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Kapitel 6 Die Diktatur

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Am Tag von Mussolinis Parlamentsrede besetzten faschistische Milizionäre die Zentralen der letzten antifaschistischen Parteien und Zeitungen.1 Oppositionsführer wurden festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.2 Die Prügelattacken gegen Oppositionspolitiker gingen weiter. Das meiste Aufsehen erregte im Sommer der faschistische Angriff auf Giovanni Amendola, den Chef der Liberalen im Parlament, der schon einmal zusammengeschlagen worden war. Er starb einige Monate später an seinen Verletzungen.3

Da er sich des Werts einer fortgesetzten starken Unterstützung durch den Vatikan bewusst war, suchte Mussolini nach Wegen, seine Allianz mit dem Papst zu festigen. Nach der Taufe seiner ganzen Familie und der Erstkommunion und Firmung seiner Kinder gingen ihm die Zeremonien aus, um zu zeigen, dass er ein guter Katholik war. Eine blieb ihm aber noch. Im Juli sagte er Tacchi Venturi, er wolle Rachele kirchlich heiraten, wahrscheinlich im September.

Der Jesuit war entzückt, denn er wusste, die Nachricht würde Pius XI. gefallen. Als der September aber halb vorüber war und er noch nichts gehört hatte, fragte er schriftlich an, was los sei. „Ich zweifle Ihren guten Willen nicht im geringsten an“, schrieb der Jesuit an Mussolini, aber wenn die Hochzeit innerhalb der nächsten Wochen arrangiert werden könne, „wird es dem Heiligen Vater und nicht wenigen hohen Persönlichkeiten, die Eurer Exzellenz aufrichtig wohlgesonnen sind, besondere Genugtuung bereiten.“

Die Verzögerung war womöglich durch Rachele verursacht, die eine tiefe Antipathie gegen die Kirche hegte. Als Mussolini wenige Jahre zuvor auf ihrer Taufe bestanden hatte, musste er sie praktisch in die Kirche schleifen. Er hatte überall die Macht, außer in der eigenen Familie, und beschloss daher, seine Frau zu überrumpeln. Am 29. Dezember 1925 kochte Rachele in ihrer Mailänder Küche gerade Tagliatelle, als das Hausmädchen ihr sagte, Mussolini habe seinen Bruder Arnaldo und einen Priester mitgebracht und sie solle zu ihnen ins Wohnzimmer kommen. Das untypische Erscheinen ihres Ehemanns mit einem Geistlichen machte sie stutzig und sie sagte, sie werde kommen, wenn sie fertig sei. Nachdem er ungeduldig gewartet hatte, platzte Mussolini in die Küche. „Komm jetzt, Rachele, laß dich nicht zu sehr bitten.“ Rachele, die sich nicht leicht herumschubsen ließ, versuchte ihn zu ignorieren. Entschlossen trat er hinter sie, löste ihre Schürze und schob sie zum Händewaschen ans Spülbecken. Dann führte er sie ins Wohnzimmer, wo der Priester die Eheschließung vornahm, bevor sie entwischen konnte.4

Erneut liefen die Dinge für Mussolini. Als er die Reisen durchs Land wiederaufnahm, wurde er überall von einer begeisterten Menge begrüßt. Der nie um einen zündenden Spruch oder eine militärische Metapher verlegene Mussolini sprach inbrünstig von Opfer und Glaube.5 Er hatte die unheimliche Fähigkeit, genau im richtigen Moment laut zu werden, und seine Stimme reichte laut einem Beobachter „vom Zischen eines Pythons bis zum Brüllen eines Löwen.“6

Bald stand er aber vor Problemen in den eigenen Reihen. Wieder sorgte Roberto Farinacci, der faschistischste der Faschisten, für Ärger. Kurz nach der Verkündung der Diktatur im vorigen Jahr war Mussolini ein kalkuliertes Wagnis eingegangen. Um Farinacci besser im Auge zu behalten, hatte er ihn zum Vorsitzenden der Faschistischen Partei gemacht.

Doch so leicht ließ Farinacci sich nicht zähmen. Im März 1926 erreichten die Spannungen zwischen den beiden Männern einen Höhepunkt, als er darauf bestand, eine herausgehobene Rolle im Prozess gegen die Mörder Matteottis zu spielen. Der Mord lag inzwischen fast zwei Jahre zurück, und Mussolini wollte die Menschen auf keinen Fall daran erinnern. In der Hoffnung, die Berichterstattung zu beschränken, hatte er den Prozess nach Chieti, nordöstlich von Rom, verlegt. In einem handschriftlichen Memorandum schrieb er wenige Tage vor dem Prozess: „Während der Sitzungen müssen wir alle Elemente des Dramas vermeiden, die die öffentliche Meinung im In- und Ausland aufbringen könnten. Also keine geräuschvollen Zwischenfälle oder politischen Exkursionen.“

Zu Mussolinis Bestürzung schloss Farinacci sich den Verteidigern der Angeklagten an und befahl der Faschistischen Partei in Chieti, zu seiner Ankunft eine große Demonstration abzuhalten. Von dieser Selbstdarstellung verärgert, schickte Mussolini ihm einen scharfen Brief: „Ich sehe, dass du nicht eines deiner Versprechen gehalten hast und der Prozess … politisch geworden ist. Ich bewerte das mit extremer Schärfe, und in der Partei kommt große Unruhe auf. … Ich warne dich, dass ich keine Demonstrationen oder Feiern nach dem Prozess tolerieren werde.“7

Mit Hilfe eines faschistischen Staatsanwalts, eines faschistischen Richters und des Chefs der Faschistischen Partei als Verteidiger wurden zwei der fünf Angeklagten freigesprochen. Mussolinis in Amerika geborener Killer Dulmini und zwei seiner Kameraden wurden des fahrlässigen Totschlags für schuldig befunden und keine zwei Monate später freigelassen. Obwohl Mussolini mit dem Urteil zufrieden war, war er zornig auf Farinacci und setzte ihn rasch als Parteichef ab.8

Der hart an seinem öffentlichen Image arbeitende Mussolini stellte sich immer stärker als neuer Cäsar dar, der Italien zu antiker Größe zurückführen würde. Dabei wirkte seine Geliebte Margherita Sarfatti entscheidend mit. Ihre autorisierte Biographie von 1926 trug den vielsagenden lateinischen Titel Dux.9 Die italienische Fassung Duce (Führer) wurde für Mussolini in der Presse und bei öffentlichen Anlässen immer gebräuchlicher.

Mussolini begann auch als Christus-gleiche Figur dargestellt zu werden, eine Kombination aus faschistischen und christlichen Sinnbildern. In italienischen Schulen in der französischen Kolonie Tunesien sprachen die Schüler ein Gebet, das in der einen oder anderen Form auch immer häufiger auf der italienischen Halbinsel zu hören war:

„Ich glaube an den hohen Duce – Schöpfer der Schwarzhemden – und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Beschützer – Unser Erlöser wurde empfangen von einer guten Lehrerin und einem fleißigen Schmied … Hinabgestiegen nach Rom …“10

Mussolini sonnte sich in der Verehrung, blieb aber wachsam. Giuseppe Bottai, ein langjähriges Mitglied des Faschistischen Großrats, sprach von zwei verschiedenen Mussolinis. Der eine war extrovertiert, spontan und ließ sich von seinen Instinkten leiten, der andere war „kleinlich, mit dem kleinen Neid und der Eifersucht gewöhnlicher Leute, bereit zu lügen, zu täuschen und zu betrügen, großzügig mit Versprechen, die er nicht halten wollte, illoyal, verräterisch, gemein, kalt, unfähig zu Treue oder Liebe, sofort bereit, seine treusten Anhänger fallenzulassen.“11 Tatsächlich war Bottai einer der wenigen prominenten Vertreter des Regimes, die Mussolini nicht austauschte. Schon in diesen frühen Jahren ertrug der Duce keine Konkurrenz, und jeder Hinweis, dass einer seiner obersten Minister zu viel positive öffentliche Aufmerksamkeit genoss, führte meist zu einer Versetzung nach Afrika oder auf den Balkan.

1925 war nicht nur das Jahr von Mussolinis Triumph, es war auch ein stolzes Jahr für den Papst. Um die Bindung der Katholiken an ihre Kirche zu verstärken, hatte er das Jahr 1925 zum Heiligen Jahr ausgerufen, dem 23. seit Papst Bonifatius VIII. es 1300 zum ersten Mal getan hatte. In einem solchen Jahr sollten Katholiken eine Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten in Rom machen, und Geistliche – von Gemeindepriestern bis zu Bischöfen, von Mitteleuropa bis Amerika – führten Besuchergruppen in den Vatikan und die Kirchen der Ewigen Stadt. Pius XI. war von dem Ergebnis so angetan, dass er noch zwei weitere Heilige Jahre ansetzte: 1929 zum 50. Jubiläum seiner Priesterweihe und 1933–34 zur 1900. Wiederkehr der Auferstehung Jesu.

Am Weihnachtsabend des Jahres 1924 erschien der Papst auf dem Petersplatz und öffnete die Heilige Pforte für ein Jahr. In den nächsten 12 Monaten hielt er 380 Ansprachen, während über eine Million Pilger aus der ganzen katholischen Welt nach Rom strömten. Oft sprach er ohne Notizen, ein andermal skizzierte er Themen, aber nur selten schrieb er genau auf, was er sagen wollte. Er sprach immer noch langsam und wohlüberlegt und blickte in den Pausen zu Boden und nach links. Nachdem er erwogen hatte, was er sagen wollte, hob er den Kopf, drehte ihn etwas nach rechts und setzte seine Rede fort. Häufig wiederholte er dabei das letzte Wort, als wolle er bekräftigen, dass es das richtige gewesen sei.12

Das anstrengende Programm forderte seinen Tribut. Wenige Wochen nach Beginn des Heiligen Jahrs erhielt der Polizeichef von Rom einen vertraulichen Bericht. Er besagte, der Papst erfreue sich zwar recht guter Gesundheit, finde aber seine Lebensweise erstickend. Ein Mann, der früher das Leben an der frischen Luft und die körperliche Aktivität genossen hatte, war nun in die Enge des Vatikans gesperrt und mit ständigen Beratungen, Audienzen und Zeremonien beschwert. Am meisten fehlte dem Papst die frische Bergluft, und sogar im Winter bestand er darauf, bei offenem Fenster zu schlafen. Sein Sekretär Pater Venini fand, er sehe müde aus. Vielleicht schlief er nicht gut, denn er wies Venini wiederholt an, etwas gegen die Mäuse zu unternehmen, die nachts über den Boden seines Schlafzimmers liefen.13


Bild 10: Pius XI., 1925.

Pius XI. hielt die Pilgerfahrt nach Rom für eine der heiligsten Handlungen eines Katholiken.14 Hunderte warteten jeden Tag kniend in den großen Sälen des Papstpalasts und hofften, den päpstlichen Ring küssen zu dürfen, wenn der Pontifex vorbeischritt, oder bei besonderem Glück eine Erinnerungsmedaille aus seiner Hand zu erhalten.15 Es war schwer, nicht vom Anblick des weiß gekleideten Papstes beeindruckt zu sein, umgeben von scharlachrot gekleideten Kardinälen, ausgewählten Kammerherrn und Gendarmen mit Umhang und Schwert, die hohe steife Halskrausen und Kniehosen trugen.16 Die riesigen Räume mit wunderbaren Deckenmalereien und Wänden voller Renaissance-Gemälde in Verbindung mit dem pittoresk gekleideten päpstlichen Gefolge schienen die Besucher um Jahrhunderte zurückzuversetzen.

Bei einer typischen Audienz empfing Pius Hunderte von Pilgern, Geistliche wie Laien. Die Männer trugen Gesellschaftskleidung, wer keine besaß, einen einfachen dunklen Anzug. Frauen trugen schwarze Kleider mit Ärmeln, eine schwarze Mantilla oder ein schwarzes Spitzentuch bedeckte das Haar. Der Papst betrat den Saal umgeben von Gardisten und Kammerherrn, begleitet vom Oberkammerherrn, Monsignore Caccia Dominioni. Pius XI. bestieg den erhöhten Thron und setzte sich mit dem Gesicht zur Menge. Der Führer der Pilger sprach zuerst und drückte deren Frömmigkeit aus. Der Pontifex antwortete auf seine langsame, präzise Art, meist indem er die landschaftliche Schönheit und den festen Glauben der katholischen Bevölkerung in der Heimat der Pilger erwähnte. Dann lobte er den obersten Geistlichen, der die Gruppe begleitete. Bei seinem abschließenden Segen knieten die Pilger nieder.

Der Bericht des populären englischen Schriftstellers Edward Lucas, eines Quäkers, der zu den Schlusszeremonien am Weihnachtsabend 1925 den Petersdom besuchte, vermittelt etwas von der emotionalen Wirkung des Heiligen Jahrs. Er schrieb, es gebe auf der ganzen Welt nichts, was mit den vatikanischen Ritualen vergleichbar sei. Am eindrucksvollsten war die päpstliche Prozession. Die adligen Ehrengardisten des Papstes wirkten als Saaldiener und liefen in ihren mittelalterlichen Uniformen mit glänzenden Schwertgriffen umher. Lucas fühlte sich nicht nur durch die Kostüme, sondern auch durch die Gesichter der Adligen, Prälaten, Priester und Mönche ins Mittelalter zurückversetzt. Diese schienen sich nicht zu verändern.

„Manche Geistliche tragen Purpur, andere Schwarz oder Kutten; ein oder zwei tragen Bärte; manche sind schmucklos in weiß gekleidet. … Viele sind unglaublich alt; fast keiner sieht glücklich, sorgenfrei aus; viele Gesichter sind gefurcht und voller Sorgenfalten. Und dann die Kardinäle … und schließlich, hoch über allen anderen von Dienern in Rot getragen und von zwei Trägern mit hohen Federfächern begleitet, der Heilige Vater selbst auf seinem Thron, eine große gelbe Mitra auf dem ehrwürdigen Haupt, der sanft segnend die Hand von rechts nach links bewegt.“17

Pius XI. beendete das Heilige Jahr mit der Veröffentlichung der Enzyklika Quas primas. Darin sagte er, die Menschheit könne nur gerettet werden, wenn alle die wahre Religion, den römisch-katholischen Glauben annähmen. Wie andere Päpste vor ihm verurteilte er die Französische Revolution als den Ursprung vieler Übel, die schädliche Auffassungen von den „Menschenrechten“ verbreitete.18 Er schloss mit der Mahnung, dass „Staatenlenker und Behörden … die Pflicht haben, Christus öffentlich zu ehren und ihm Gehorsam zu leisten.“ Wer sich nicht daran halte, würde ein schreckliches Ende nehmen, da Christus „unerbittlich streng solch schmähliche Mißhandlung rächen wird.“19

Der Papst benutzte die Enzyklika, um einen neuen kirchlichen Feiertag einzuführen: das Christkönigsfest. Es sollte den Säkularismus bekämpfen, der ihm als die große Plage des modernen Zeitalters galt. Während Katholiken die Enzyklika und den darin verkündeten neuen Feiertag begeistert begrüßten, wurde sie von Protestanten ganz anders aufgenommen. In den USA verurteilte das National Lutheran Council die Enzyklika als „sektiererisch im schlimmsten Sinne“ und „feindlich gegenüber einer sehr großen Gruppe von Christen“. Es forderte alle Protestanten auf, den neuen Feiertag des Papstes zu boykottieren.20

Aus seiner Überzeugung von der Würde des päpstlichen Amtes folgte, dass Pius XI. sich weigerte zu telefonieren oder sich mit Gästen fotografieren zu lassen. Er gab viele öffentliche Audienzen, erfüllte aber ungern den Wunsch nach privaten Treffen. Als sein Kardinalstaatssekretär ihm einmal sagte, eine wichtige Persönlichkeit bitte um eine Audienz, schlug er dies ab. „Aber eine Entschuldigung können Sie ihm nicht sagen“, fügte der Papst etwas unbeschwerter hinzu. „Sie können nicht sagen, ich wäre nicht zu Hause.“21

Die römischen Geistlichen fanden Pius XI. im Vergleich zu seinen Vorgängern Pius X. und Benedikt XV. kühl und kurz angebunden.22 Bei einem der täglichen Spaziergänge des Papstes sackte in der Nähe ein alter Gärtner mit einem Herzanfall zusammen. Während andere Gärtner und ein Leibwächter, der den Papst begleitete, eilig Hilfe holten, erzählte jemand Pius, was geschehen war. Dieser setzte seinen Spaziergang fort. Der Vorfall nährte den Klatsch hinter den Mauern des Vatikans.23

Wertvolle Einblicke in die Machtkämpfe in der Umgebung des Papstes stammen aus den umfangreichen Berichten der Geheimpolizei, die Informanten aus dem Vatikan schickten. Seit seinem Machtantritt hatte Mussolini ein großes Spitzelnetzwerk aufgebaut. Obwohl die Beobachtungen dieser Spitzel mit Vorsicht zu genießen sind, weil sie stets eigene Interessen verfolgten, bieten sie unvergleichliche Einblicke in das Geschehen dieser Jahre im Vatikan.24

Die Wutausbrüche Pius XI. wurden häufiger. Ein Monsignore vertraute einem Spitzel an, wenn er zum Papst gehen müsse, zittere er, „so große Kränkungen habe er erleiden müssen“, während er kniete. Auch Gasparri wurde vom Papst schlecht behandelt, so der Informant, doch zum Glück „hat der Kardinal ein dickes Fell und tut so, als würde er nichts merken.“25

Die Ansicht des belgischen Botschafters über den Papst wurde von den anderen ausländischen Diplomaten im Vatikan geteilt. Pius XI. war gelehrt und sicher weniger von Fragen des Dogmas und religiöser Disziplin umgetrieben als Pius X., der ein berüchtigtes Spitzelsystem besaß. Er war aber ebenso stur wie sein Namensvetter und besaß keinerlei diplomatisches Geschick: „Er geht seinen Weg geradeaus bis zum Ende. Er folgt den höchsten und edelsten Idealen, hört aber nicht auf jene, die zur Geduld mahnen.“ Der stärkste Charakterzug Pius XI. war nach Meinung des Botschafters sein Wunsch nach Gehorsam.26

Ein vor Kurzem entdeckter Brief, der in der Vatikanzeitung abgedruckt wurde, ist ein überraschendes, ja verblüffendes Zeugnis, wie knallhart Pius XI. war. Als er sich 1919 als Gesandter Benedikts XV. in Warschau aufhielt, schrieb Achille Ratti an seinen Assistenten in der Vatikanischen Bibliothek, jemand solle ihm Papiere bringen, die er in seinem Schreibtisch gelassen hatte, „und dazu den kleinen Revolver und die Munition“, die auch noch dort lagen. Inmitten des Chaos und der Revolutionsfurcht in Mailand hatte Ratti einen Revolver gekauft und in seinem Schreibtisch in der Ambrosiana verwahrt. Als er an die Vatikanische Bibliothek wechselte, hatte er ihn mitgenommen. In Warschau, wo eine Invasion der Roten Armee drohte, wollte er nicht unbewaffnet sein.27

Nach dem Empfang eines internationalen Chirurgenkongresses am 7. April 1926 ging Mussolini in den römischen Sonnenschein hinaus. Beim unerwarteten Anblick des Duce hob eine Gruppe Faschisten den Arm zum Gruß. Ohne Nachzudenken hob auch Mussolini den Arm. Als er den Kopf in den Nacken legte, fiel ein Schuss. Violet Gibson, eine psychisch labile Irin mittleren Alters, hatte auf seinen Kopf gezielt. Wegen des Grußes hatte die Kugel nicht die Schläfe getroffen, sondern nur seine Nase gestreift, die heftig blutete.

Mussolini bestand darauf, die für denselben Tag angesetzte Rede vor einer Versammlung der Faschistischen Partei trotzdem zu halten und trat mit einer breiten weißen Bandage auf dem Nasenrücken auf. Der Schluss seiner Rede – mit einer indirekten Anspielung auf das Attentat – wurde legendär: „Wenn ich voranschreite, folgt mir. Wenn ich zurückweiche, tötet mich. Wenn ich sterbe, rächt mich.“28 Am nächsten Tag flog er in die italienischen Kolonien in Afrika. Bei der Abreise soll er scherzhaft gesagt haben, seine Nase sei schon vorher durchstochen.29

Im ganzen Land ließen Geistliche ihre Schäfchen Dankgebete sprechen und versicherten den Gläubigen, Gott wache über ihren Duce. Nur wenige Tage vor dem Attentat hatte die betagte Schwester Pius X. dem Duce ein Scheitelkäppchen ihres Bruders geschenkt. Viele glaubten, der tote Papst – der später heiliggesprochen wurde – habe ein weiteres Wunder vollbracht.30

Mussolini brauchte in diesem Jahr noch mehr Wunder, denn als er seine Diktatur festigte, sahen entmutigte Antifaschisten die einzige Hoffnung in seinem Tod. Im September 1926 warf ein 26 Jahre alter italienischer Anarchist eine selbstgebaute Bombe auf Mussolinis Auto. Auch diesmal überlebte der Duce wie durch ein Wunder – die Bombe prallte von der rechten Tür ab und explodierte, wobei mehrere Menschen verletzt wurden. Ihr eigentliches Ziel blieb unversehrt.31

Das dramatischste Attentat ereignete sich am 31. Oktober, als Mussolini ein neues Sportstadion in Bologna einweihte. Bei der Fahrt durch die von Menschen gesäumten Straßen fiel ein Schuss. Er verfehlte sein Ziel nur knapp und durchlöcherte die zeremonielle Schärpe, die Mussolini über der Brust trug. Mehrere Männer in der Menge stürzten sich auf den mutmaßlichen Schützen, einen Sechzehnjährigen, und töteten ihn sofort. In ganz Italien brannten erzürnte Faschisten die letzten Oppositionszeitungen nieder und schlugen Menschen zusammen, die sie antifaschistischer Sympathien verdächtigten.32

Voller Erleichterung, dass Mussolini der Gefahr entronnen war, teilte der Papst ihm mit, er habe „große Freude“ bei der Nachricht empfunden, er sei „dank des besonderen Schutzes durch Jesus Christus heil und unversehrt“.33 Nun war das Klima reif, damit der Duce seine Diktatur absichern konnte. Am 5. November führte ein neues Gesetz das inneritalienische Exil für Regimekritiker ein. Viele wurden aus den Städten in entfernte Insel- und Bergdörfer verbannt, wo sie unter Polizeiaufsicht standen. Vier Tage nach Verkündung des Gesetzes wurden die letzten Abgeordneten der Opposition aus dem Parlament entfernt. Nur Mitglieder der Faschistischen Partei behielten ihre Sitze. Am Ende des Jahres 1926 waren nur noch faschistische Gewerkschaften erlaubt und Streiks verboten. Bürgermeister wurden nicht länger gewählt, sondern von der Regierung in Rom ernannt. Die Pressezensur wurde verschärft, ein besonderer Gerichtshof zur Beseitigung der restlichen Opposition geschaffen und die Todesstrafe wieder eingeführt.34 Sie hatte in Rom zuletzt gegolten, als die Päpste über ein halbes Jahrhundert zuvor die Stadt regierten.35

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