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Kapitel 7 Attentäter, Päderasten und Spitzel

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Nur wenige Männer hatten mehr Einfluss in Rom als Pater Tacchi Venturi, der Mittelsmann des Papstes. Es war ein gewohnter Anblick in den Regierungsgebäuden, wenn dieser Makler der Macht von einem Ministerbüro zum nächsten eilte. Im Lauf der Jahre traf er sich viele hundert Mal mit Ministern und ihren Mitarbeitern, wobei er nicht nur für den Papst Unterstützung suchte, sondern auch für viele andere, die wussten, dass der beste Weg, etwas beim faschistischen Regime zu erreichen, über ihn verlief.1

Der Jesuit war diskret, doch seine Verbindung zu Mussolini blieb nicht unbemerkt. Römer nannten ihn „Mussolinis Beichtvater“, die „graue Eminenz“, mit der er sich angeblich täglich traf.2 Eine deutsche Zeitung nannte ihn Mussolinis Rasputin.3

Während Pius XI. Tacchi Venturis Rolle darin sah, seine Botschaften und Bedenken an Mussolini zu übermitteln, verstand der Jesuit seine Mission allgemeiner. Wie andere im Vatikan war er der Meinung, der Papst sei nicht genügend über die Gefahr der italienischen Juden besorgt. Er übernahm es, Mussolini im Lauf der Jahre immer wieder auf diese angebliche Bedrohung hinzuweisen.

In einem Dokument, das er im Sommer 1926 entwarf, nannte Tacchi Venturi „die weltweite jüdisch-freimaurerische Plutokratie“ den Hauptfeind der Kirche.4 Er forderte strenge Maßnahmen der Regierung, einschließlich einer „Geheimpolizei“, um jüdische Bankiers in Italien zu überwachen. Die Regierung sollte auch die Börse abschaffen, „das mächtigste Werkzeug des dunklen Reichs“. Und weil sich die Weltpresse fast ausschließlich in den Händen der Juden und Freimaurer befand, sollten Regierungen die Pressefreiheit bei allem, was Wirtschaft und Finanzen betraf, einschränken. Sie müssten erkennen, dass die jüdisch-freimaurerische Plutokratie alle ökonomischen und politischen Probleme auf der Welt verursache.5

Der Papst teilte zwar die allgemeine Überzeugung des Vatikans, dass die große Zahl von Juden in Mittel- und Osteuropa eine Bedrohung für die christliche Gesellschaft darstellte, aber er hatte die winzige jüdische Gemeinde in Italien immer ausgenommen. Sein jesuitischer Mittelsmann machte jedoch keinen solchen Unterschied. Im September 1926 überreichte Tacchi Venturi dem Duce die gerade erschienene 15-Seiten-Broschüre Zionismus und Katholizismus, die dem Jesuiten gewidmet worden war. Nachdem die Broschüre daran erinnert hatte, dass Gott selbst die Juden zu ewigem Wandern verurteilt und wegen der Ablehnung Jesu verflucht habe, wandte sie sich der unmittelbaren Bedrohung durch das Judentum zu. „Niemand kann die weitreichenden teuflischen, tödlichen Aktivitäten der jüdischen Sekte auf der ganzen Welt bezweifeln“, warnte der Autor. Die Juden strebten Revolution und Bolschewismus an, „um die heutige Gesellschaft zu zerstören und die Welt zu beherrschen, wie es ihr Talmud befiehlt.“6 Mussolini nahm die Broschüre an, ob er sie aber las, wissen wir nicht.

Dass Tacchi Venturi praktisch jeden Monat ein privates Treffen mit dem Duce hatte, rief naturgemäß Neid, sogar Hass hervor. An einem Samstag des Jahres 1927 betrat er die römische Kirche Il Gesù, wo er jede Woche die Beichte abnahm. Der massive Barockbau aus dem 16. Jahrhundert ist Roms wichtigste Jesuitenkirche und steht im Stadtzentrum. Als er an diesem Tag das Halbdunkel der Kirche durchquerte und seinen Beichtstuhl betrat, sah er verblüfft einen großen Zettel mit folgenden Worten in Blockbuchstaben:

VENTURI, VENTURI, VENTURI

PREGA IL TUO DIO CHE SEMPRE LA DURI

CHE SE ACCOPPANO IL TUO BENITO

ANCO IL TUO IMPERIO SARA’ FINITO

(Venturi, Venturi, Venturi,/stürzt man erst deinen Benito,/ist auch deine Herrschaft finito,/drum bete zu deinem Gott, dass es nicht so bald geschieht.)

Solche anonymen Warnungen waren für den Jesuitenpriester, der sich nicht leicht einschüchtern ließ, nichts Neues. Doch nicht Mussolini, sondern Tacchi Venturi sollte das nächste Ziel eines Attentäters werden.

Die Neuigkeit sprach sich rasch herum. Der 67 Jahre alte Pater Pietro Tacchi Venturi, ein Vertrauter des Papstes und des Duce, war knapp dem Tod entronnen. Nach seiner Version der Geschichte hatte er im Gebäude neben der Kirche Il Gesù an seinem Schreibtisch gearbeitet, als er hörte, ein junger Mann bitte um ein Gespräch. Auf seine Anweisung ließ der Pförtner ihn vor. Der junge Mann trat ein, zog ein Messer aus dem Mantel und stieß es dem Priester ohne ein Wort in den Hals. Nur die Reflexe des Geistlichen retteten ihn, als er instinktiv zurückschreckte; die Klinge verfehlte die Halsschlagader nur knapp. Der Angreifer rannte aus dem Gebäude. Wie betäubt schwankte der blutüberströmte Jesuit mit dem Messer im Hals in den Korridor, wo ihm seine Brüder zu Hilfe kamen.

Am nächsten Tag, dem 29. Februar 1928, berichtete die New York Times: „Der Jesuit und Forscher Pater Tacchi Venturi, ein Vermittler bei den Verhandlungen des Papstes mit Premierminister Mussolini bei der Lösung der ‚Römischen Frage‘, wurde bei einem mysteriösen Mordversuch von einem jungen Mann verletzt, der ohne erkennbaren Grund in seine Wohnung eindrang und ihm mit einem Papiermesser in den Hals stach.“ Die Zeitung fügte hinzu: „In Vatikankreisen ist man extrem abgeneigt, über den Fall zu sprechen.“7

Wer versuchte Tacchi Venturi zu ermorden und aus welchem Grund? Der Mailänder Corriere delle Sera spekulierte, dass die Verschwörer den faschistischen Flügel der Jesuiten treffen wollten, den Tacchi Venturi, der frühere Generalsekretär des Ordens, angeblich anführte. Andere vermuteten hinter der Tat jesuitische Abweichler, die mit Tacchi Venturis Rolle beim Festigen des Bündnisses von Vatikan und Faschisten unzufrieden waren.

In den kommenden Wochen tat Tacchi Venturi alles, um die Polizei zu überzeugen, er sei das Opfer einer internationalen Mordverschwörung geworden. Als sie sich skeptisch zeigte, produzierte er eigene Beweise, die rasch den Weg in die Presse fanden. Am 1. März berichtete die Washington Post unter der Überschrift ATTENTAT IN ROM TEIL EINER VERSCHWÖRUNG GEGEN MUSSOLINI von der Existenz einer „schwarzen Liste“ mit Attentatsopfern, auf der auch der Name des Jesuiten weit oben stehe.8

Tacchi Venturi sagte der Polizei, er habe vor kurzem einen vertraulichen Bericht aus einer gut informierten und vertrauenswürdigen Quelle erhalten. Demnach hatte der prominente Antifaschist Gaetano Salvemini im Pariser Exil eine Liste jener Führer des faschistischen Regimes aufgestellt, die ermordet werden sollten. Gleich unter dem Mussolinis habe sein eigener Name gestanden. Die Identität des Mannes, den er anklagte, musste die Aufmerksamkeit der Polizei erregen, denn Salvemini war einer von Mussolinis einflussreichsten Kritikern im Ausland. Der angesehene Geschichtsprofessor von der Universität Florenz war nach dem Ersten Weltkrieg als sozialistischer Abgeordneter ins Parlament eingezogen. Er schrieb zahlreiche Werke gegen die Diktatur, war 1925 für kurze Zeit inhaftiert worden und dann aus Italien geflüchtet.9

Die Polizei misstraute Tacchi Venturis Behauptung, ein international anerkannter Intellektueller wie Gaetano Salvemini organisiere eine Attentatsserie. Es war schwer zu glauben. Ebenso weit hergeholt schien es, dass eine Verschwörung, wenn sie denn existierte, Tacchi Venturi als wichtigstes Ziel nach Mussolini einstufen sollte.

Voller Nervosität, weil die Polizei seine Geschichte nicht ernst nahm, und um die Untersuchung unbedingt von seinem Privatleben abzulenken, bat Tacchi Venturi Mussolini um Hilfe. Am 19. März besuchte er den Duce, um ihn zu überzeugen, er sei das Opfer einer gefährlichen antifaschistischen Verschwörung geworden. Er übergab Mussolini die maschinenschriftlichen Seiten mit der Geschichte, die sein Informant erzählt hatte.

Wie der Polizeichef von Rom später in seinem Bericht festhielt, war die Geschichte selbst auf den ersten Blick kaum glaubhaft. Der mysteriöse Informant behauptete, er habe ein Treffen mit Salvemini in Paris arrangiert, indem er dem exilierten Professor erzählte, er wolle ihm helfen. Der 54 Jahre alte Historiker hätte nicht nur eingewilligt, ihn zu treffen – obwohl er keine Ahnung hatte, wer der Mann war –, sondern hätte ihm auch sofort alle Einzelheiten des geheimen Attentatsplans verraten.10 Der Polizeichef bemerkte, es sei schwer vorstellbar, wie ein so intelligenter und politisch gewiefter Mann wie Tacchi Venturi etwas davon glauben konnte, geschweige denn andere davon überzeugen wollte. Für den Polizeichef war die einzige Frage, ob jemand anders oder der Jesuit selbst den Bericht fabriziert habe.11

Wiederholt drängte die Polizei Tacchi Venturi, den Verfasser des Berichts zu nennen, aber er weigerte sich. Schließlich entdeckte sie den Informanten. Er war ein berüchtigter Intrigant, der schon früher mit unglaubhaften Geschichten hausiert hatte und mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war.12

Der Polizeichef glaubte, Tacchi Venturi wolle die Untersuchung abwürgen. Am 20. März unterstützte ein Polizeiinformant seinen Verdacht: „Wir haben aus dem Vatikan die Bestätigung, dass Tacchi Venturi nicht wollte, dass seine Angreifer identifiziert werden (die er gut kennt, weil er die Gründe für den Angriff kennt).“13

Zehn Tage später berichtete der Direktor der politischen Polizei in einem vertraulichen Memorandum, die neusten Informationen über den Fall würden Tacchi Venturis seltsames Verhalten erklären und ebenso das Schweigen der Jesuiten von Il Gesù, denn sie verweigerten die Aussage. Der junge Mann hatte den Priester deshalb angegriffen, weil die beiden „verbotene Beziehungen“ unterhalten hatten.14 Dies war das Geheimnis, das Tacchi Venturi so verzweifelt verbergen wollte.

Im Juni schickte der Polizeichef seinen Abschlussbericht, mit dem die Untersuchung beendet war. Tacchi Venturis Bericht des Geschehens ergab keinen Sinn. Wenn er wirklich von einem Attentäter attackiert worden war, warum hatte er nicht um Hilfe gerufen, statt seinen Angreifer entkommen zu lassen? Warum hatte keiner der Jesuiten die Polizei von dem Angriff benachrichtigt? Die Behörden hatten es vom Krankenhaus erfahren, wo der verletzte Geistliche behandelt wurde.

Der junge Mann, der ihn angegriffen hatte, hatte lange genug im Warteraum gesessen, um von den anderen gesehen zu werden. Wenig später war laut einem Priester, der sich im Nebenzimmer befand, wütendes Geschrei aus Tacchi Venturis Zimmer gedrungen. Der Jesuit hatte aber ausgesagt, der unbekannte Besucher habe ihn gleich nach dem Eintreten wortlos angegriffen.

Dann war da die Frage der Waffe des Attentäters. Es war ein eigenwillig geformter schwerer Brieföffner mit schwarzem Holzgriff und scharfer Metallklinge. Als die Polizei die ungewöhnliche Waffe untersuchte, entdeckte sie zu ihrer Überraschung, dass sie mit den Brieföffnern identisch war, die der Jesuit selbst benutzte, obwohl er gesagt hatte, der Mann habe ihn mitgebracht. Es war seltsam, so befanden sie, dass ein Team internationaler politischer Attentäter einen Brieföffner benutzte, egal wie schwer oder scharf dieser war.

Die Art der Wunde warf weitere Fragen auf. Laut Tacchi Venturi hatte der Attentäter das Papiermesser wie einen Dolch gehalten und ihm in den Hals gestochen. Obwohl es die Halsschlagader verfehlte, habe es im Hals gesteckt und zu viel Blutverlust geführt. Nach den ärztlichen Berichten war es aber keine tiefe Stichwunde, sondern ein relativ oberflächlicher, wenn auch langer Schnitt. Eine solche Wunde konnte nicht von einer Stechbewegung stammen, geschweige denn einer, bei der das Messer im Hals steckenblieb. Auch die Untersuchung der Kleidung zeigte zwar Blutflecken, aber keine große Menge Blut. Und obwohl Tacchi Venturi ausgesagt hatte, das Messer habe in seinem Hals gesteckt, hatte keiner seiner Ordensbrüder das bestätigt.

Was geschah wirklich an diesem Februartag? Der Polizeichef war sicher, der Angriff habe nichts mit einer antifaschistischen Verschwörung zu tun. Der Priester war im Lauf einer Auseinandersetzung mit jemandem, den er gut kannte, verwundet worden; der Angreifer hatte im Zorn einen Brieföffner von Tacchi Venturis Schreibtisch genommen und nach ihm geworfen. Das Motiv war persönlich, nicht politisch gewesen, deshalb tat der Jesuit, was er konnte, um die Polizei an der Ergreifung des Täters zu hindern.15

Eine Spur hatte der Polizeichef bei der Untersuchung nicht verfolgt. In seinem Abschlussbericht gab er zu, er habe nicht die Möglichkeit untersucht, dass der Priester verbotene Beziehungen zu dem jungen Mann gehabt habe.16 Die Polizei war nicht erpicht darauf, das Privatleben des Jesuiten zu durchleuchten, der sowohl Mussolini als auch dem Papst nahestand, geschweige denn seine möglichen Beziehungen zu Knaben oder jungen Männern. Sobald sie ein politisches Mordkomplott ausschließen konnte, schloss sie die Untersuchung ab. Der Angreifer wurde nie gefasst.17

Nach dem Bericht von Polizeiinformanten wusste der Papst, dass Tacchi Venturi die Behörden von der Fährte abzubringen versuchte, doch deswegen hielten weder er noch Mussolini den Jesuiten für weniger nützlich, und bald traf dieser sich wieder im Auftrag des Papstes mit dem Duce. Vielleicht trieb der durch den Vorfall erzeugte Verdacht Tacchi Venturi ein wenig zum Überkompensieren, da er das Vertrauen des Duce unbedingt zurückgewinnen wollte. In einem Brief an Mussolini vom Mai versicherte er, zugleich „ein guter Jesuit und ein guter Faschist“ zu sein.18

Die Fülle von Berichten der Polizeiinformanten aus dem Vatikan zeigt, dass der Papst damals mit einer Reihe von Vorwürfen der Päderastie gegen Geistliche aus seiner engsten Umgebung konfrontiert war.19 Monsignore Caccia Dominioni hatte den Papst seit seiner Jugend in Mailand gekannt und war als Oberkammerherr ständig an seiner Seite. Mehrere Berichte des Informanten aus der vatikanischen Führungsspitze stellten die angeblichen Beziehungen des Monsignore zu Knaben und jungen Männern dar.

Der Papst, so der Informant im Jahr 1926, habe eine geheime Untersuchung der neusten Vorwürfe angeordnet. Ein junger Mann sei durch vatikanische Beamte befragt worden und habe berichtet, dass Caccia ihn in seine Räume im Vatikan lockte und Sex mit ihm hatte. Als sich die Geschichte im Vatikan verbreitete, verbot der Papst, darüber zu sprechen. Er hörte solche Vorwürfe nicht zum ersten Mal. Dem Majordomus und Präfekten des Päpstlichen Hauses Monsignore Ricardo Sanz de Samper wurden ebenfalls sexuelle Beziehungen zu Knaben vorgeworfen. Hinter dem Rücken des Papstes witzelten vatikanische Insider, Pius XI. zeige sich bei seinen öffentlichen Auftritten „in der ehrbaren Gesellschaft zweier Päderasten, Caccia und Samper.“ Tatsächlich standen sie bei öffentlichen Audienzen zu beiden Seiten des Papstes.20

Die beiden Männer hatten jedoch ein völlig unterschiedliches Schicksal. Im Gegensatz zum Mailänder Caccia hatte der Südamerikaner Samper keine älteren Verbindungen zum Papst. Schließlich beendete der Skandal seine Karriere. Pius verweigerte ihm nicht nur den Kardinalshut, der ihm seiner Meinung nach zustand, sondern Ende 1928 wurde er auch ohne öffentliche Erklärung plötzlich entlassen. Darauf verschwand Samper, bis dahin eine der sichtbarsten Persönlichkeiten im Vatikan, von der Bildfläche.21

Caccia kämpfte noch jahrelang gegen Gerüchte über seine Neigung, Knaben in sein Schlafzimmer im Vatikan zu bringen. Eine Vielzahl von Geheimberichten mehrerer Polizeiinformanten führte die schäbigen Details auf.22

Ohne Mussolinis Spitzelsystem wären solche Geheimnisse des Vatikans nie bekannt geworden. Selbst wenn der Heilige Stuhl heute Historikern Akten im Vatikanischen Geheimarchiv zugänglich macht, entfernen Kirchenvertreter Material über solche heiklen „persönlichen“ Angelegenheiten. Doch Mussolinis Spitzelnetzwerk im Vatikan war robust. Es umfasste nicht nur drei oder vier gut platzierte Geistliche, sondern auch Laienangestellte und Katholiken mit hochrangigen vatikanischen Quellen, etwa Emanuele Brunatto, einen Unternehmer mit guten Beziehungen zu Kardinal Gasparri. Brunatto war einer von mehreren Informanten, die über Caccias Taten berichteten.23

Nach den Attentaten von 1926 entließ Mussolini den obersten Polizeichef Italiens und ersetzte ihn durch den 46 Jahre alten Arturo Bocchini. Der Karrierebeamte und ehemalige Präfekt war kein fanatischer Faschist. Wie viele andere hatte er seine Loyalität einfach auf die neue Regierung übertragen. Im Lauf der nächsten Jahre wurde aber niemand wertvoller für Mussolini, denn Bocchini entwarf leise aber wirkungsvoll ein gewaltiges Überwachungssystem, um die Polizei und Mussolini über jede Opposition zum Regime zu informieren.

Bocchini traf sich jeden Morgen mit Mussolini und legte ihm die Geheimberichte der Informanten vor, die er für die wichtigsten hielt. Er war intelligent, effizient und gründlich, aber kein Sadist.24 Bis Ende 1927 hatte er die gesamte Polizeiüberwachung in seiner Hand konzentriert und besaß Akten über mehr als 100.000 Menschen. Er sollte nicht nur bestimmte Einzelpersonen im Auge behalten, sondern auch die Meinung der Bevölkerung erkunden. Seine Berichte erlaubten es dem ansonsten von Speichelleckern umgebenen Duce, etwas von der Stimmung im Land mitzubekommen.25

Bocchini baute sein Spitzelnetz auf, indem er Personen rekrutierte, die wiederum eigene Subnetze von Informanten schufen und ständig neue anwarben. Eines der wichtigsten dieser Netze leitete Bocchinis großgewachsene, attraktive Geliebte Bice Pupeschi, eine von ihrem Ehemann getrennt lebende Frau und 14 Jahre jünger als Bocchini. Er richtete ihr eine Wohnung in Rom ein, die nicht nur als Liebesnest diente, sondern auch als Treffpunkt mit einigen ihrer ranghohen Informanten.26

Wenige waren für den Polizeichef wertvoller als Enrico Pucci, den er im Oktober 1927 rekrutierte.27 Pucci hatte zuerst unter Pius X. im Vatikan gedient, dann wurde er Priester von Santa Maria in Trastevere, nicht weit vom Vatikan. 1919 kehrte er als päpstlicher Hausprälat und Chefredakteur von Roms katholischer Tageszeitung Il Corriere d’Italia in den Vatikan zurück. Puccis Artikel hatte 1923 den Wunsch des Papstes verkündet, Don Sturzo solle als Vorsitzender der Volkspartei zurücktreten. Er gab auch ein Blatt mit Nachrichten aus dem Vatikan heraus, pflegte seine zahlreichen persönlichen Kontakte und galt Mitte der zwanziger Jahre als wichtigster Pressemann des Vatikans. Pucci traf sich regelmäßig mit Kardinal Gasparri, wenn auch nicht mit dem Papst, und war häufig mit Kardinälen und Bischöfen in den römischen Cafés und Restaurants zu sehen.28

Dank dieses Netzwerks von Informanten erfuhr Mussolini von Caccias Aktivitäten. Eine Untersuchung von 1928 konzentrierte sich auf zwei Jungen, die man aus der Wohnung des Monsignore hatte kommen sehen. Bei der Befragung erzählten sie ausführlich von ihren verbotenen Beziehungen zu ihm, bis hin zur Beschreibung seines Schlafzimmers. Mussolini erfuhr davon zuerst durch einen Informanten, den die Polizeiakten bloß den „bedeutenden vatikanischen Informanten“ nennen. Die Identität dieses Mannes, der offensichtlich aus dem innersten Zirkel des Vatikans stammte, ist nach wie vor ungeklärt. Zwischen 1925 und 1934 schickte er Dutzende von geheimen Berichten. Viele gingen an Mussolinis Privatsekretär, und der Duce las sie begierig.29

Im Bericht über Caccias neuste Aktivitäten fügte der „bedeutende vatikanische Informant“ 1928 hinzu, der Polizeichef des Polizeibezirks Borgo, der für den Vatikan direkt verantwortlich war, wirke mit dessen Vertretern zusammen, um die Vorwürfe unter der Decke zu halten.30 Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die römische Polizei dem Vatikan half, peinliche Berichte über Monsignore Caccias Vorliebe für Knaben geheim zu halten.

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