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Kapitel 2 Der Marsch auf Rom

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Die Kleinstadt Predappio in der Romagna, in der Benito Mussolini geboren wurde, liegt nur ungefähr 250 Kilometer von Achille Rattis Geburtsort in der Lombardei entfernt, doch ihre Kindheitserfahrungen hätten unterschiedlicher kaum sein können. Das lag weniger am größeren Wohlstand der Rattis als am Unterschied zwischen einer konservativen, gläubigen Familie und einer, die im rebellischen Klima der Romagna lebte. Die Helden der Rattis waren Heilige und Päpste, die der Mussolinis Aufrührer und Revolutionäre.

Achille Ratti war schon ein 26 Jahre alter Priester, als Mussolini 1883 geboren wurde. Die Romagna war damals das Zentrum der anarchistischen und sozialistischen Bewegungen in Italien, und Benitos Vater Alessandro, ein großmäuliger Schmied, predigte seinen revolutionären Glauben jedem, der ihm zuhörte. Er nannte seinen Sohn nach Benito Juarez, einem verarmten Indianer, der mexikanischer Präsident, eine Geißel der europäischen Kolonialmächte und ein Feind der Kirche wurde. Benitos jüngerem Bruder gab er den Namen Arnaldo, nach dem Priester Arnaldo von Brescia, der 1146 einen Aufstand gegen den Papst in Rom angeführt hatte und später gehenkt wurde. Die geduldige Mutter der Brüder, Rosa, teilte den revolutionären Eifer ihres Mannes nicht. Sie ging regelmäßig zur Kirche und lehrte in der örtlichen Grundschule. Jeden Abend schlug sie das Kreuz über ihren schlafenden Kindern.1

Die Familie bewohnte zwei Zimmer im dritten Stock. Benito und Arnaldo schliefen in der Küche auf einem Eisenbett, das ihr Vater geschmiedet hatte, als Matratze diente ein großer Sack Getreidespelzen. Ihre Eltern teilten den anderen Raum mit der Tochter Edvige. Um in die Wohnung zu kommen, mussten sie durch das Schulzimmer ihrer Mutter gehen, das den Rest der Etage einnahm.

Alessandro und Rosa führten eine stürmische Ehe. Alessandro hatte nicht nur Geliebte, er kam auch häufig betrunken aus der Kneipe und fing Streit mit seiner Frau an. Einmal gewann sie die Auseinandersetzung, und so wurde der damals zehnjährige Benito auf eine nahegelegene Schule des Salesianerordens geschickt. Dort blieb er nicht lange. Beim Streit mit einem Mitschüler zog er ein Messer und stach den Jungen in die Hand. Die Salesianer verwiesen ihn der Schule. Benito legte seine rauen Sitten nicht ab, schaffte es aber als aufgeweckter Junge irgendwie, die Oberschule abzuschließen. 1901 begann er als Hilfslehrer zu arbeiten, verlor aber eine seiner ersten Stellen, als seine Affäre mit einer verheirateten Frau ans Licht kam.

Als er keinen neuen Posten fand, fuhr Benito in die Schweiz, um Arbeit zu suchen. Dort schloss er sich Sozialisten und Anarchisten an, deren begeisterte Reden von der Revolution ihn anzogen. Die schweizerische Polizei verfasste bald einen Bericht über ihn, der eine Beschreibung des jungen Mannes enthält: 1,67 Meter, gedrungen, braunes Haar und Vollbart, langes, bleiches Gesicht, dunkle Augen, Adlernase und großer Mund.2

1904 debattierte Mussolini in Lausanne mit einem evangelischen Priester öffentlich über die Existenz Gottes. Nachdem er sein Publikum mit Zitaten von Galileo bis Robespierre zu beeindrucken versucht hatte, stieg er auf einen Tisch, zog eine Taschenuhr heraus und brüllte, wenn es wirklich einen Gott gebe, solle Er ihn in den nächsten fünf Minuten tot umfallen lassen. Benitos erste Veröffentlichung mit dem Titel „Gott existiert nicht“ erschien im selben Jahr. Er führte seine Angriffe auf die Kirche fort und nannte Priester „schwarze Mikroben, ebenso tödlich für die Menschheit wie Tuberkulosemikroben.“3

Mussolinis Leidenschaft galt der Polemik und der Politik, und bald widmete er sich beidem ausschließlich. 1910 war er wieder in Forlì, nahe dem Wohnort seiner Familie, gab die örtliche sozialistische Wochenzeitung heraus und war Sekretär der Sozialistischen Partei. Im selben Jahr versuchte er sich als Schriftsteller und veröffentlichte den schwülstigen Roman Die Geliebte des Kardinals.4

In diesen Anfangsjahren seiner politischen Karriere war Mussolini eine auffallende Figur, teils ein wilder junger Mann der Linken, teils Don Juan. Mit seinem dichten Schnurrbart, den er die nächsten zehn Jahre über tragen sollte, war er jemand, der zu wissen schien, wie man Aufmerksamkeit erregte. Er war ein Regeln brechender Krawallbruder und Provokateur, den man lieber auf seiner Seite als gegen sich hatte. Eine der Eigenschaften, die man nie vergaß, zeigte er schon jetzt: seinen stählernen Blick. Er war zugleich einschüchternd und hypnotisierend und hielt die Zuhörer im Bann. Mussolinis Augen schienen hervorzuquellen. Ein Gewerkschaftsfunktionär beschrieb 1910 seine Erfahrung: „Er musterte mich mit einem Heben der Augenbrauen, wodurch das Weiße des Auges ganz erscheint, als wolle er etwas in der Ferne beobachten; dabei nahmen Augen und Gesicht den gedankenvollen Ausdruck eines Apostels an.“5

1912 bekam Mussolini, der noch keine 30 war, einen der einflussreichsten Posten der Sozialistischen Partei und wurde Chefredakteur der landesweiten Parteizeitung Avanti! in Mailand. Aus der bescheidenen Provinzstadt Forlì zog er in die finanzielle und kulturelle Hauptstadt Italiens.

Als Chefredakteur von Avanti! wandte Mussolini sich gegen die Reformfraktion der Sozialistischen Partei. Nur revolutionäre Aktionen, nicht Parlamentspolitik könnten seiner Meinung nach eine neue Ordnung hervorbringen. Als die Polizei 1913 südlich von Rom sieben Landarbeiter bei Protesten tötete, forderte er Rache: „Tod denen, die das Volk massakrieren! Lang lebe die Revolution!“, rief er bei einer Demonstration in Mailand. In seiner Zeitung schrieb er: „Wir führen einen Kriegsruf. Wer Massaker begeht, weiß, dass er selbst massakriert werden kann.“6

Der Kriegsausbruch in Europa im August 1914 war für Sozialisten das Werk kriegslüsterner Imperialisten und Kapitalisten, die das Proletariat als Kanonenfutter benutzten. Die Arbeiter aller Länder sollten sich vereinigen und einander nicht im Namen von Gott oder Vaterland abschlachten. Doch zur Überraschung seiner Genossen schrieb Mussolini zwei Monate nach Kriegsbeginn einen Artikel, der die Klugheit der italienischen Neutralität in Frage stellte. Pazifismus lag nicht in seinem Wesen, und er litt unter dem Gedanken, dass Italien danebenstand und zuschaute, während der Rest Europas Krieg führte. Ob er glaubte, seine Genossen überzeugen zu können, ist unsicher. Wenn ja, so erkannte er bald, wie sehr er sich täuschte. Binnen eines Monats wurde er nicht nur bei Avanti! entlassen, sondern auch aus der Partei ausgeschlossen.

Im Lauf der nächsten Jahre machte der ehemalige Sozialistenführer eine für seine früheren Genossen unerklärliche und verräterische Verwandlung durch und wurde zum schlimmsten Feind der Sozialisten. Er behielt die Verachtung des Revolutionärs für die parlamentarische Demokratie und die Faszination für die Möglichkeiten gewaltsamen Handelns bei, warf aber den Rest der marxistischen Ideologie über Bord. Das Chaos am Ende des Ersten Weltkriegs hatte ein Vakuum geschaffen, das er füllen wollte. Sein Engagement hatte stets vor allem ihm selbst gegolten, und er glaubte aus eigener Kraft ganz nach oben kommen zu können. Nun erkannte er einen neuen Weg, auf dem er diese Träume verwirklichen konnte.

Vier Jahre zuvor, 1910, hatte Mussolini eine Tochter namens Edda von seiner Geliebten Rachele Guidi aus seiner Heimatstadt bekommen, die er später heiratete. Damals lebten sie in einer verwanzten Zweizimmerwohnung in Forlì. Benitos Liebesleben war aber so aktiv, dass jahrzehntelang gemunkelt wurde, Eddas Mutter sei gar nicht Rachele. Edda wies später verärgert das verbreitete Gerücht zurück, ihre Mutter sei in Wirklichkeit eine russisch-jüdische Sozialistin (und später Sekretärin der Dritten Kommunistischen Internationale) namens Angelica Balabanoff, die nach Italien gezogen und eine von Mussolinis wichtigeren Geliebten und politischen Mentorinnen geworden war. „Da ich meine Mutter kenne, weiß ich sehr gut, dass sie mich keine fünf Minuten behalten hätte, wenn ich die Tochter von Balabanoff gewesen wäre“, schrieb Edda in ihren Memoiren.7

Rachele stammte aus einer armen Bauernfamilie und begegnete Benito zuerst mit sieben Jahren, als er für seine Mutter in der Grundschule aushalf. Rachele war keine gute Schülerin und verlor mit acht Jahren ihren Vater, worauf sie als Hausmädchen nach Forlì geschickt wurde. Obwohl sie später eine recht ausladende Figur hatte, war sie als junges Mädchen attraktiv, blond, klein, schlank und blauäugig.

Rachele glaubte, Edda sei Benitos erstes Kind. Wenige Monate vor Eddas Geburt bekam eine Kaffeehauskellnerin aber einen Sohn, den sie Benito nannte. Dieser kleine Benito starb nach wenigen Monaten, aber es gab weitere uneheliche Kinder, darunter mindestens einen weiteren Benito.8 Man mag sich zu Recht fragen, wo Mussolini die Zeit für seine journalistische und politische Karriere hernahm, während er mehrere Affären gleichzeitig hatte. Seine Frauen konnten kaum unterschiedlicher sein. 1913 hatte er ein Kind mit einer anderen russischen Jüdin, der er einige Jahre zuvor begegnet war, doch er erkannte das Kind nie an.9 Im selben Jahr verliebte er sich in die kaum zu ihm passende Leda Rafanelli, eine bekannte 32 Jahre alte anarchistische Autorin in Mailand, die einige Jahre zuvor nach einer mehrmonatigen Ägyptenreise zum Islam übergetreten war. Benito schlich sich aus seinem Büro, um Ledas nach Räucherstäbchen duftende Wohnung zu besuchen, wo die Gäste auf dem Boden saßen. Ihre Affäre dauerte bis zum Herbst 1914. Viele Jahrzehnte später, als alte Frau, veröffentlichte Leda Rafanelli 40 Briefe, die der junge Mussolini ihr in jenen bewegten Monaten geschrieben hatte.10

Im November 1915 wurde ein zweiter Benito geboren, und die Mutter war Ida Dalser, eine weitere von Mussolinis Geliebten, die ihn anbetete. Vielleicht um Idas immer entschiedeneren Anspruch, sie sei seine wahre Ehefrau, abzuwehren, heiratete Mussolini Rachele. Die eilige Zivilehe fand einen Monat nach Benitos Geburt statt, obwohl Mussolini damals Patient auf einer Typhusstation war. Als er Idas Briefe nicht mehr beantwortete, ließ sie seine Möbel pfänden. In rachsüchtiger Wut stapelte sie seine bescheidene Sammlung von Tischen und Stühlen in ihrem Hotelzimmer auf und zündete sie an.11

Nachdem Mussolini im November 1914 bei Avanti! entlassen worden war, verkündete er, nun eine eigene Zeitung namens Il Popolo d’Italia (Das italienische Volk) zu gründen.12 Sie fand die Unterstützung italienischer Industrieller, die von einem Kriegseintritt Italiens profitiert hätten, und blieb für drei Jahrzehnte seine Zeitung.13

Etwa zur gleichen Zeit wie seine Zeitung gründete er die Fasci d’azione rivoluzionaria, revolutionäre Zellen oder, wie er es nannte, „eine freie Verbindung von Umstürzlern“, die für den Kriegseintritt Italiens und die Abschaffung der Monarchie eintrat.14 Sie hielt ihre erste Versammlung im Januar 1915 ab, vier Monate bevor Italien auf Seiten Englands und Frankreichs in den Krieg eintrat. Bald wurde Mussolini eingezogen und an die Front in den Bergen Nordostitaliens geschickt. Am 23. Februar 1917 endete seine militärische Karriere, als eine Mörsergranate, die er abfeuern wollte, im Lauf krepierte, fünf Kameraden tötete und seinen Körper mit Schrapnell spickte. Trotz der Operationen oder vielleicht deshalb, kam es zu einer Infektion und hohem Fieber. Doch er überlebte und kehrte nach Mailand zurück, wo seine wichtigste Geliebte und politische Vertraute ihn erwartete.

Margherita Sarfatti war 1880 in eine wohlhabende jüdische Familie in Venedig hineingeboren worden und hatte zuhause Privatunterricht erhalten. Im Alter von 14 Jahren beherrschte sie Französisch, Deutsch und Englisch. Sie las philosophische Werke, lernte Shelley-Verse auswendig, studierte Kunstgeschichte und entwickelte eine Leidenschaft für die Literatur. Sie war attraktiv, hatte grüne Augen und kastanienbraunes Haar und heiratete mit 18 einen 14 Jahre älteren jüdischen Rechtsanwalt.

Das frisch vermählte Paar zog bald nach Mailand, wo Margherita Sympathien für die Sozialistische Partei zeigte und Kulturartikel für deren Zeitung schrieb. Sie lernte Mussolini kennen, als er Ende 1912 in die Stadt kam. Was ihr zuerst auffiel, waren seine Augen. Sie waren groß und hell und schienen sich fieberhaft zu bewegen, wenn er redete. Als sie ihn später bei einer sozialistischen Demonstration in Aktion sah, bewunderte sie seine Fähigkeit, die Menge mit markigen Worten zu fesseln. Sie verglich ihn mit den Helden der Vergangenheit, die in rostiger Rüstung immer wieder die glänzenden Ritter der königlichen Tourniere aus dem Sattel warfen. Er erinnerte sie auch an den Dominikanermönch Savonarola aus der Renaissance. Mussolini teilte mit dem feurigen Mönch das „seltsame fanatische Leuchten in den Augen und die herrische Biegung seiner Nase.“15

Ihre Affäre begann 1913. Als Mussolini 1917 aus dem Krieg heimkehrte, wurden die beiden unzertrennlich.16 Im November 1918 war Mussolinis Schwester Edvige, die zur Feier des Waffenstillstands nach Mailand gekommen war, überrascht, dass er sich den Schnurrbart abrasiert hatte. Er trug einen guten Anzug, einen makellosen weißen Kragen und hatte sogar eine Blume im Knopfloch. Sie fand ihn bemerkenswert gepflegt und vermutete, er sei verliebt.17

Mussolinis Liebesleben spielte sich vor den brutalen Umwälzungen der Nachkriegszeit in Italien ab. Arbeiter besetzten in vielen norditalienischen Städten ihre Fabriken. Die nur kurz zurückliegende Russische Revolution war jedermann bewusst, und Forderungen nach einem Ende der „bürgerlichen“ Demokratie und der Schaffung eines Arbeiterstaates wurden laut. Auf dem Land wurden linke Bauernbünde aktiv. Grundbesitzer, die gewohnt waren, den Bauern ihre Bedingungen zu diktieren, sahen sich nun in der Defensive. Hunderttausende Kriegsveteranen fanden keine Arbeit. Die Regierung war mittellos und von politischen Intrigen und persönlichen Rivalitäten gelähmt. Die Sozialisten errichteten in einem großen Teil des Landes, vom Alpenvorland im Nordwesten bis zur Adria im Osten, einen Staat im Staate, übernahmen die Kommunalverwaltung und bauten Arbeitskooperativen auf.

Mussolini fand seine natürlichen Anhänger in den heimkehrenden Veteranen, indem er an ihren Nationalismus appellierte, an ihr Gefühl, das Land schulde ihnen etwas, und an ihren Unwillen, das Kameradschaftsgefühl aufzugeben, das sie bis vor kurzem im Kampf gehabt hatten. Angriffe auf Kriegsprofiteure, Defätisten, unfähige Generäle und korrupte Politiker erwiesen sich als berauschende Mischung. Am 23. März 1919 berief Mussolini die erste Versammlung seiner faschistischen Bewegung ein.

Ebenso wie den Rest des Establishments lehnten die Faschisten zunächst auch die Kirche ab. Mussolini forderte die Beschlagnahme des Klosterbesitzes und ein Ende der staatlichen Zuschüsse für die Kirche. In einem Artikel vom November 1919 forderte er im Popolo d’Italia den Papst auf, Rom zu verlassen, und äußerte einen Monat später seinen Hass auf alle Formen des Christentums.18

Im selben Monat bekamen die Faschisten ihre erste Chance, eigene Kandidaten ins Parlament zu bringen, scheiterten aber kläglich.19 In Mailand erzielten sie weniger als zwei Prozent der Stimmen und brachten niemanden durch. Landesweit wurde gerade ein Kandidat gewählt.20

Obwohl seine Bewegung noch nicht viele Stimmen gewann, wurde Mussolini von der Polizei aufmerksam beobachtet. Kurz vor den Wahlen stellten die Behörden ein vertrauliches Dossier zusammen, in dem er als körperlich stattlich, aber syphilitisch beschrieben wurde. Angesichts seiner vielen Sexualpartnerinnen ist die Aussage, er habe sich mit der damals verbreiteten Syphilis angesteckt, nicht überraschend. Bis zum Ende seines Lebens flüsterte man darüber, und manche sahen es als Grund für seinen angeblichen späteren geistigen Verfall. Bei der Autopsie fand man aber keinerlei Anzeichen der Krankheit.

Mussolini stand jeden Tag spät auf und ging gegen Mittag in seine Zeitungsredaktion, kam aber erst weit nach Mitternacht zurück. Der Polizeibericht nannte ihn emotional und impulsiv, doch er habe auch eine sentimentale Seite, die erkläre, warum so viele Menschen ihn anziehend fänden. Er war intelligent und gerissen, erkannte rasch die Stärken von Menschen und nutzte ihre Schwächen aus. Er besaß Organisationstalent und Entscheidungsfreude und war loyal gegenüber seinen Freunden, hegte aber dauerhaften Groll gegen jene, die ihn geringschätzig behandelten. An besondere Überzeugungen fühlte er sich nicht gebunden und wechselte sie rasch. Vor allem war er extrem ehrgeizig und überzeugt, er sei ausersehen, die Zukunft Italiens zu formen.21

Anfang 1920 hatte Mussolini viel von der sozialistischen Ideologie über Bord geworfen, die er bis dahin so laut proklamiert hatte. Da er erkannte, dass sein Weg zum Erfolg darin lag, das Chaos im Land auszunutzen, präsentierte er sich als Verfechter von Recht, Gesetz und Nationalstolz.

Im Frühjahr 1920 organisierten sozialistische Vereine im Po-Delta einen Landarbeiterstreik. Als die Regierung nicht eingriff, wandten die Großgrundbesitzer sich an die fasci. Im Herbst verwüsteten bewaffnete faschistische Banden in Schwarzhemden und schwarzem Fes – ihrer typischen Montur – sozialistische Arbeitskammern und andere linke Ziele. Nie zuvor hatte das moderne Italien so etwas erlebt. Obwohl Mussolini das inoffizielle Oberhaupt dieses Netzwerks von Gewalttätern war, organisierte er sie nicht direkt und überließ örtlichen Faschistenchefs die Schmutzarbeit. Am 21. November überfiel eine solche Bande das Rathaus von Bologna, wo gerade eine neugewählte sozialistische Stadtverwaltung den Amtseid ablegte. Bei dem Überfall starben zehn Menschen, und die Regierung suspendierte die neue Stadtverwaltung. Die Gewalt breitete sich aus, als faschistische Banden linke Stadtverwaltungen, sozialistische Parteibüros und Gewerkschaftssäle überfielen.

Als Anführer einer neuen Bewegung mit so wenigen festen Strukturen musste Mussolini darum kämpfen, die Kontrolle über seine kampflustigen politischen Ziehkinder zu behalten, denn die Faschistenchefs errichteten in ihren Städten eigene Machtbasen. Sein Kampf, aus aufsässigen, lokal verankerten gewalttätigen Vasallen eine nationale, hierarchisch gestaffelte, glatt funktionierende politische Organisation zu machen, sollte ihn die nächsten Jahre über beschäftigen.22

Angesichts der gelähmten Regierung löste der König das Parlament auf und setzte Neuwahlen für den 15. Mai 1921 an, nur eineinhalb Jahre nach den letzten. Der Wahlkampf fand inmitten einer Orgie faschistischer Gewalt statt, die Nord- und Mittelitalien sowie einige Regionen des Südens überschwemmte. Die Banden fuhren auf Lastwagen der Großgrundbesitzer vor, brannten sozialistische Klubs und Gewerkschaftssäle nieder und griffen deren Leiter an.23

In den fünf Wochen vor dem Wahltermin wurden 100 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt. Die Sozialistische Partei behauptete sich jedoch und gewann 122 Sitze, zu denen man die 16 Sitze der Kommunistischen Partei addieren könnte, die sich zu Beginn des Jahres von ihr abgespalten hatte. Die katholische Volkspartei, die ebenfalls von den Faschisten attackiert wurde, gewann 107 Sitze. Mussolini und die Faschisten waren eine Koalition mit Angehörigen der alten konservativen Elite eingegangen, vor allem dem Premierminister Giovanni Giolitti, der die Faschisten als Werkzeug ansah, um die Sozialisten zu kontrollieren. Gemeinsam gewannen sie eine Mehrheit von 275 Sitzen, darunter 35 für die Faschisten unter der Führung Mussolinis.24

Kurz nach dem Zusammentritt des neuen Parlaments hielt Mussolini seine erste Rede. Sie sollte sich als denkwürdig erweisen. Hunderte Millionen von Katholiken auf der ganzen Welt sahen nach seinen Worten Rom als ihre geistige Heimat an. Dies sei eine Kraftquelle, die Italien nicht ignorieren könne. Zur Bestürzung vieler, die ihn kannten, versprach er, der Faschismus werde beim Wiederaufbau der christlichen Gesellschaft mithelfen. Er werde einen katholischen Staat für ein katholisches Volk errichten.25

Mussolinis überraschende Annäherung an die Kirche kam ohne vorherige Absprache mit dem Vatikan. Bei dem Vorhaben, sich als größte Hoffnung des Landes zur Rettung vor den Sozialisten zu präsentieren, stand ihm die katholische Volkspartei im Weg. Damit der Papst sie aufgab, musste er ihn überzeugen, er könne der Kirche mehr helfen als die Volkspartei. Im November wurde die faschistische Bewegung formell zur Faschistischen Partei und nahm ein neues Programm an. Die Enteignung der Kirche war daraus ebenso verschwunden wie die Trennung von Kirche und Staat.26

Um die Unterstützung des Vatikans zu bekommen, benutzte Mussolini Versprechen – ein Ende des liberaldemokratischen Regimes und die Errichtung eines autoritären katholischen Staates – und Gewalt. Symbol dieser Gewalt war der gefürchtete manganello, der Holzknüppel, den die Schwarzhemden voller Stolz schwangen. Aus Sicht der Faschisten war die Volkspartei Teil eines größeren Netzwerks katholischer Organisationen auf dem Land, das ihnen im Weg stand. Auf lokaler Ebene gingen sie gegen Gruppen der Katholischen Aktion – katholische Laien- und Frauengruppen, die sich unter kirchlicher Aufsicht religiös engagierten – und gegen verschiedene katholische Kooperativen vor. Die squadristi sahen alle als willkommene Ziele ihrer blutigen nächtlichen Überfälle.

Im März 1922 schickten Priester aus der Gegend um Mantua im Norden einen Brief an die Behörden, in dem sie gegen die faschistischen Prügelattacken gegen Priester und katholische Aktivisten protestierten. Im folgenden Monat schlugen Faschisten in Bologna zwei Stadträte der Volkspartei zusammen. Ratti, der erst wenige Monate zuvor Papst geworden war, war besonders verärgert darüber, dass faschistische Schläger das Büro der Katholischen Aktion in seiner Heimatstadt Brianza verwüstet hatten.27 Und im Mai berichtete die römische Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica, eine Gruppe von Jungen sei eines Abends beim Verlassen eines katholischen Jugendklubs in Arezzo von einer Gruppe Faschisten mit Knüppeln und Peitschen angegriffen worden. In den kommenden Monaten brachte der Osservatore Romano, die vatikanische Tageszeitung, ständig ähnliche Meldungen über Angriffe auf Funktionäre der Volkspartei, katholische Klubs und Priester. Nie fiel der Name Mussolini, der sorgfältig auf Distanz zu diesen Überfällen blieb.28

Niemand verkörperte die Gewalt gegenüber der Kirche stärker als Roberto Farinacci, der Faschistenchef im norditalienischen Cremona; auch er einer der jungen Kriegsveteranen und früheren Sozialisten aus dem Kleinbürgertum, welche die Bewegung zunächst dominierten. Dieser faschistischste der Faschisten – wie er sich stolz nennen ließ – trug eine Pistole in einem Strumpfband unter dem Hosenbein. Er verkörperte nicht nur Überschwang, Gewalt, Intoleranz und Autoritarismus der Bewegung, sondern auch ihre antiklerikalen Wurzeln. Wenn Mussolini später den Vatikan bei der Stange halten musste, konnte er auf Farinacci zählen. Unterdessen war Mussolinis Botschaft klar: Er war der einzige in Italien, der gewalttätige Kirchengegner wie Farinacci unter Kontrolle halten konnte.29

Da die Sozialisten die Untätigkeit der Polizei sahen, wenn ihre Büros von marodierenden Faschisten angezündet und Funktionäre verprügelt wurden, beschlossen sie zu handeln. Am 29. Juli riefen sie zum Generalstreik auf und drohten, erst wieder an die Arbeit zurückzukehren, wenn die Regierung die Gewalt beende. Doch der Streik ging nach hinten los. Faschistische Banden stürmten Gewerkschaftssäle und zwangen Streikende, zurück an ihre Arbeit zu gehen. Am 3. August besetzten die squadristi das Mailänder Rathaus. Mussolini erklärte, nur die Faschisten könnten Italien davor bewahren, den Weg Russlands einzuschlagen.30

Angesichts eines Landes im Aufruhr, einer gelähmten Regierung und einer Polizei und Armee, die offen Sympathie für die Faschisten zeigten, waren sich der neue Papst und seine engsten Berater nicht mehr sicher, ob es klug sei, gegen Mussolinis Kreuzzug Widerstand zu leisten. Pius XI. hatte die Volkspartei nie unterstützt; obwohl sie mit dem Segen Benedikts gegründet worden war, erklärte sie stolz ihre Unabhängigkeit vom Vatikan. Pius XI. war auch weder ideologisch noch seinem Wesen nach ein besonderer Freund der parlamentarischen Regierungsform. Er glaubte, Italien müsse von einem starken Mann geführt werden, ohne die Kakophonie des Parteiengezänks. Wenn er sicher sein konnte, dass Mussolini einen größeren Einfluss der Kirche in Italien anstreben würde, wollte er ihm seine antiklerikale Vergangenheit vergeben. Neben dieser vorsichtigen Hoffnung hatte der Papst aber auch eine Sorge. Falls er sich gegen die Faschisten stellte und die Kirche die Volkspartei unterstützte, könnte Mussolini dann den Kirchenfeinden in seiner Partei eine Schreckensherrschaft über die Kirche erlauben? Hinter Mussolini standen viele Anhänger Farinaccis, fürchtete der Papst. Er gab sich nicht der Illusion hin, Mussolini gehe es um katholische Werte oder um irgendetwas anderes als seine persönliche Macht, wollte aber einen pragmatischen Handel eingehen, wenn er überzeugt war, Mussolini werde seine Versprechen halten.31

Am 2. Oktober 1922 sandte Kardinalstaatssekretär Gasparri einen Rundbrief an alle italienischen Bischöfe mit der Botschaft, die Priester sollten keine der politischen Parteien unterstützen. Während die Faschisten ihren Weg zur Macht planten, begann der Papst, die Kirche von der Volkspartei zu distanzieren.

Im Lauf des Monats spitzte die Lage sich zu. Am 16. Oktober berief Mussolini ein Treffen der Chefs der faschistischen Milizen ein, um die Aufstandspläne endgültig festzulegen. Einige faschistische Gruppen sollten Regierungsgebäude in den Großstädten besetzen, während andere sich an verschiedenen Orten zu einem Marsch auf Rom sammelten, um die Ministerien zu erobern.

Als künftiger Regierungschef sollte Mussolini an einem sicheren Ort bleiben, wo er die Berichte aus dem ganzen Land empfangen und nach dem Fall Roms einen dramatischen Einzug in die Stadt halten konnte. Die vier faschistischen Anführer Cesare De Vecchi, Italo Balbo, Michele Bianchi und Emilio De Bono – die dann im faschistischen Mythos zum „Quadrumvirat“ wurden – sollten den Marsch auf die Hauptstadt anführen. Die anderen Faschistenchefs würden in ihre Städte zurückkehren und die Besetzung von kommunalen Behörden organisieren.

Was Mussolini in den Stunden vor dem Aufstand tat und wo er sich aufhielt, ist nach wie vor umstritten. Nach der Standardversion des faschistischen Regimes ging er am Abend des 27. Oktober mit seiner Frau in die Mailänder Oper, um die Behörden in Sicherheit zu wiegen. Laut einer kleinen Variante der Geschichte begleitete Margherita Sarfatti, nicht Rachele, Mussolini in die Oper. Nach einem weniger schmeichelhaften Bericht versteckte Mussolini sich in Sarfattis Sommervilla am Comer See, um sich rasch über die Schweizer Grenze in Sicherheit zu bringen, falls der Aufstand fehlschlagen sollte.32

Man kann es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er etwas abgelenkt war, denn erst eine Woche zuvor war seine Tochter Elena geboren worden. Sein Verhältnis mit ihrer Mutter Angela Curti Cucciati hatte ein Jahr zuvor begonnen, mitten in der Affäre mit Margherita Sarfatti. Als einziges unter seinen unehelichen Kindern gewann Elena seine tiefe Zuneigung. Als er Jahre später sein unrühmliches Ende erwartete, war sie bei ihm.33

Ob er nun an seine neugeborene Tochter dachte oder nicht, Mussolini hegte in letzter Minute Zweifel über den Marsch auf Rom, weil er erkannte, dass ein Einsatz der Armee seine zusammengewürfelte Schlägertruppe leicht zerstören könnte. Nur wenige Wochen zuvor hatte ein hoher italienischer General vertraulich vorhergesagt, beim ersten Schuss der Armee „wird der ganze Faschismus in sich zusammenfallen.“34

Vielleicht zerstreute Margherita Sarfatti Mussolinis Zweifel. „Marschiert oder sterbt“, soll sie zu ihm gesagt haben. In jedem Fall war es zu spät für einen Rückzieher. Faschistische Banden waren in den Städten Nord- und Mittelitaliens bereits in Aktion.35

Obwohl der Marsch auf Rom vom 28. Oktober später von einer ausgefeilten faschistischen Mythologie überhöht wurde, waren die Angriffe auf Behördengebäude, die in der Nacht zuvor begannen, wichtiger. In Perugia ergab der Präfekt sich den Faschisten. In Cremona legten Farinaccis Leute die gesamte Stromversorgung lahm und besetzten dann das Polizeirevier, die Präfektur und andere strategische Punkte.36 Anderswo umstellten faschistische squadristi Polizeizentralen, Bahnhöfe und Telegrafenämter. Italienische Soldaten standen ihnen gegenüber, eröffneten aber nicht das Feuer, weil sie auf Befehle aus Rom warteten.


Bild 3: Mussolini und das faschistische Quadrumvirat in Neapel, 24. Oktober 1922. Vorne, von links nach rechts: Emilio De Bono, Michele Bianchi, Italo Balbo, Benito Mussolini, Cesare De Vecchi.

Nicht mehr als 26.000 Männer mit alten Armeegewehren und manche mit nichts anderem als Knüppeln erreichten die Vororte Roms. Ihre Begeisterung war vom heftigen Regen buchstäblich aufgeweicht. Die faschistische Legende sprach später von 300.000 Marschierern. Ihnen gegenüber standen 28.000 italienische Soldaten mit Maschinengewehren und gepanzerten Fahrzeugen.

Premierminister Luigi Facta, der wusste, dass nur ein militärisches Eingreifen den faschistischen Mob stoppen konnte, entwarf eine Erklärung des Ausnahmezustands. Truppen im ganzen Land sollten die squadristi zerstreuen und ihre Anführer festnehmen. Um 6 Uhr früh des 28. Oktober legte er die Anordnung dem rasch einberufenen Kabinett vor. Nach der einstimmigen Annahme wurden um 7 Uhr 50 die Präfekten im ganzen Land darüber informiert, dass binnen Kurzem der Ausnahmezustand erklärt werde. Um 8 Uhr 30 begann man in Rom mit dem Aushängen von Plakaten, die ihn verkündeten. Kurz vor 9 Uhr legte Facta im Quirinalspalast dem König die Anordnung zur Unterschrift vor. Doch Vittorio Emanuele III. weigerte sich zu unterschreiben. Facta war fassungslos. Sie hatten die Maßnahme am Vortag besprochen, und der König schien entschlossen zu sein, Rom gegen den Angriff der Faschisten zu verteidigen.37

Der König war ein seltsamer Charakter. Sein gleichnamiger Großvater Vittorio Emanuele II. hatte das moderne Italien gegründet. Seine savoyischen Truppen hatten am Sieg über die Österreicher im Norden und über die Truppen des Kirchenstaats im Herzen Italiens mitgewirkt. Für die Annexion des Kirchenstaats war der erste König Italiens exkommuniziert worden. Sein Sohn Umberto I. wurde im Jahr 1900 von einem italoamerikanischen Anarchisten aus New Jersey ermordet, worauf Vittorio Emanuele III. mit 30 Jahren den Thron bestieg. Der wegen seiner geringen Körpergröße verspottete Monarch mit dem mächtigen Schnurrbart – er maß kaum mehr als 1,50 Meter – fühlte sich als König nie sicher. Er war intelligent und gut informiert, scheute aber den Kontakt zu politischen Parteien und zum Parlament. Auch für den Papst und den Vatikan hatte er wenig übrig. Priester sollten vor allem als Seelsorger des Königs dienen. Seine Hauptstadt mit einem anderen Mann zu teilen, der Autorität über sie beanspruchte, fand er geschmacklos.

Wie die amerikanische Journalistin Anne McCormick schrieb, machte niemand in Italien weniger Unannehmlichkeiten als der König, der jede Publizität vermied, sich nicht in die Regierung einmischte und nur dann in der Öffentlichkeit erschien, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Einer der wenigen Anlässe, zu denen er sich in Rom zeigte, war die Parlamentseröffnung, an der er teilnehmen musste. 1921 beobachtete ihn McCormick dabei. Er erschien in einer gläsernen Kutsche, die von weißen Pferden mit juwelengeschmücktem Harnisch gezogen wurde, angekündigt von Trompetern. Als er das Parlament betrat und sich setzte, wirkte er „im Verhältnis zum Thron wie ein Zwerg … und als er den rotsamtenen Fußschemel wegschob …, ähnelte er einem unglücklichen kleinen Jungen, der auf einem zu großen Stuhl mit den Beinen baumelt.“38

Der König besaß ein starkes Pflichtgefühl, war aber vorsichtig und ängstlich. Als er am Morgen des 28. Oktober über seine Optionen nachdachte, befürchtete er, die Niederschlagung der Faschisten könne zu noch größerem Blutvergießen führen. Er wusste, dass er nicht auf seine Popularität bauen konnte, denn ihm fehlte sowohl das gebieterische Selbstvertrauen, das bei seinen Untertanen Ehrfurcht erzeugt hätte, als auch die Wärme, die ihre Zuneigung hervorgerufen hätte. In seinem tiefen Pessimismus meinte er, nicht auf die Loyalität der Armee zählen zu können. Er hielt es auch für klüger, wenn Mussolini der Regierung angehörte und sie nicht von außen bekämpfte. Nach Jahren sozialer Unruhen hielten viele hohe Offiziere und Unternehmer Mussolini für die beste Chance, die sozialistische Bedrohung zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen.39

Der gedemütigte Facta trat zurück. Der König versuchte zunächst, einen konservativen Ex-Premier zum Regierungschef zu ernennen und Mussolini und ein paar anderen Faschisten Ministersessel zu geben. Doch da faschistische Gruppen strategische Orte im größten Teil Nord- und Mittelitaliens besetzt hielten und der König beschlossen hatte, die Armee nicht einzusetzen, konnte Mussolini den Vorschlag rundweg ablehnen. Der König hatte keine Wahl und musste kapitulieren. Er lud den Faschistenführer ein, nach Rom zurückzukehren und eine Regierung zu bilden.

Mussolini kam mit dem Zug aus Mailand und trat am Morgen des 30. Oktober in der Hauptstadt aus seinem Schlafwagen heraus. Er ging im Schwarzhemd in den Palast und soll zum König gesagt haben: „Majestät, ich komme vom Schlachtfeld – zum Glück nicht mit Blut bedeckt.“ Erst nach der Ankunft ihres Anführers in Rom durften die nassen und müden Schwarzhemden die Stadt endlich betreten. Sie stolzierten durch die Straßen, sangen, brüllten, feierten und verwüsteten ein paar Parteibüros der Sozialisten.

In den folgenden Tagen stellte Mussolini sein Kabinett zusammen, wobei er die beiden wichtigsten Posten – das Innenministerium, dem Präfekten und Polizei unterstanden, und das Außenministerium – sich selbst vorbehielt. Dem Kabinett gehörten zwei Mitglieder der Volkspartei, dazu drei Faschisten und verschiedene Mitglieder der alten liberalen Elite an. Als Mussolini dem König seine Regierungsliste vorlegte, begann eine komplexe Beziehung, die mehr als zwei Jahrzehnte andauern sollte. Der urbane Monarch schien wenig mit dem Verfechter von Schlägertum und Gewalt gemein zu haben, einem Mann, der prahlte, er sei „unsozialisiert“.40 Er konnte sich auch nicht mit dem aufrührerischen Sohn eines Schmieds wohlfühlen, der jahrelang das Ende der Monarchie gefordert hatte. Doch er respektierte mit der Zeit Mussolinis Tatendrang, seine Fähigkeit, das Chaos im Land zu beenden, die persönliche Unbestechlichkeit und den Traum von der Wiederherstellung italienischer Größe.41

In einer seiner ersten Amtshandlungen führte Mussolini das Kabinett zu einer Messe am Grabmal des Unbekannten Soldaten vor dem Vittoriano, dem Nationaldenkmal in Rom. Dort befahl er den Männern, eine Minute zum Gebet niederzuknien. Vielen von ihnen „musste das sehr lang vorkommen“, spottete Kardinalstaatssekretär Gasparri. Mussolini wollte den Papst davon überzeugen, dass er offensiv handeln werde, um der Kirche ihre alten Vorrechte wiederzugeben. „Mussolini hat uns wissen lassen, er sei ein guter Katholik“, erklärte Kardinal Gasparri dem belgischen Botschafter.42

Mitte November stellte Mussolini sich einer Vertrauensabstimmung in der Abgeordnetenkammer. Obwohl es zu der Zeit nur 35 faschistische Abgeordnete gab, erhielt er 316 Stimmen. Der frühere Premierminister Giovanni Giolitti und andere Mitglieder des politischen Establishments glaubten immer noch, sie könnten Mussolini dazu benutzen, die Sozialisten zu zerschlagen, und dabei selbst die Kontrolle behalten. Abgeordnete der Volkspartei schlossen sich an, viele nur widerwillig. So kam Mussolini durch das legale Votum eines frei gewählten Parlaments an die Macht.

Er wirkte etwas seltsam, strahlte aber große Energie aus. Er hatte noch nicht den mächtigen Brustkasten, den er später gern für die Kameras entblößte, am liebsten auf einem Podium, zu Pferde oder mit einer Spitzhacke in der Hand. Sein Haaransatz war zurückgegangen, was ihm eine imposante Stirn verlieh, das schütter werdende Haar war zurückgekämmt und ohne Koteletten gerade über den Ohren geschnitten, der Schnurrbart schon lange verschwunden. Am meisten beeindruckte Beobachter aber seine außerordentliche Vitalität und sein scharfer, durchdringender Blick.

In den ersten Monaten als Regierungschef trug Mussolini ein kurzes schwarzes Jackett und enge Hosen, die unter den Knien eine tiefe Falte hatten. „Er muss ein armer Teufel sein“, bemerkte einer der Saaldiener im Palazzo Chigi, dem Sitz des Premierministers. „Er hat niemanden, der ihm die Hosen bügelt.“ Der Kontrast zu seinen Amtsvorgängern aus der liberalen Elite – ältere, graubärtige Männer in Maßanzügen, die an Komfort gewöhnt waren – konnte kaum größer sein. „Mussolini war ein ungewöhnlicher Minister“, erinnerte sich sein langjähriger Assistent Quinto Navarra. „Man glaubte, vor einem Wohnungslosen zu stehen, einem Journalisten mit tintenbefleckten Manschetten und abgelaufenen Absätzen.“43


Bild 4: Benito Mussolini, der neue Premierminister Italiens, November 1922.

Der frühere Premierminister Antonio Salandra beschrieb den rätselhaften Eindruck, den Mussolini machte: Eine seltsame Mischung aus Leutseligkeit und Vulgarität, der aufrichtige Ausdruck edler Gefühle gefolgt von niedrigen Instinkten nach Vergeltung und Vendetta, Unverblümtheit und Theatralik, sture Behauptungen gefolgt von plötzlichen Kurswechseln, eindringliche und effektive Eloquenz voller kultureller Anspielungen und überhebliche Ignoranz im Unterschichtenslang ausgedrückt. Was dem Ex-Premier aber am stärksten auffiel und was er für Mussolinis Triebfeder hielt, war der Kult der eigenen Person. Er zeigte außergewöhnliche Energie und einen eisernen Willen und versuchte, durch Intuition das Fehlen echter Kenntnisse für die Führung einer Regierung auszugleichen. Er war „eine Naturgewalt.“44

Kurz nach dem Amtsantritt musste Mussolini an einem offiziellen Empfang für die spanische Königsfamilie teilnehmen, der Art von Veranstaltung, die er hasste. Als er wie gewöhnlich unrasiert erschien, starrte Königin Elena, die sehr auf Formen bedachte Gemahlin Vittorio Emanueles, ihn zornig an. Es war sicher nicht das einzige Mal, dass ihr seine mangelnde persönliche Hygiene auffiel. Ebenso wenig konnte Mussolini sich an die bürgerliche Sitte des täglichen Badens gewöhnen, was er durch die (über-)reichliche Verwendung von billigem Kölnisch Wasser ausglich.

Bei der Vorbereitung auf eines seiner ersten diplomatischen Diner in der britischen Botschaft suchte Mussolini den Rat von Baron Russo, einem aus der vorigen Regierung übriggebliebenen Assistenten.

„Es ist ganz einfach, Exzellenz“, erklärte der Baron. „Sie sitzen neben der Frau des britischen Botschafters. Beobachten Sie jede ihrer Bewegungen. Benutzen Sie denselben Löffel, dasselbe Messer, dieselbe Gabel wie sie. Tun Sie alles, was sie tut.“

Bei der Ankunft im großen Saal der Botschaft stand Mussolini im Zentrum der Aufmerksamkeit, fühlte sich aber unbehaglich. Seine finstere Miene und die hervorquellenden Augen wirkten bei seinen Demonstrationen, aber unter den Diplomaten im Smoking riefen sie weniger Begeisterung hervor. Sein Gastgeber, der britische Botschafter Sir Ronald Graham, hatte Mussolinis Posen schon früher bemerkt. Als er seine ersten Eindrücke über den neuen italienischen Premierminister nach London schickte, gab er zu, es habe ihn abgestoßen, dass Mussolini bei öffentlichen Auftritten „übertriebene Posen und Manieren zeigte, die nur als napoleonisch bezeichnet werden können.“ Er führte aus: „Er stolzierte mit quer über der Brust liegendem Arm herum, die Hand im Jackettaufschlag; sein Blick war starr, er lächelte nie und schien in wilde Schwermut gehüllt.“45

Bei Grahams Empfang schaffte es Mussolini durch das 8-Gänge-Menü, indem er die Botschaftergattin Lady Sybil beobachtete. Sie merkte bald, was er tat, da er jede ihrer Bewegungen mit Messer und Gabel kopierte. Obwohl er einen Moment zögerte, als sie ihre kleine Suppentasse zum Mund führte, statt einen der unzähligen Löffel zu benutzen, tat er dann dasselbe.

Als er sich schließlich verabschiedete, dankte er ihr, und sie spielte indirekt auf ihre Hilfe an.

„Ich war nur einmal verwirrt“, sagte Mussolini.

„Und wann?“, fragte sie.

„Ich wusste nicht, dass die Engländer ihre Suppe wie Bier trinken.“46

Kaum mehr als ein Jahr nach seiner ersten Wahl ins Parlament und acht Jahre nach dem Ausschluss aus der Sozialistischen Partei war der 39 Jahre alte Sohn eines Schmieds zum mächtigsten Mann Italiens geworden. Die Jahre zuvor waren von zügelloser Gewalt und beängstigender Unsicherheit geprägt gewesen. Manche erhofften sich von dem Faschistenchef eine Rückkehr zur Normalität. Für andere verkörperte er die Drohung einer neuen Art von sozialer Kriegführung. Wohin er sie führen würde, konnte sich damals niemand vorstellen.

Der erste Stellvertreter

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