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Kapitel 4 Zum Befehlen geboren

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Im Frühjahr 1923 befand sich die Volkspartei in einer unhaltbaren Lage. Sie war vor allem von der Unterstützung der Kirche abhängig, doch der Papst hatte beschlossen, diese zu beenden. Im April schrieb der Osservatore Romano auf Weisung des Papstes, dass angesichts von Mussolinis Anstrengungen für die Kirche keine katholische Partei mehr nötig sei. Im selben Monat nahm La Civiltà Cattolica den neuen Kurs des Vatikans auf und sang ein Loblied auf die faschistische Regierung: „Die Rufe ‚Nieder mit dem Bolschewismus!‘ von Mussolinis Garden ziehen Unterstützer und Sympathie aus allen Ecken Italiens an. … Das Denken, Fühlen und Handeln des Faschismus ist einfach ein Protest und eine Revolte gegen den Sozialismus.“ Die Zeitschrift lobte Mussolini für seine Anstrengungen, Ordnung, Hierarchie und Disziplin wiederherzustellen. „Der Faschismus versucht, geistigen Werten wieder den Ehrenplatz zu geben, den sie einmal einnahmen, vor allem im Kampf gegen den Liberalismus, um den wichtigsten aller Werte, die religiöse Erziehung und die katholische Inspiration der Nation wiederherzustellen.“1 Mussolini war ermutigt durch diese Zeichen, dass der Papst die Volkspartei für verzichtbar hielt, und erklärte ein Ultimatum. Wenn die Partei ihn nicht uneingeschränkt unterstütze, werde er ihre beiden Minister entlassen und die Partei aus seiner Koalition werfen. Als Parteigründer Don Luigi Sturzo und seine Kollegen sich weigerten, wurden die Minister entlassen.2

Der Papst hielt es jetzt für untragbar, dass Sturzo weiterhin die Volkspartei anführte. Der katholische Corriere d’Italia aus Rom druckte den Appell eines vatikanischen Geistlichen, er möge zurücktreten. Die Leser vermuteten, dass dieser vom Papst persönlich kam.3

Hinter den Kulissen forderte Pius tatsächlich Sturzos Rücktritt, doch der Priester fügte sich nur zögernd. Voller Ungeduld schickte der Papst seinen Mittelsmann Tacchi Venturi zu Mussolini.4 Sturzo beschwerte sich, durch die Rücktrittsforderung untergrabe der Papst die einzige Partei, „die wirklich von christlichen Prinzipien des bürgerlichen Lebens inspiriert ist und … heute dazu dient … die willkürliche Herrschaft der Diktatur zu beschränken.“ Dieser Appell machte auf Pius XI. keinen Eindruck.5

Widerwillig gehorchte Sturzo dem päpstlichen Befehl. Der Papst schickte Tacchi Venturi, um den Zeitplan für die öffentliche Ankündigung mit Mussolini auszuarbeiten und die Nachricht unauffällig in der Presse erscheinen zu lassen. Die Regierung dürfe keinesfalls „mit einem Sieg prahlen“, sagte der Papst.6 Im Lauf der nächsten 24 Stunden orchestrierte der Jesuit gemeinsam mit Mussolini die Entfernung Sturzos.7

Pius hatte gehofft, wenn man Mussolini auf diese Art nachgebe, werde die kontinuierliche Gewalt gegen Aktivisten der Volkspartei und Priester aufhören, aber sein Handeln hatte die gegenteilige Wirkung. Als klar wurde, dass der Papst der Volkspartei die Unterstützung der Kirche entzog, sahen sich die Parteimitglieder immer stärker isoliert und den Übergriffen der squadristi ausgesetzt. Ende August verkündete eine faschistische Zeitung, der Hauptfeind des Regimes sei nicht mehr der Sozialismus, sondern die Volkspartei. Bald waren faschistische Banden auf der Jagd.

Giovanni Minzoni war der junge Gemeindepriester einer kleinen Stadt bei Ferrara, etwa 40 Kilometer nordöstlich von Bologna. Er hatte im Ersten Weltkrieg seinen Mut als Militärkaplan an der Front bewiesen, und seine Beliebtheit bei der örtlichen Jugend und sein Engagement für die Volkspartei behinderten die Rekrutierung der Faschistischen Partei in der Stadt. Als er eines Nachts durch eine dunkle Gasse zum Gemeindesaal ging, merkte er, dass er verfolgt wurde. Bevor er sich umdrehen konnte, griffen ihn zwei Männer an, schlugen ihm Knüppel über den Kopf und flüchteten. Blutüberströmt versuchte der Priester sich aufzurappeln, stürzte aber wieder. Irgendwie kam er auf die Beine und wankte zu seiner Kirche, brach aber kurz vorher bewusstlos zusammen. Erschrockene Gemeindemitglieder fanden ihn mit eingeschlagenem Schädel, aber noch lebend und trugen ihn hinein. Um Mitternacht war er tot.

Wie üblich machte Mussolini unbekannte „Mörder“ für die Attacke verantwortlich, die man gnadenlos verfolgen und vor Gericht stellen werde. Obwohl man die Männer fand, wurden sie nie bestraft.8 Der Erzbischof von Ferrara blieb Minzonis Begräbnis fern und schickte stattdessen einen faschistischen Priester. Die Tageszeitung des Vatikans erwähnte den Mord kurz und bemerkte, die Nachricht habe Mussolini betrübt.9 Pius schwieg und akzeptierte Mussolinis Behauptung, die Gewalt sei das Werk von „Idioten“ und „undisziplinierten Kameraden“.10

Mitte August, auf dem Höhepunkt der jüngsten Gewaltwelle, traf der belgische Botschafter beim Heiligen Stuhl, Eugène Beyens, mit dem Papst zusammen und sah, dass dieser sich über die Gefahr des Kommunismus mehr Sorgen machte als über die Bedrohung durch faschistische Gewalt. „Nichts ist für die Zivilisation tödlicher als der Kommunismus“, sagte Pius. „Im Laufe weniger Tage zerstört er das Werk von Jahrhunderten.“ Nur wenn Frankreich, Belgien und Deutschland – trotz ihrer nur kurz zurückliegenden Feindschaft – eine Allianz schlössen, lasse sich der Vormarsch des Kommunismus stoppen. „Mussolini ist kein Napoleon, vielleicht nicht einmal ein Cavour“, bemerkte der Papst, „aber er allein verstand, was nötig war, um sein Land von der Anarchie zu befreien, die ein machtloses parlamentarisches System und drei Jahre Krieg erzeugt hatten.“ Er fügte hinzu: „Sie sehen, wie er die Nation hinter sich gebracht hat. Möge er Italien wiederbeleben! Solche für die Größe bestimmten Männer, die den Frieden bringen können, fehlen uns heute. Möge Gott uns bald noch mehr solcher Fackelträger senden, damit sie die Menschheit führen und erleuchten!“11

Schon in diesen frühen Jahren, als er nur Premierminister einer Koalitionsregierung war, versuchte Mussolini einen Personenkult aufzubauen. Er erschien nun häufiger in seiner Uniform als Chef der faschistischen Miliz mit Schwarzhemd und Schaftstiefeln.12 Durch seinen sozialen Hintergrund hatte er Sport als Zeitvertreib der Elite angesehen, nicht als etwas für Menschen wie ihn, doch nun begann er mit Skifahren, Fechten, Rennwagenfahren, Rudern, Reiten und Tennis. Seine Flugstunden hatten 1920 einen Rückschlag erlitten, als er eine Bruchlandung machte, aber er trug nur leichte Verletzungen davon. Als Fechter zeigte er Talent, weniger aber als Tennisspieler, obwohl er einen Weltmeister als Privatlehrer hatte. Viele der Fotos von Skipisten zeigen ihn mit Skistöcken, aber nicht nur ohne Hemd, sondern auch ohne Ski, was erkennen lässt, wie sicher er sich dabei fühlte.13

Da seine Familie zur Fettleibigkeit neigte, war Mussolini in Sorge, dick zu werden. Er aß wenig Fleisch, trank keinen Alkohol und wog sich täglich. Alarmiert vom Zunehmen seiner Schwester setzte er seinen rauen Charme ein, um sie zu einer Diät zu bewegen, anscheinend nicht sehr wirkungsvoll. „Ich habe deine neusten Fotos gesehen“, schrieb er ihr 1925. „Du bist schrecklich fett geworden. Du musst unbedingt abnehmen. Beschränk dich auf das Notwendige wie ich, denn Fett ist nicht nur ungesund, es bringt einen um.“14 Voller Unwillen über sein schütter werdendes und zurückgehendes Haar rieb er seine Kopfhaut mit verschiedenen Mitteln ein und sah jeden Morgen nervös nach, ob sie etwas genützt hatten. Jahre später gab er diesen Kampf auf und rasierte sich den Kopf, um wie ein römischer Kaiser auszusehen.15

Wenn Rachele ihn damit aufzog, dass er jeden Morgen reichlich Kölnisch Wasser über Gesicht und Körper verteilte, antwortete er, ein Mann, der für Frauen nicht attraktiv sei, sei wertlos.16 Rachele und die drei Kinder Edda, Vittorio und Bruno waren nicht mit ihm nach Rom gekommen, und er hatte es nicht eilig, sie nachzuholen. Zunächst hatte er im Hotel Savoia gewohnt, dann im Grand Hotel, während Margherita Sarfatti ins nahegelegene Hotel Continental zog. Als Mussolini zum ersten Mal aus dem Hotel schlich, um sie zu besuchen, alarmierte sein Fahrer die Leibwächter. Wenig später bewachten Pagen, die verdächtig wie Polizisten in Zivil aussahen, das Continental, um Mussolinis verstohlene Besuche zu bewachen.17

„Mein über alles Geliebter!“ begann der Brief, den Sarfatti am Neujahrstag 1923 auf Hotelpapier schrieb, zwei Monate nach seinem Amtsantritt. „Ich will das Jahr damit beginnen, deinen Namen auf ein Blatt Papier zu schreiben: Benito, meine Liebe, mein Liebhaber, mein Geliebter. Ich rufe es laut aus, ich bin stolz, dir ganz und gar zu gehören, leidenschaftlich und bedingungslos.“ Immer wenn Mussolini es einrichten konnte, besuchte er Sarfatti in ihrem Sommerhaus in den Hügeln am Comer See. Dort unternahmen sie lange Spaziergänge und Ausritte, wobei in diskreter Entfernung sein Leibwächter folgte. Schwieriger für seine Polizeieskorte wurde es, wenn Mussolini, der gerne schnell Auto fuhr, mit Margherita und ihrer vierzehnjährigen Tochter eine Fahrt in seinem Alfa Romeo machte.18

Margherita fand bald eine Wohnung für Mussolini in Rom, wo sie ungestörter waren, und auch eine Haushälterin namens Cesira Carocci. Sie war eine zähe, kurzhaarige Frau, groß, dünn und ohne alle Umgangsformen, die bald den Spitznamen la ruffiana, die Kupplerin, erwarb. Sie war Mussolini treu ergeben und half nicht nur beim Arrangieren von Margheritas Besuchen, sondern auch denen anderer Frauen.

Mussolini brauchte keinen Luxus, und seine schäbige Wohnung hatte nicht einmal eine Küche. Im Wohnzimmer, in dem laut seinen Besuchern der süßliche Duft von billigem Kölnisch Wasser hing, stand ein Tisch mit seinen Violinen. Als Edda noch ein Baby war, stand er oft an ihrer Wiege und spielte, bis sie einschlief. Wenn er später auf den Wagen wartete, der ihn in sein Büro brachte, zog er manchmal sein mechanisches Klavier auf und spielte eine Violinbegleitung dazu.19

Angesichts der vielen längeren Affären Mussolinis, dazu zahlreicher One-Night-Stands – die aber eher am Nachmittag stattfanden –, ist es erstaunlich, dass er nicht nur die Zeit hatte, die Regierung zu leiten, sondern sich auch um die trivialsten Details zu kümmern. Er vertraute keinem anderen als seinem Bruder Arnaldo, der nun Il Popolo d’Italia leitete und mit dem er jeden Abend telefonierte, und in geringerem Maße Sarfatti. Jeden Tag arbeitete er sich durch einen großen Stapel politischer Mitteilungen und Polizeiberichte, traf mit vielen Leuten zusammen und las zahlreiche Zeitungen. „Ich habe die Angewohnheit, alle italienischen Zeitungen zu lesen, auch die, die es nicht wert sind“, sagte er zu einem Abgeordneten.20

Frühere Premierminister entstammten der adligen oder häufiger der bürgerlichen Elite, hatten keine Massenbasis und sorgten sich wenig bis gar nicht um ihre Popularität. Die Idee, durchs Land zu reisen und öffentliche Reden zu halten, wäre ihnen abgeschmackt vorgekommen, wenn sie auch nur daran gedacht hätten.

In diese Welt trat der frühere sozialistische Aufrührer aus Mailand, der Sohn eines Schmieds, der mit seiner bescheidenen Herkunft prahlte, ein Mann, der eine virile, volkstümliche Anziehungskraft ausstrahlte. Bald reiste Mussolini von Stadt zu Stadt – in Orte, wo noch nie ein Premierminister gewesen war – und hielt vor der neugierigen Menge seine hypnotisierenden Stakkatoreden. Er wurde zu einem Meister der Massenhypnose. Besser als alle seine Vorgänger verstand er, dass Menschen vor allem von Emotionen beherrscht wurden und dass ihre Wirklichkeit weniger mit der äußeren als mit der symbolischen Welt zu tun hatte, die er für sie erzeugen konnte.

In Cremona benutzte er das, was zu einem seiner wirksamsten rhetorischen Mittel werden sollte, eine ritualisierte Frage an die Menge:

„Wem gehört der Sieg?“, brüllte er

„Uns!“, antwortete sie.

„Wem gehört der Ruhm?“

„Uns!“

„Wem gehört Italien?“

„Uns!“21

Von Mai bis Oktober 1923 bereiste Mussolini Städte und Dörfer, von Venedig, der Lombardei und dem Piemont im Norden über die Emilia, Toskana und die Abruzzen bis nach Neapel im Süden und auch die beiden großen Inseln Sizilien und Sardinien. Kein Premierminister hatte in den sechs Jahrzehnten, seit Sardinien zu Italien gehörte, dort einen offiziellen Besuch gemacht. Im Jahr darauf wiederholte er die Reise. Die Menschen sehnten sich nach einem starken Anführer, einem Retter, der Stabilität, Ordnung und eine hellere Zukunft bringen würde. Die Wohlhabenderen sahen in ihm den Mann, der die kommunistische Bedrohung gestoppt hatte. Für die übrigen war er der figlio del popolo (Sohn des Volkes), einer von ihnen.22

Die ausländischen Diplomaten in Rom sahen in Mussolini eine faszinierende, aber rätselhafte Figur. Der belgische Botschafter beim Heiligen Stuhl hielt seine Beobachtungen bei einem diplomatischen Empfang fest. Mussolini stand mitten im Raum mit vorgestrecktem Kinn und sagte zu denen, die ihn begrüßten, nur wenige Worte. „Sein ernstes, hochmütiges Gesicht und seine düstere Haltung waren undurchdringlich. Man las auf seiner Bronzemaske und in den harten Augen nur eine seltene Energie.“ Der Botschafter erinnerte sich, dass er einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ: „Von diesem Abend blieb mir die Kälte verbreitende Vision eines Mannes, der gegen jede Furcht und jedes Gefühl immun zu sein scheint.“23

Im Umgang mit dem Papst setzte Mussolini seine gut austarierte Mischung aus Druck und Belohnung fort. Während Schlägerbanden Funktionäre und Büros der Volkspartei angriffen, stellte er sich als den Einzigen dar, der diese übereifrigen Faschisten kontrollieren konnte. Gleichzeitig überschüttete er die Kirche mit Geld und Privilegien. Er setzte ein neues Gesetz durch, das es der Polizei erlaubte, jeden Chefredakteur zu entlassen, dessen Zeitung es an Respekt gegenüber dem Papst oder der katholischen Kirche fehlen ließ. Er beugte sich der Forderung des Vatikans, nur von der Kirche genehmigte Bücher für den Religionsunterricht in den Schulen zu benutzen. Er stimmte der Schließung der Spielhallen zu. Er ließ die Katholische Universität in Mailand staatlich anerkennen, erklärte seine Gegnerschaft gegen die Scheidung und rettete die Banca di Roma, die eng mit dem Vatikan verbunden war und vor dem Bankrott stand. In den Schulen wurden wieder Kruzifixe aufgehängt und kirchliche Feiertage in den staatlichen Kalender aufgenommen. Er unterstützte großzügig den Wiederaufbau von Kirchen, die im Krieg beschädigt worden waren. Die Liste ließe sich fortsetzen.24

Der Papst wusste sehr wohl, dass die Unterstützung, die Mussolini im Gegenzug von der Kirche erhielt, unbezahlbar war. Im September 1923 legte der Vatikan dies in einem „Programm der Zusammenarbeit der Katholiken mit der Regierung Mussolini“ nieder. Mussolini hatte erkannt, so das Dokument, dass es ihm nützen werde, wenn er weniger abhängig von den Faschisten sei, die ihn an die Macht gebracht hatten. Sie seien ein undisziplinierter Haufen, den er nicht völlig kontrollieren könne. Er brauche „eine neue Masse“ zu seiner Unterstützung, am besten Katholiken, die an Befehle von oben gewöhnt waren. Einige in der Kirchenhierarchie seien anfangs zwar skeptisch gewesen, müssten aber nun ihren Irrtum eingestehen: „Sie mussten zugeben, dass keine italienische Regierung und vielleicht keine auf der ganzen Welt in einem einzigen Jahr so viel für die katholische Religion hätte tun können.“

Das war nicht der einzige Grund, warum der Vatikan Mussolini unterstützte: „Katholiken können nur mit Schrecken daran denken, was in Italien geschehen könnte, wenn die Regierung des Ehrenwerten Mussolini vielleicht durch subversive Kräfte gestürzt würde, darum haben sie allen Grund, sie zu unterstützen.“ Die Anweisung des Vatikans endete: „Die Bildung einer katholischen Massenunterstützung für die Regierung des Ehrenwerten Mussolini erscheint in jeder Hinsicht als die verlässlichste und beruhigendste Kombination, die in Italien vorstellbar ist.“25

Im November verwüsteten Faschisten auf Anweisung Mussolinis das Haus des früheren Premierministers Francesco Nitti im Herzen von Rom. Die Polizei griff nicht ein, und die Angreifer stolzierten triumphierend durch die Straßen. Im Dezember wurde Giovanni Amendola, ein früherer Kabinettsminister und weithin respektierter Chef der liberalen Opposition im Parlament morgens in der Nähe seines Hauses attackiert. Vier Faschisten schlugen ihn mit Knüppeln auf Genick und Gesicht, sprangen dann in ein wartendes Auto und rasten davon. Im Bericht über das Attentat erklärte Mussolinis Zeitung Il Popolo d’Italia, Amendola habe nur bekommen, was er verdiene. Ob Mussolini den Angriff selbst befahl, ist nicht bekannt, aber dies war Teil einer größeren Einschüchterungskampagne, die er stark ermutigte.26

Nördlich von Italien regte die faschistische Revolution andere Mussolini-Bewunderer zur Gewalt an. Am 8. November versuchte der 34 Jahre alte Aufwiegler Adolf Hitler den Marsch auf Rom vom vergangenen Jahr zu imitieren, indem er in München in einem großen Bierkeller eine Revolution ausrief. Die NS-Bewegung hatte bereits den Gruß der italienischen Faschisten übernommen. Hitlers Anhänger, die „Sieg Heil“ brüllten, bis sie heiser waren, konnten das Polizeipräsidium besetzen, scheiterten aber dabei, das bayerische Kriegsministerium in Besitz zu nehmen. Zehn Menschen kamen ums Leben, und Hitler wurde festgenommen. Er saß ein Jahr lang im Gefängnis und nutzte die Zeit, um sein Manifest Mein Kampf zu schreiben. Damals hatte Mussolini noch keine Ahnung, dass sein Schicksal eines Tages mit dem des inhaftierten deutschen Aufrührers verknüpft sein würde.

Im April 1924 bereitete Italien sich auf neue Wahlen vor, die ersten seit Mussolinis Amtsantritt. Die faschistische Gewalt explodierte. Während er Prügel und Schlimmeres für seine Gegner anordnete, führte Mussolini weitere Maßnahmen zum Nutzen der Kirche durch. Eine neue Liste staatlicher Feiertage enthielt mehrere katholische Feiertage, die der Staat nie zuvor anerkannt hatte. Mussolini unternahm auch die ersten Schritte gegen protestantische Organisationen, die, wie er wusste, dem Papst gefallen würden. Er verbot es den Methodisten, eine große Kirche in Rom zu bauen, und lehnte den Antrag des CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen) ab, Zentren in Italien zu eröffnen. Katholische Seminaristen wurden vom Wehrdienst ausgenommen, und drei Wochen vor der Wahl erhöhte er die staatlichen Zahlungen an Italiens Bischöfe und Priester drastisch, was diesen nicht missfiel.27

Anfang April erklärte La Civiltà Cattolica, das inoffizielle Sprachrohr des Vatikans, im letzten Heft vor den Wahlen, das Fehlverhalten einiger kirchenfeindlicher Mitglieder der Faschistischen Partei dürfe nicht die Tatsache überdecken, dass Mussolini unermüdlich an der Verbesserung der Beziehungen zwischen Regierung und Kirche arbeitete. Die Zeitschrift erinnerte ihre Leser an alle Vorteile, welche die Faschisten schon für die Kirche gebracht hätten, im Vergleich zu dem wenigen, was die Volkspartei erreicht hätte.28

Am 6. April fanden die Wahlen statt. In seinem Machtzentrum Ferrara gab Italo Balbo, einer der Angehörigen des Quadrumvirats beim Marsch auf Rom, seinen Schwarzhemden Anweisungen. Vor jedem Wahllokal sollten sie den ersten Wähler, der herauskam, packen und mit den Worten zusammenschlagen: „Du Schwein, du hast die Sozialisten gewählt.“ Vielleicht hatte der arme Teufel ja für die Faschisten gestimmt, aber „dann hat er eben Pech gehabt“, sagte Balbo.29

Nach den Attacken auf Oppositionskandidaten, dem Niederbrennen oppositioneller Zeitungen und der Zerstörung von Wahlzetteln mit Gegenstimmen gewann die faschistische Liste – auf der auch sympathisierende Nichtfaschisten standen – zwei Drittel der Stimmen. Die Faschisten allein gewannen 275 Sitze und damit die absolute Mehrheit, auch ohne Verbündete. Bei den Oppositionsparteien bekam die Volkspartei 39 Sitze, die Sozialisten 46 und die Kommunisten 19. Ein paar Sitze gingen an Republikaner, Liberale und verschiedene andere kleine Gruppen. Mussolini triumphierte: „Das ist das letzte Mal, dass es so eine Wahl geben wird. Beim nächsten Mal werde ich für alle wählen.“30

Am nächsten Tag griffen faschistische Banden Aktivisten der Volkspartei und Priester in den Orten an, wo die Partei gut abgeschnitten hatte. In einer kleinen Stadt bei Venedig kamen uniformierte Faschisten nachts zum Haus eines solchen Priesters. Als sie nur seine Schwester vorfanden, schlugen sie sie und dazu auch den Hilfskaplan.

Von solchen Attacken auf Geistliche und katholische Organisationen verärgert, bereitete jemand im Vatikanischen Staatssekretariat ein Rundschreiben vor, das an alle Bischöfe Italiens gehen sollte, um sie anzuweisen, nicht an den geplanten faschistischen Siegesfeiern teilzunehmen und vor allem keine besonderen Dankgottesdienste für die Faschisten zu feiern. Doch obwohl das Rundschreiben gedruckt wurde, verließ es niemals den Vatikan. Am Rand des Entwurfs (das nun im Archiv aufgefunden wurde) steht die handschriftliche Notiz: „Dies soll nicht mehr verschickt werden. Auf Anordnung des Monsignore Sekretär.“ Gasparri hatte, ohne Zweifel nach einer Beratung mit dem Papst, beschlossen, es sei das Beste, nichts zu tun, was Mussolini verärgern könnte.31

Pius XI. hatte inzwischen seinen Arbeitsstil entwickelt. Seine Untergebenen lebten in nervöser Angst vor seinem Tadel. Er war kurz angebunden gegenüber jenen, die ihm missfielen, und auch von den höchsten Staatsoberhäuptern nicht eingeschüchtert. Als der spanische König Alfonso XIII. ihn im Vatikan besuchte, machte er den Fehler, den Papst um die Ernennung von mehr südamerikanischen Kardinälen zu bitten; es gab nur einen für den ganzen Kontinent. Durch diesen, seiner Meinung nach unpassenden Einmischungsversuch verärgert, beschloss Pius, die geplante Ernennung seines Majordomus Monsignore Ricardo Sanz de Samper aus Kolumbien zum Kardinal abzusagen. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, als beuge er sich dem König.32

Manchmal konnte ein Besucher aber kurz ältere Leidenschaften des Papstes wachrufen. Pius lud den französischen Intellektuellen Jean Carrère zu einer Privataudienz ein und fragte ihn nach seiner Meinung über verschiedene französische und italienische Schriftsteller. Während er antwortete, blickte der Papst ihn nach den Worten Carrères mit einer ernsten Miene „höflicher Überlegenheit“ an. Doch dann erwähnte Carrère Manzoni und nannte Die Verlobten eines der größten Meisterwerke. Bei diesen Worten schien es ihm, „als würde mein erlauchter Gesprächspartner sich verwandeln. Bis dahin hatte er höfliches Wohlwollen gezeigt, nun lächelte er und wurde zugänglich.“ Manzoni war nach den Worten des Papstes nicht nur ein großer Erzähler, sondern auch ein großer Lyriker, und zu Carrères Entzücken begann der weißgewandete Pontifex, Manzoni-Verse in weichem, musikalischem Rhythmus zu zitieren.33

Wo Benedikt XV. von der Last seines Amtes überwältigt schien, suggerierte Pius XI. die Kraft eines Bergsteigers. Confalonieri, der Priester, den er als Privatsekretär aus Mailand mitgebracht hatte, sah ihn zum Befehlen geboren. Er strahlte Autorität aus, wie der französische Botschafter später bemerkte.34 Der Papst war auch sehr auf korrekte Abläufe bedacht. Als er eines Nachmittags durch die Vatikanischen Gärten spazierte, sah er auf dem Weg einen Umschlag mit der großen Aufschrift FÜR SEINE HEILIGKEIT liegen. Der Erzbischof von Bologna, der ihn an diesem Tag begleitete, bückte sich, hob ihn auf und wollte ihn dem Papst überreichen.

„Legen Sie ihn wieder hin“, fuhr Pius XI. ihn an. „Das ist nicht die richtige Art, Briefe zu schicken.“

Der Erzbischof legte den Umschlag wieder auf den Weg, und sie setzten ihren Spaziergang fort.35

Obwohl der Papst viele Jahre in Bibliotheken verbracht hatte, war sein Charakter laut Monsignore Confalonieri nicht der eines Bibliothekars, sondern eines kleinen Geschäftsmanns. Der junge Priester schrieb das den Wurzeln des Papstes zu, denn die Industrieregion, aus der er stammte, war für solche Männer bekannt. Pius XI. dachte in konkreten Begriffen und mochte keine Improvisationen. Er bestand darauf, alles präzise zu durchdenken, und studierte sorgfältig alle Berichte, die auf seinen Tisch kamen. Hatte er einmal eine Entscheidung getroffen, so blieb er dabei. Kritik machte ihn nur noch entschlossener. Der frühere Kardinalstaatssekretär Merry del Val beklagte sich, der Papst sei „störrisch wie ein Maulesel.“1

Trotz aller offensichtlichen Unterschiede hatten der Papst und Mussolini vieles gemein. Beide konnten keine echten Freunde haben, denn Freundschaft implizierte Gleichheit. Beide bestanden auf Gehorsam, und ihre Umgebung fürchtete stets, etwas zu sagen, das ihnen missfallen könnte. Sie waren ein seltsames Paar, aber der Papst hatte rasch erkannt, dass es nützlich war, sich mit dem früheren „Priesterfresser“ zu verbünden. Damit war ein Jahr nach dem Marsch auf Rom aus der faschistischen Revolution eine klerikal-faschistische geworden. Eine neue Partnerschaft hatte begonnen. Sie wurde aber schon bald bedroht, denn es sollte etwas geschehen, das fast zu Mussolinis Sturz geführt hätte.

Der erste Stellvertreter

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