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Dinner for One

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Shalom! Herzlich, laut und überdeutlich. So begrüßt, schreite ich durch die Tür, und es reicht, um in einer Welt anzukommen, in der alles geht, in der alle dürfen und nach der jeder lechzt. Goldene Kordeln fallen ins Gesicht, die gestaute Feuchtigkeit des Innenraums trägt beinahe wieder hinaus, volle Lippen haften für Augenblicke an den Wangen. Kuss hier, Kuss da. Das Essen dampft, die Gläser klirren, der Alkohol fließt. Begrüßungsformeln auf Französisch, Portugiesisch, Hebräisch, Englisch, Deutsch.

Yafo. Endlich wieder ins Yafo.

Wir schreiben die Zeit vor der Pandemie, es ist ein lauer Sommerabend in Berlin-Mitte. Eben bin ich noch durch die Torstraße gewandelt, jene historisch wechselvolle Hauptverkehrsvene im Look der Reichshauptstadt, heute neumodern belegt durch Boutiquen, gefüllt mit kalifornischer Mode, skandinavischem Mobiliar, hochpreisigen Comicheften aus vergangenen Jahrzehnten. Ich bog in eine Seitengasse, da liegt also das Yafo, ein auf den ersten Blick unauffällig anmutendes israelisches Lokal. Die Betreiberin Shani Ahiel, Israelin mit jemenitischen Wurzeln, ein kurz geratenes Energiebündel mit gelockter, schwarzer Mähne, wollte es so. Interieur aus durchmischten Holzarten. Gebrauchte Kinosessel überzogen mit bordeauxrotem Samt. Ein Ensemble antiker Spiegel verdoppelt die Gäste, Rahmen und Leuchter kleben an den Wänden, unter der Decke; Phantasien alter Jahrmärkte. Aus den Lautsprechern tönen die Stimmen selbstbewusster Jüdinnen aus den siebziger Jahren. Ihre Schallplattencover schweben an den Betonwänden.

»Ma nishma?«, fragt Yehonathan. »Wie geht es Dir?« Sein Wangenkuss hinterlässt Lippenstiftspuren auf meinem Gesicht. Der kahl geschorene Schädel glänzt, die gefärbten Augenbrauen sind hochgezogen. Yehonathan trägt Absatzschuhe, ist mit allerhand Klimbim behangen. Seine Finger sind mit Insekten und Reptilien tätowiert, als würde er dort den Katalog eines Naturkundemuseums abbilden wollen. Ein durchgezogenes Projekt zur Eheschließung, wie Yehonathan und sein Ehemann auf Nachfrage erklären. Yehonathan, insgesamt eine mystische Erscheinung. Verspielt, selbstbewusst, androgyn, elegant. Ein Überlebenskämpfer und Lebenskünstler aus den strengen jüdisch-orthodoxen Tiefen Jerusalems, angekommen in einer der wildesten Metropolen der Welt, einem Kessel aus düsterer Technokultur, sexueller Freizügigkeit, urbaner Kunst; angekommen im Berlin des dritten Jahrtausends.

Yehonathan wird die Gäste des Yafo durch den kulinarischen Abend lenken. Hier und heute, Twenty Nineteen.

Wie geht es Dir? Angebotslos steht die Frage zwischen uns, ist sich über die Antwort längst im Klaren. Ich sage unernst: »Alles gut.« Yehonathan nickt zufrieden, wendet sich seinem Tablet zu. Er ist Gastgeber des Abends, nach deutschen Gastronomieregeln Rezeptionist und Chefbedienung in einer Person, im Yafo-Vokabular: Host of the night. »Table for eight?« Ich nicke, rufe etwas Bejahendes hinterher. Während Yehonathan Befehle ins Tablet tippt, blicke ich kurz über seine Schulter. Wer ist heute alles da? Welche Bedienungen haben Schicht, wer sitzt am Tresen? Ich kenne das Lokal gut. Der Ruf des Yafo: International und extrem populär. Das liegt ohne Zweifel an der unbemühten Grundstimmung hier: Enthemmt, leidenschaftlich, tropisch-exotisch, zwanglos.

Der Laden ist schon jetzt fast voll. An gewöhnlichen Wochentagen sind die Tische für den Abend bereits Tage im Voraus bis an die Kapazitätsgrenzen gebucht. Die Berlinerinnen und Berliner, ihre Freunde, ihre Gäste, sie stehen bis runter zur Torstraße. Denn sie wollen ja nicht nur schmausen. Sie wollen sich vermengen, wollen die anishaltigen Spirituosen, das queer-jüdische Kabarett und den orientalischen Tanz. Im Yafo fließt das alles zusammen, summiert sich auf magische Weise, potenziert sich. Ein losgelassener Schrei mitten in diesem Berlin, in diesen Zeiten.

Als Yehonathan das erste Mal seine neue Wahlheimat bereiste, war das erste deutsche Wort, das er lernte: Verboten. Immer wenn Shani, die Betreiberin, die Anekdote hört, kreischt sie wie ein Papagei hinterher: »Papiere, Papiere, Papiere!« Aber dann kommt ja meist schon die Musik, kommen die Gerüche, die ersten Gäste, kommt die Besänftigung. Und so fühlt es sich dann an, wenn alles geht und alle dürfen, wenn der Tanz kommt, die Musik, wenn Enge und Körperlichkeit zu den Antipoden spießbürgerlicher Leitkultur werden und die Normen der artigen Abstandswahrung unterlaufen.

Aber ach, wenn doch alles nur so einfach wäre und das Yafo womöglich das echte Menschenherz.

Es ist 19:12 Uhr. Yehonathan führt mich zu meiner Tafel. Wir sind heute zu acht. Ein Abend unter Freundinnen und Freunden, so ist es verabredet. Yehonathan entlässt mich, küsst mich noch einmal auf die Wange, schreitet sodann fort, um die nächsten Gäste in Empfang zu nehmen. Ich wende mich dem Tisch zu, an dem Isobel schon sitzt. Ihr gewelltes Haar ist hochgesteckt, die Schultern frei. Ich freue mich, sie zu sehen, kann sie es abends für gewöhnlich doch so gut wie nie einrichten.

Isobel tanzt. Tanzt professionell, jeden Abend. »Erwachsenenunterhaltung«, wie sie sagt. Ich rücke zu ihr auf, bereit zur pre-pandemischen Umarmung, doch ihr Blick haftet auf dem Smartphone. Es dauert, bis sie mich bemerkt in diesem Yafo-Nebel. »Diana!«, ruft sie. Dann schnellt sie hoch, im selben Zug finden die Finger gerade noch das Rotweinglas, ein hastiger, kleiner Schluck, wir umarmen uns, dann sagt Isobel: »Entschuldige, dass ich schon bestellt habe, aber ich muss ja gleich schon wieder los.« Die Arbeit ruft, die Nachtschicht. Isobel, die Tänzerin. Ich habe Verständnis, bin dankbar. Immerhin ein kurzer Moment an diesem Abend. »Wann kommen die anderen?«, fragt sie. »Müssten gleich da sein«, sage ich, mit Blick auf das Telefon. Sieben ist es ja längst.

Ich bestelle ein Glas Wein. Es wird immer lauter um mich herum. An den Nachbartischen sind die ersten Flaschen geleert, die stresserprobten Bedienungen beginnen sich zu konzentrieren. Die Temperatur steigt, immer mehr Gäste gehen für eine Zigarettenlänge vor die Tür. Isobel und ich unterhalten uns, sprechen über den Job. Der Tanz, die Politik. Die Kunden, die Strategien, die Aussichten. Dann: die Menschen, das Leben. Ich frage sie, nebenbei, Erwachsenenunterhaltung und Beziehungsglück, wie geht das zusammen? Sie spricht von Affären, Experimenten. Das größte Hindernis für eine stabile Beziehung, sagt sie, ist nicht die Eifersucht, es ist das fehlende Alltagserleben. Isobel nimmt einen Schluck, tippt an ihrem Glas herum. »Ich komme ja selten vor sieben Uhr nach Hause, ab fünf am Nachmittag geht das Geschminke wieder los.«

Das Wort Sehnsucht fällt nicht, es ist offenbar kein Bestandteil ihres Vokabulars. Als ich das Wort doch erwähne, nickt Isobel, sagt: »Ich muss dringend eine Kleinigkeit essen.«

Wir bestellen. Eine halbe Stunde ist vergangen. Wir sind zu zweit. Blick auf das Mobiltelefon. Leila fragt, ob das Abendessen eigentlich noch stattfindet. Franka informiert uns, dass sie später kommt, sie habe noch einen Arbeitstermin. Cassandra will wissen, wer eingeladen ist. Betül teilt ihren Standort, scheint auf dem Weg zu sein. Elisabeth kündigt an, sie sei gleich da, sie muss noch jemanden ins Bett bringen.

»Seit wann hat Elisabeth Kinder?«, fragt Isobel, als ich ihr von dem Kammerspiel erzähle. »Sie hat keine Kinder«, antworte ich, »Sie hat eine Fernbeziehung.« Isobel lacht auf. In Kathmandu ist es 23:15 Uhr. Der Gute-Nacht-Videochat mit der Freundin steht gerade an.

Im Yafo wird die Luft schwerer, beginnen die Fenster zu schwitzen. Eine junge Ägypterin im Bikini-Top kommt zu uns an den Tisch, serviert Lammfleischterrinen in Lehmformen, cremigen Hummus, auf dem ein über Feuer gegrillter Blumenkohl thront, geröstete Auberginenscheiben mit Sesampaste und Matbucha aus eingekochten Tomaten und Chilischoten. Darauf ein Klecks Joghurt mit Koriander. »Da komme ich ja genau richtig«, höre ich eine Stimme hinter uns, »gut, dass ihr schon bestellt habt.« Franka hat es vom späten Termin zu uns geschafft. Sie legt ihren hellen Mantel ab, desinfiziert sich die Hände. Franka, digitale Kommunikatorin in einer respektierten Agentur, ist eine durch und durch sterile Person. Ehrgeizig, organisiert, diszipliniert, sarkastisch.

Sie setzt sich. Wir sind jetzt zu dritt, bedienen uns von der Mitte der Tafel. Die Speisen im Yafo sind so gedacht: für alle, die an einem Tisch sitzen. So sehen es die israelische Esskultur und auch das Menü im Yafo vor. Sämtliche Speisen sind Gerichte zum Teilen. Isobel und ich brechen die in Backpapier gewickelten Brote, dippen damit in Pasten und Soßen. Franka winkt ab. Sie bestellt einen separaten Teller. Bevor sie zu essen beginnt, legt sie ihr Telefon neben ihrem Besteck ab. Nach einem Griff zur Handtasche landet ein Stapel Visitenkarten auf dem Tisch. Isobel schaut rüber. »Ich muss schnell noch ein paar Mails schreiben«, sagt Franka. Ein schnelles Follow-up auf die Veranstaltung und den Kampagnenstart eben. Die Ägypterin schwebt am Tisch vorbei. Alles in Ordnung, alles gut. Franka sagt: »Hochkarätige Kunden, gut für unser Netzwerk. Solche Mails erledige ich immer gleich, morgen kann ich die Namen und Gesichter den Gesprächen nicht mehr zuordnen.«

Isobel und Franka, die Tänzerin und die Vermarkterin. Kurz prallen zwei Welten aufeinander. Warum schreibt man Menschen, an die man sich am Morgen nicht mehr erinnert? Isobel schaut Franka an. Franka holt Luft. Ich bestelle noch eine Runde Getränke, Wein, eine Flasche Wasser. Isobel steht auf, sagt: »Ich muss los, zur Arbeit.« Franka versucht zu lächeln. »Ganz viel Spaß.«

Isobel, die Tänzerin, stapelt auf einmal Münztürme neben Visitenkarten. Kleingeld, das sich häuft. Kupfer, Aluminium, Zink und Zinn. Isobel macht das ganz ruhig und nimmt sich demonstrativ eine Minute Zeit. Dann wirft sie ihren hauchzarten Schal über die Schultern und schreitet von dannen. Franka ignoriert die Türme, tippt ihre Mails.

Wieder Blick auf das Telefon. Leila fragt, wann wir mit dem Essen beginnen. Ihre Nachrichten kommen in Blöcken, angedeuteten weißen Sprechblasen, manchmal liegen zwei Minuten zwischen den Nachrichten, manchmal fünf Sekunden. Ich habe auf stumm geschaltet. Die nächsten Zeilen von Leila lassen wissen: Ihr Mitbewohner hat gerade gekocht, außerdem vermutet sie, dass die Straßen draußen noch immer verstopft sind. Feierabendverkehr, alles rot. Leila sagt ab. Ein federleichtes Manöver.

Es ist nach 20 Uhr.

Ich nehme noch vom Hummus, betrachte das Brot. Franka ist noch bei ihren Karten, ich höre ihre Stimme nicht, als sie kurz etwas über den Tisch zu mir sagt, ohne mich anzuschauen. Leilas Absage verstimmt mich. Ich finde das unzuverlässig, ungehobelt, unkameradschaftlich. Für einen Moment flammt Ärger auf. Ich muss an ein Wort denken: Multioptionsattitüde. Es nervt.

Betül scheint immer noch auf dem Weg zu sein. Ich klicke ihren geteilten Standort an. Die App lokalisiert sie unweit des Yafo vor einer Weinbar um die Ecke. »Kommst du?«, schreibe ich. »Gleich«, blinkt es binnen Sekunden zurück: »Spontan alten Freund getroffen.« Lange werde ich meinen Unmut nicht mehr verbergen können. Eine Umarmung von hinten reißt mich aus den Gedanken. Shani strahlt mir entgegen, strahlt übers ganze Gesicht.

»Was ist mit deinem Tisch los?«, fragt sie.

»Kommen gleich«, sage ich.

»Dann stelle ich dich schnell zwei Freunden vor.«

Shani, die Betreiberin, zerrt mich von meinem Platz. Franka schaut kurz auf. Ich entschuldige mich, folge Shani.

An der Bar stehen zwei junge Männer in Unterhemden. »Schulfreunde aus Tel Aviv«, sagt Shani. Wir begrüßen uns, dann trinken wir eine Runde Schnaps. Was sie nach Berlin verschlagen habe, frage ich die beiden. »Abenteuer, Nachtclubs, Frauen«, sagt einer der zwei, der andere schmunzelt, sieht zu Boden. Die zwei beginnen, Zigaretten zu drehen, werfen sich hebräische Wortfetzen zu. Shani vermittelt mir derweil unauffällig, dass beide verheiratet sind. Sie rollt mit den Augen. Sie sagt drei Worte: Tinder, Bumble, OkCupid.

Als die beiden Männer zum Rauchen vor die Tür wollen, stolpern Cassandra und Betül rein. Wir gehen aufeinander zu, navigieren zwischen den Tischen hindurch, umarmen uns. »Elisabeth ist auch schon da, sie raucht draußen nur noch schnell eine.« Cassandra sagt das. Es ist 20:15 Uhr. Ich denke: Ephemerkultur, Regime der Leichtigkeit, Scheißdraufzeiten. Wir gehen zu unserem Tisch. Franka, von mir alleingelassen, isst inzwischen mit Gabel und Messer. Elisabeth stiebt jetzt in den Raum, segelt mitten durchs Lokal auf uns zu. Ein Abend unter Freunden, es ist zwanzig nach acht inmitten dieser Zeiten.

Shani bringt flambierte Aprikosen, Yehonathan wechselt die Musik. Balkanpop. Die beiden stoßen mit uns an. Elisabeth spricht von Kathmandu, liest aus ihrem letzten Chat vor. Betül recherchiert. Der alte Freund von der Weinbar scheint inzwischen in Berlin zu wohnen, vorzeigbare Karriere, Reisemarkierungen im Profil, Szeneprominenz im Freundeskreis. Franka hilft bei der Analyse auf Instagram, so nesteln sie an einem Psychogramm der Pixel, forschen nach der großen offenen Frage. Ob er könnte, wenn sie wollte, ob er würde, falls sie es wagt. Ich überlege: Konditionalherrschaft, Möglichkeitssucht. Der Algorithmus der Sehnsucht. Betül hatte gesagt, sie mochte ihn schon immer, nicht erst vorhin, an diesem heißen Berliner Abend.

Ich wende mich Cassandra zu. »Wie geht es den Zwillingen?«

»Schlafen nicht durch«, sagt die taufrische Mutter, stützt den Kopf ab. »Hilft nicht wirklich beim Promovieren.«

»Das wird schon«, sage ich, ohne zu wissen, wovon ich spreche.

»Nein, wird es nicht«, sagt Franka. Sie schaltet sich kurz ein, gerade als die Datteln gereicht werden, es folgt ein Impromptu über die Belastungen junger Familien, Franka rät zu devotem Partner und teurer Kinderbetreuung. Cassandra antwortet kaum hörbar. Betül schreit auf. Der alte Freund von der Weinbar will sie noch auf ein Getränk einladen. Drüben, nicht hier. Ihr Mobiltelefon blinkt kurz, dann ein zweites Mal. Es dauert nun noch eine Weile, die Musik im Yafo wird lauter, aber lange dauert es nicht. Der Aufgeregtheit in Betüls Augen ist nichts entgegenzusetzen. »Ich hab sowieso schon gegessen«, sagt sie. Und wie sie das sagt. Leicht, federleicht. Sie nimmt einen weiteren Schluck Wein, während stolpernden Takts die Displays unserer Telefone auf dem Tisch aufleuchten. Dann entlässt die Gruppe Betül. Sie nimmt ihre Tasche, ihre dünne Jacke, geht durch die Tür, weg ist sie.

Die zwei verheirateten Israelis steuern durchs Lokal, treten an unseren Tisch. Ihre Frage ist international, gehoben. »May we sit with you?« Nun, es ist mehr Ankündigung als Frage. Sie stellen sich meinen Freundinnen vor, reihum. Auf Elisabeth scheinen sie ein Auge geworfen zu haben. Diese geht bald nach draußen, sie müsse telefonieren. Franka sagt, fast krakeelend in die Musik: »Sie ist lesbisch, sie hat eine Freundin.«

Die Gespräche sind zäh. Cassandra gibt wenig preis, zwischen den Israelis und Franka springt der Funke nicht über. Fuckboys treffen aufstrebende Spießerin. Die Moderation strengt mich an. Mein Telefon vibriert, mein Kumpel Mick ist dran. »Seid ihr noch im Yafo?«, fragt er. »Ich bin mit zwei Freunden unterwegs, wir würden jetzt kommen.« Mir fällt prompt ein: Mick war eigentlich Teil unserer Einladungsrunde. Gast Nummer sieben. Doch der geniale Gründer jettet routiniert um die Welt, ist mal hier, mal da, nirgends für länger. Die Erinnerung an ihn löst sich darum manchmal auf. Mick, der modernste aller modernen Geister. Agil, aber ohne Zuhause.

Der Abend dreht sich inzwischen. Shani kommt abermals hinzu, entlockt den beiden Israelis hitzig Promotionsthemen, erfolgreiche Kampagnen; Cassandra und Franka ganz Ohr. Elisabeth kommt zurück von ihrer kurzen Raucherpausenamnesie, trinkt sich mit Granatapfel in Hochprozentigem milde. Wie spät ist es? Die Tür geht auf, geht zu, geht auf, nur einen Augenblick später streunt Mick herein, Mick plus zwei, und bald sitzt das halbe Yafo an unserem Tisch. Mick winkt zu den anderen Tischen, die anderen Tische winken herüber, und so geht es ab jetzt kopflos in die Nacht, in dieser Blase, in der alles geht und alle dürfen, in diesem warmen Showroom, in dem alle wollen und doch nicht können.

Von hinten, scheinbar aus dem Off, werde ich plötzlich angesprochen. Ein Andockmanöver in der beginnenden Nacht. Drei Studenten kennen mich von politischen Berichten, sie wollen reden, plaudern, dieses und jenes erörtern. Sie sind freundlich, interessiert, offen. Ich wechsele die Frequenz, bin im Nu nicht mehr bei meinen Freunden, sondern bei den Studenten, um uns alle herum das dampfende Yafo. In den hintersten Ecken meines Schädels denke ich: Seelenzäune. Absentierungsobsession. Lonely Cowgirls.

Es ist weit nach Mitternacht, als ich beschließe, nach Hause zu gehen. Die Nacht ist immer noch hellwach, einige sind schon verschwunden, viele werden ihr verhaftet bleiben. Am Tresen werden Drinks gereicht, hinten in den Sesseln liegen Köpfe auf Schultern, Ohrringe blitzen. Als Letztes höre ich noch Yehonathans Stimme, die sagt, dass Nachbarn sich beschwert hätten. Zu laut, zu voll. Viel zu schrecklich laut und vergnügsam ist diese Nacht nahe der Torstraße.

Ich hatte mich verabschiedet, es ging schnell und leicht, fast ungesehen. Jetzt schlendere ich noch ein wenig durch die Nacht. Es war nichts Außergewöhnliches, denke ich. Es war jetzt normal. Zeitenusus. Ich sehe einen Imbiss, einen Penner, den Himmel. Der Himmel ist nicht schwarz, er ist orangefarben erhellt von den Millionen Megawatt der Stadt. Auf dem Weg nach Hause passiere ich den Alexanderplatz. Ein bisschen still ist es hier, die Häuser wie Schatten, der Turm wie eine Nadel, das Pflaster eben und dunkel. Ich sehe kaum Menschen, erkenne nur Umrisse in der Nacht, in der die Reklamen stoisch leuchten. Unverhohlen verlassen wirkt die große Stadt zu dieser Stunde, unverhohlen groß und leer und hohl. Das Gesicht der Maskerade.

Ich muss an Alfred Döblin denken. Diesen Psychiater, diesen Worteerfinder. Berlin, Alexanderplatz. Muss an Biberkopf denken, die tragische Romanfigur, die in der Irrenanstalt landet. Döblin, der Verrücktgewordene. Ließ seine Zeilen von der Reizüberflutung handeln, ließ sie von Lärm sprechen und Anonymität, von geisteskranken sozialen Verwerfungen in Folge des industriellen Aufbruchs. Wie lange ist es nun her, dass er diesen Klassiker der Literatur aufs Papier dachte? Wie lange ist es her, dass es immer feiner, immer internationaler, immer schneller, immer subtiler, immer schlimmer geworden ist? Leben in der Dystopie. Wie flieht man aus der Flüchtigkeit?

Nicht einmal ist an diesem Abend das Wort gefallen. Das fällt mir nicht erst jetzt ein, es fiel mir die ganze Zeit auf. Den ganzen Abend über, während jeden Glases, während jeder Zigarette und während jeden Dialogs war es anwesend, das Thema dieser Zeit. Die Einsamkeit. Und doch vermieden wir das Wort, verschwiegen es hochprofessionell. Ja, wir umschifften es wie einen fürchterlichen, unaussprechlichen Felsen, vergaßen es vor lauter Musik und Spaß, vor lauter Abgeschnittenheit, vor lauter Leichtigkeit, vor lauter Privilegien, vor lauter Flexibilität, vor lauter Feigheit.

Ich ging noch ein wenig, bevor ich zu Hause ankam. Nein, nicht einmal war das Wort gefallen, nicht einmal während unseres gemeinsamen Abendessens. Ich überlegte kurz. Zu unaussprechlich mächtig lag es wohl über diesen Zeiten.

Die neue Einsamkeit

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