zu einem Gutteil der Patronage durch Kardinal Merry del Val. Wären er und Dougherty dort gewesen, um ihn zu unterstützen, so wäre es vielleicht anders gekommen. Noch ärgerlicher war die Tatsache, dass es beim Tod Pius X. vor siebeneinhalb Jahren genauso gewesen war; man hatte den Amerikanern nicht genug Zeit gegeben, um nach Rom zu kommen. Auch damals war O’Connell erst eingetroffen, als der neue Papst schon gewählt war.34

Von der Sixtinischen Kapelle wurde Ratti in die nahe Sakristei geführt, wo er zum ersten Mal das weiße Gewand des Papstes anlegte. Für alle Fälle waren drei Gewänder bereitgelegt worden, ein kleines, ein mittleres und ein großes. Die mittlere Größe passte ihm perfekt. Er trug eine weiße Soutane, weiße Seidenstrümpfe und rote Samtpantoffeln, dazu einen roten, mit Hermelin gesäumten Samtumhang. Auf dem Kopf trug er über dem weißen Käppchen den roten camauro, eine Papstmütze mit weißem Pelzbesatz, die über die Ohren gezogen wurde. Als er in die Sixtinische Kapelle zurückkehrte und zum Thron vor dem Altar schritt, knieten die Kardinäle nieder. Dann kamen sie nacheinander zu ihm, küssten ihm den Fuß und baten um seinen Segen. Der Mann, der so gern auf Berge gestiegen war, würde nun die klaustrophobische Enge der vatikanischen Paläste nie mehr verlassen, falls er die Praxis seiner vier Vorgänger weiterführte.35

Die Welt hatte aufmerksam beobachtet, wen das Konklave wählen würde. Die Italiener, deren 40-Millionen-Volk zu 99 % katholisch war, zeigten das größte Interesse, aber auch die 260 Millionen Katholiken außerhalb Italiens warteten gespannt auf die Nachricht.36

Seit Beginn des Konklaves hatten viele Menschen auf dem Petersplatz gewartet, die Augen auf den Schornstein gerichtet, wo der Rauch der nach jedem Wahlgang verbrannten Wahlzettel ihnen zeigte, ob ein Papst gewählt worden war.37 Dreizehn Mal in vier Tagen war er schwarz gewesen, doch gegen Mittag des vierten Tages zeigten Menschen aus der durchnässten Menge auf die dünne weiße Rauchsäule am regnerischen Himmel über dem Apostolischen Palast. Eine Dreiviertelstunde später erschien ein Kardinal auf dem zum Platz gelegenen mittleren Balkon des Petersdoms und hob langsam den rechten Arm. „Habemus papam … wir haben einen Papst.“ Achille Ratti hatte den Namen Pius XI. gewählt, mit der Begründung, Pius IX. sei der Papst seiner Jugend gewesen und Pius X. habe ihn als Leiter der Vatikanischen Bibliothek nach Rom berufen.38 Der Mann, der noch vor wenigen Jahren ein paar Bibliothekare geleitet hatte, war nun für die 300 Millionen Katholiken auf Erden verantwortlich.

Die jubelnde Menge schob sich zu den Toren des Petersdoms. Seit 1870, als italienische Truppen Rom eingenommen und die Päpste sich zu „Gefangenen im Vatikan“ erklärt hatten, hatte kein Papst mehr draußen sein Gesicht gezeigt, nicht einmal von einem der Fenster zum Petersplatz aus. Alle drei Nachfolger Pius IX. hatten die Gläubigen nach ihrer Wahl im Dom gesegnet.

Dann sahen die Menschen etwas Unerwartetes. Mitglieder der Schweizergarde erschienen auf dem Balkon über der gewaltigen Mitteltür von St. Peter und hängten einen roten Wandteppich mit dem päpstlichen Wappen über die Balustrade. Als der Pontifex in der weißen Soutane auf den Balkon heraustrat, um seinen Segen zu spenden, wurde es still auf dem gewaltigen Platz, und die Menschen knieten nieder. Niemand vergaß den Anblick der italienischen Soldaten, die auf dem Platz für Ordnung sorgten und nun neben der Schweizergarde die Waffen präsentierten. Gemeinsam grüßten sie den neuen Papst.39 Es war ein seltener Augenblick des Friedens in einer Stadt, die zunehmend von Panik beherrscht wurde. Gewalt und Chaos breiteten sich im ganzen Land aus, und die Regierung war gelähmt. Noch bevor das Jahr zu Ende war, sollte der neue Papst vor einer Entscheidung von ungeheurer Tragweite stehen.

Der erste Stellvertreter

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