Читать книгу Sonnenkaiser - Dirk Meinhard - Страница 5

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Durch die Spalten des staubigen grauen Lamellenrollos drang spärliches Sonnenlicht und warf in schmalen Streifen, in denen Staubpartikel tanzten, Helligkeit auf die Einrichtung des Zimmers. Viel war nicht zu beleuchten. Neben einem schiefen Schrank, dessen Türen weit offen standen und den Blick auf eng und planlos zusammengedrückte Kleidungsstücke und ein paar knitterige Hemden an einer Kleiderstange freigaben, stand ein breites Bett. Genau genommen war es eher ein einfacher Holzrahmen ohne Kopf- und Fußende, in dem eine für den Rahmen zu schmale Matratze lag. An den Wänden löste sich die musterlose gelbliche, vielleicht auch einfach nur vergilbte Tapete stellenweise.

Unter einer wellenförmig zusammengeschobenen Decke schauten zwei Beine von den Oberschenkeln an hervor. Der Kopf lag verborgen unter einem Kopfkissen. Die Beine waren dunkel behaart. Am oberen Ende seines linken Schienbeins war seitlich eine lange Narbe zu erkennen, die sich bis über das Knie hinzog.

Neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch, auf dem auf einem billigen leicht angelaufenen Plexiglasdisplay in gelben Leuchtziffern die Zeit angezeigt wurde. Die Anzeige sprang auf sieben Uhr. Ein lauter Summton ertönte. Es dauerte einen Moment, bis unter der Bettdecke eine Bewegung das Aufwachen des Mannes anzeigte. Eine Hand tauchte neben dem Kopfkissen auf und tastete umher, während das laute Summen aus dem Lautsprecher des kleinen Schirms zu Musik wechselte. Ein Jingle ertönte und kündigte eine Nachrichtensendung an. Während plötzlich ein Akkusignal über der Uhrzeit aufleuchtete, löste die Stimme einer Sprecherin den Jingle ab.

>>Hier ist Radio Dortmund, immer gut informiert für Sie. Es ist sieben Uhr und Sie hören die aktuellsten Nachrichten, aktueller als noch vor fünf Minuten!<<

Die Hand erreichte den Bettrand und tastete sich langsam an der Bettkante entlang. Die Finger bewegten sich dabei vorsichtig tastend wie die Beine einer Spinne. Ungeachtet der Tatsache, dass er gleich zum Verstummen gezwungen werden würde, steigerte der kleine Schirm noch die Lautstärke der Nachrichtensendung.

>>Und hier die Schlagzeilen von heute Morgen, Montag, den sechzehnten Juni! Bundesweit: Bundesrat genehmigt endlich den Verkauf der acht letzten Universitäten des Landes an zwei Investorengruppen.

Kanzlerin Reinders-Winkelmann beendet ihre Reise nach Marokko und Algerien zu den DesertEnergy-Energieparks. DesertEnergy sagt zu, die bisher bereitgestellten Strommengen für die Versorgung des deutschen Stromnetzes für das nächste Jahr um weitere fünfzehn Prozent anzuheben. Die Verteilquoten der Abnehmerländer Spanien, Frankreich und Deutschland wurden mit dem Konzern neu verhandelt. Die zusätzlichen Strommengen der Energieparks bei Sidi Ifni und Essaouira, die bald ins europäische Netz fließen, gehen hauptsächlich nach Deutschland.

Die Verhandlungen über erweiterte Stromlieferungen durch RWE Solar sind ins Stocken geraten. Die Streitigkeiten zwischen Algerien und Libyen betreffen weiterhin auch die Nutzung der gemeinsamen Unterseestromtrassen, über die beide Länder ihren Wüstenstrom nach Italien leiten. Die Fertigstellung der neuen Trasse, die RWE Solar zusammen mit ihrer algerischen Partnerfirma Algier Power nach Sardinien legt, ist wegen technischer Probleme ins Stocken geraten. Außerdem gibt es weiterhin Uneinigkeit mit der italienischen Regierung, die für den Anschluss der neuen Trasse an das europäische Stromnetz einen höheren Nutzungsanteil fordert.

Die geplanten Änderungen der gesetzlichen Regelungen zum Betrieb von autonomen regionalen Energieerzeugern werden im nächsten Monat im Bundesrat verabschiedet. Es ist noch nicht bekannt, welche Änderungen tatsächlich angenommen werden, aber es gilt als wahrscheinlich, dass auch bestehende Kleinanlagen zukünftig deutlich höhere Sicherheitsstandards erfüllen müssen, was vermutlich für mindestens die Hälfte der betriebenen Anlagen das Aus bedeuten wird.

Arbeitslosenquote in Deutschland wieder bei sechzehn Prozent. Das ist der niedrigste Stand seit mehr als zehn Jahren. Die Armutsquote bleibt unverändert bei achtundzwanzig Prozent aller registrierten Bundesbürger. Als arm gilt, wer weniger als vierzig Prozent des durchschnittlichen Lohns aller Arbeiter und Angestellten verdient oder in einem Haushalt lebt, auf den diese Messgröße zutrifft.

GlobSecure verhinderte in der Nacht von Samstag auf Sonntag zwei Anschläge auf Residenzen bei Frankfurt und Berlin. Die Täter wurden gefasst. Die Polizei geht davon aus, dass sie keiner terroristischen Organisation angehören, sondern Einzeltäter sind.

Die Ermittlungen zu der Ermordung des Ehepaars Neidert, Hauptanteilseigner der Firma Hydrogen Supply, und dreier Passanten in einer Tiefgarage nahe der Frankfurter Oper vor zwei Wochen, verlaufen bisher ohne Fortschritte.

Ein Sprengstoffanschlag auf die Nordsüdtrasse Eins in der Nähe von Münster ist fehlgeschlagen. Die an einem der Strommasten angebrachten Sprengladungen richteten nur geringfügigen Schaden an. Die Polizei wertet die Videoaufzeichnungen der nahe gelegenen Autobahn A1 aus. Ein Bekennerschreiben von FreePeople wird aktuell geprüft.

Lokales: Bereits seit fünfzig Tagen ist die Stromversorgung im Stadtgebiet dank des neuen Speicherwerks deutlich stabiler. Die Ausfallrate liegt damit im Schnitt über alle Stadtteile bei weniger als zehn Prozent.

Die Grüne Tafel meldet einen neuen Versorgungsrekord. Sie verteilt nun täglich sechstausend Mahlzeiten aus Spendenmitteln an vier Ausgabeplätzen in der Stadt…<<

Die Hand erreichte endlich das laut tönende Gerät. Die Finger berührten die Oberfläche. Augenblicklich verstummte die Stimme der Nachrichtensprecherin. Die Hand krallte sich in das Kopfkissen und zog es zur Seite. Der Mann hob blinzelnd seinen Kopf. Gemächlich fuhr die Hand über dunkelblonde Haare. Der Mann drehte sich langsam unter der Decke auf den Rücken und gähnte. Blinzelnd schaute er zum Fenster. Dann drehte er seinen Kopf und blickte zur Uhr. Es vergingen einige Sekunden, als benötigte die Information, die er aufnahm, einen Moment bis zur Verarbeitung.

Endlich schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Die Bettdecke flog zur Seite, rutschte auf den Boden und der Mann sprang aus dem Bett. Hektisch riss er sich sein T-Shirt runter, warf es der Bettdecke hinterher und stürzte mit einem kaum merklichen Hinken durch die Tür hinaus. Seine nackten Füße klatschten leise auf dem hellgrauen Fußboden. Ein paar daumengroße Staubklumpen rollten gemächlich zur Seite.

>>Mist! Der Termin mit der Job-Vermittlung!<<

Der Mann eilte durch einen kleinen dunklen Flur in ein nur geringfügig größeres Bad und blieb vor einem schwach beleuchteten Display stehen, das neben der Tür hing. Mit schnellen Bewegungen tippte der Mann darauf. Das Ergebnis war offensichtlich nicht wie erwartet und er schlug mit der flachen Hand wütend auf das Gerät. Prompt wurde die Bedienoberfläche des Smart Meter schwarz. Das Gerät, mit dem sich Heizung und elektrische Verbraucher der Wohnung steuern ließen, verfiel als Folge der rüpelhaften Handbewegung in den Stand-By-Modus.

>>Was für ein Mist! Stromversorgung stabil seit fünfzig Tagen! Von wegen!<<

Der Mann schob den an nur noch einigen seiner Befestigungsösen hängenden Vorhang der kleinen Duschkabine hinter der Tür zur Seite, zog seine Unterhose aus und warf sie in den Flur, bevor er in die Dusche stieg und das Wasser aufdrehte. Er zog den Duschkopf aus der Halterung und hielt ihn weit genug von sich weg, um nicht mit dem Wasser in Berührung zu kommen. Er beugte sich vor und ließ die kalten Schauer kurz ein paar Mal über seinen Kopf schwenken, wobei er leise vor sich hin fluchte und sich schüttelte.

>>Mann, ist das kalt! Warum muss diese verdammte Stromversorgung immer morgens ausfallen?<<

Er legte den Duschkopf auf den Boden der Duschwanne neben eine Shampooflasche. Dann begann er seine Haare einzuschäumen und wiederholte die Prozedur mit den kurzen Wasserschwenks, begleitet von weiteren leisen Kraftausdrücken und Zuckungen, die durch seinen Körper gingen, bis er das Gefühl hatte, das Shampoo zumindest gefühlt wieder ausgewaschen zu haben. Der Rest seiner Körperwäsche verlief noch schneller, was nicht nur der Wassertemperatur, sondern auch dem Umstand seiner Eile geschuldet war. Wenige Minuten später stand er mit nassen Haaren wieder im Schlafzimmer und kramte Boxershorts, eine Hose und ein Shirt aus dem Kleiderschrank, wobei mehrere Wäscheteile auf dem Boden landeten, die er nicht weiter beachtete. Immerhin fanden sie bereits Gesellschaft vor, die schon länger am Boden verweilte.

Hektisch zog er sich an und eilte in die Küche. Auch dieser Raum glänzte nicht durch eine luxuriöse Ausstattung. Ein einzelner stumpf polierter Spültisch, daneben ein Herd. Die Arbeitsplatte balancierte dazwischen mangels weiterer Unterschränke auf zwei Metallböcken. Ein kleiner Esstisch stand in einer Ecke, umringt von drei Stühlen, die einen abgenutzten Eindruck machten.

Über die Wandseite mit dem Fenster spannte sich, gestützt von ein paar Schränken, eine Ablage, auf der sich ein kleines Sammelsurium von Gewürzdosen, Kaffeetassen, einer Kaffeemaschine, einem Toaster und einem Brotkasten verteilte. Auf dem Toaster klebte ein Schild, auf dem Außer Betrieb stand.

Eilig nahm der Mann aus dem Brotkasten ein paar Toastscheiben. Er warf einen prüfenden Blick auf den Kühlschrank, dessen Tür mit kleinen runden Magneten und Zetteln großzügig bedeckt war. Kurz blieb sein Blick auf einem handflächengroßen Zettel hängen, auf den mit einem roten Stift ein Herz gemalt war, in dem ein Name stand, darunter ein paar Worte:

>>Daniel, mein Lover! Bis bald!<<

Daniel Neumann musste unwillkürlich lächeln. Der Zettel hing hier seit dem vorigen Morgen. Carina hatte sich zwar in der für einen One-Night-Stand üblichen Weise verabschiedet, heimlich und unbemerkt im Morgengrauen, aber immerhin etwas hinterlassen, das auf ein Wiedersehen hindeutete. Er war neugierig, wann sie sich wieder bei ihm melden würde. Viel wusste er nicht von ihr. Sie arbeitete bei einem Möbelhaus als Einkäuferin für Kindermöbel. Sie fuhr ein Motorrad, eine italienische Sportmaschine, was sie interessant machte. Er hatte vor seinem Arbeitsunfall selbst eine Maschine besessen. Und sie hatte einen atemberaubenden Körper. Ihr übriges Talent hatte ihn für die Nacht in einen rauschhaften Zustand versetzt. Sie hatte seine Telefonnummer, er aber dummerweise nicht ihre, was ihn total nervte. Ihm blieb so erst einmal nur abzuwarten.

Vorsichtig öffnete er die Kühlschranktür. Kühle Luft schlug ihm entgegen und das Licht im Innern brannte. Das Gerät war noch oder wieder in Betrieb. Damit standen die Chancen gut, dass das, was im Kühlschrank lagerte, noch genießbar war. Er ignorierte das unterste Fach, in dem sich Bierflaschen stapelten, ebenso das Fach in der Tür, in dem eine halb leere Wodkaflasche von zwei ähnlich geleerten Flaschen mit Whisky und einer dunkelblauen Flüssigkeit flankiert wurde. Während Daniel mit einer Hand ein paar aufeinandergestapelte Plastikbehälter herausnahm, tippte er mit der anderen Hand auf das Display seines Smartphones, das auf der Ablage neben dem Kühlschrank in einer Ladeschale lag, in trauter Zweisamkeit mit einer Commwatch, die sich stets in Verbindung mit dem Telefon befand und die neben der Uhrzeit hauptsächlich eine Bezahlfunktion, eine Mailschnellansicht und Identifikationsdienste bereitstellte.

Tatsächlich schaffte er es, den Zugriffscode einzugeben, ohne dass ihm einer der Behälter aus der anderen Hand rutschte.

Kurz darauf schaute Daniel kauend aus dem Fenster. Seine Wohnung befand sich im vierten Stock eines Mietshauses in einem Vorort der Stadt direkt an einer Hauptstraße. Von seinem Fenster aus konnte er gut mehrere Rent-to-drive Parkplätze auf der anderen Straßenseite vor einem Schuhgeschäft sehen, zwei davon belegt. Andere Fahrzeuge standen nicht auf der Straße. Der Besitz von eigenen Autos war an zwei Faktoren geknüpft, die in diesem Stadtteil nicht viele Leute erfüllten. Zunächst reduzierten Emissionsvorschriften die Auswahl auf elektrische Antriebe. Fahrzeuge, die Strom nur aus Akkus bereitstellten, litten in ihrer Langlebigkeit am teuren Austausch der Akkus nach wenigen Jahren, was möglicherweise nicht an der Unfähigkeit von Ingenieuren, sondern der Geschicklichkeit von Kaufleuten lag. Fahrzeuge mit Brennstoffzellen, die ihren Strom während der Fahrt erzeugten, waren beim Kauf immer noch extrem teuer. Der zweite Faktor war das Vorhandensein ausreichender finanzieller Mittel, die hier kaum jemand besaß.

Mietwagenfirmen machten also das Geschäft mit der geliehenen Mobilität. In Folge waren am Abend die zahlreichen Parkplätze vor den Häusern ausgiebig belegt. Am Morgen jedoch herrschte akute Flaute, der Fluch der Gemeinschaftsgüter, die immer die benutzten, die schneller waren als die anderen. Buslinien verkehrten zwar, aber nur unzuverlässig, was Daniel an diesem Morgen überhaupt nicht half.

Erleichtert stellte er fest, dass beide Fahrzeuge eines lokalen Mietwagenanbieters zur Verfügung standen. Auf der Betreiber-App der Verleihfirma reservierte er sich eines der Fahrzeuge. Jetzt hatte er zehn Minuten Zeit, sich am belegten Auto zu identifizieren. Die Uhr auf dem Display des Smartphones zeigte achtzehn Minuten nach sieben. Bis zum Termin blieb ihm noch fast eine dreiviertel Stunde.

Dieser Stadtteil im Randgebiet der Stadt hatte die vergangenen Jahre weitgehend unbeschadet überstanden. Trotzdem konnte sich jeder, der hier in den letzten Jahrzehnten seine Zeit verbracht hatte, erinnern, dass die Häuser früher nicht in diesem Maße mit Graffitis überzogen und die Straßen mit weniger Müll bedeckt waren. Auch hatten die Fenster in den Erdgeschossen vor Jahren noch keine stabilen Gitter gehabt, die es nächtlich umherziehenden Einbrecherbanden und Gelegenheitsplünderern möglichst schwer machen sollten. Die Kameraüberwachung wies in diesem Stadtteil große Lücken auf, was solche Maßnahmen dringend erforderlich machte. Immerhin aber suchte man hier auf den Bürgersteigen platzierte brennende Mülltonnen und darum herumstehende Typen noch vergebens. In anderen Stadtteilen sah das durchaus anders aus, insbesondere im Norden der Stadt, der schon immer ein besonderer Anziehungspunkt für die sozial Schwächeren gewesen war.

Seit er hier wohnte, war erst einmal in seine Wohnung eingebrochen worden. Die Diebe hatten sich tagsüber ins Treppenhaus geschlichen und dann mehrere Wohnungstüren aufgebrochen. Bei Daniel war nicht viel zu finden gewesen. Als kleines Dankeschön hatten die Einbrecher mitten in seiner Küche einen stinkenden braunen Haufen samt darauf drapierten Toilettenpapier hinterlassen, den Kühlschrank geplündert und die Matratze seines Bettes zerschlitzt. Seitdem sicherten zwei schwere Stahlriegel die Wohnungstür, die sich auf beiden Seiten der Tür in Metallhalterungen in der Wand schoben. Das Besondere an dem System waren die Schließzylinder, die in je einer beweglichen Stahlkugel lagerten, die über ein Kommando vom Smartphone mittels kleiner Elektromotoren um neunzig Grad längs zur Tür gedreht werden konnten. Damit half nicht einmal das Aufbohren der Zylinder etwas. Das System samt Akku hatte mehr als einen Monatslohn verschlungen. Aber bei den weiteren Einbrüchen im Haus war seine Wohnung verschont worden. Mit einem mit schwarzem Filzstift auf die Tür geschriebenen Fuck you, Arschloch! konnte er sehr gut leben. Mit Vandalismus und Ekelhaftem auf dem Fußboden weniger.

Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Schmierereien zu entfernen. Carina hatte seine Erklärung zu dem fantasievollen Graffiti mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen und sich lieber damit beschäftigt, ihm noch vor der Tür das T-Shirt auszuziehen und seine Hose aufzuknöpfen.

Für die personell knapp ausgestattete Polizei war Streifendienst zur Gefahrenabwehr eine nachrangige Aufgabe geworden, was Daniel oft genug gegenüber den anderen Hausbewohnern argumentieren musste, die wussten, bei welchem Arbeitgeber er vor einigen Monaten noch beschäftigt gewesen war. Aber er konnte nicht mehr für sie machen als ihnen Ratschläge zu geben, wie sie sich gegen das Aufbrechen ihrer eigenen Wohnungstüren schützen konnten.

Daniel stopfte sich den letzten Rest des Brotes in den Mund, legte sich die Commwatch ums Handgelenk, griff nach dem Smartphone und ging zur Küchentür, wobei er mit einem Fuß eine Kiste traf, die unter dem kleinen Esstisch stand. Die Kiste schoss ein Stück weiter und stoppte am Bein eines Stuhls. Mit lautem Klirren fielen ein paar darin abgestellte Flaschen um, die denen in der Kühlschranktür sehr ähnelten. Daniel stockte kurz, schüttelte seinen Kopf und eilte in den Flur. Er würde doch in nächster Zeit seine Wohnung auf Vordermann bringen müssen. Die Spuren seiner ungesunden Lebensweise beseitigen, seinen Kleiderschrank mit gewaschener Wäsche füllen und andere Dinge, die Frauen lieber sahen als leere Whiskyflaschen unterm Tisch und einen Haufen getragener Klamotten auf dem Fußboden. Ein guter Eindruck konnte nicht schaden. Es musste ja nicht gleich für den Rest des Lebens sein, aber für ein paar weitere unbeschreibliche hormonell dominierte Nächte. Für mehr würde er sein Leben noch deutlich mehr in Ordnung bringen müssen. Aktuell die größte Hürde, die sich ihm bot.

Auf der Straße war es ruhig. Zwar hatten die Geschäfte bereits geöffnet, aber nur wenige Leute waren zu dieser frühen Zeit unterwegs. Ein paar Fahrzeuge rollten vorbei. Ein deutliches synthetisches Surren begleitete die Wagen und machte auf sie aufmerksam. Ein paar Lieferdrohnen zogen in mehreren Metern Höhe vorbei.

Daniel überquerte die Straße. Vor den Rent-to-drive Parkplätzen blieb er stehen und gab über die Mietwagenapplikation auf seinem Smartphone eine Bestätigung seiner Reservierung ein. Die Applikation übergab ein Signal, um den sich nahenden Mieter anzumelden. Prompt blinkte auf dem Armaturenbrett des rechten Wagens kurz ein Lichtsignal und zeigte als Antwort die Entsicherung der Türen an.

Daniel stieg in den kleinen Stadtwagen, einen hochbauenden, sehr kurzen Zweisitzer mit kleinem Kofferraum, wie er bevorzugt von Leihfahrzeugfirmen eingesetzt wurde. Er legte sein Smartphone in eine Halterung in der Konsole. Sofort hatte sich das Gerät mit dem Fahrzeug verbunden. Ab diesem Moment wurde die Nutzung des Wagens minutengenau abgerechnet. Auch die Fahrzeugelektronik aktivierte sich. Nun wurden Daniel einige gesetzlich vorgeschriebene Hinweise über alle Risiken der Benutzung eines Wagens auf dem fahrzeugeigenen Display angezeigt, die er ignorierte. Ohne nur eine Zeile zu lesen, tippte er auf den Bestätigungsbutton. Daniel hatte sich schon wiederholt gefragt, welcher Fahrer diese Texte wirklich jemals gelesen hatte.

Ein unangenehmes lautes Piepen wies ihn darauf hin, dass er noch nicht angegurtet war. Kaum rastete das Gurtschloss ein, wurde im Display die Bereitschaft des Antriebs und der Akkus angezeigt. Daniel prüfte die Reichweitenanzeige und nickte zufrieden. Das Fahrzeug musste bereits am Vorabend abgestellt worden sein. Für den Ladevorgang hatte damit genug Zeit zur Verfügung gestanden. Die Leihwagenplätze waren mit Induktionsplatten im Boden bestückt, über die die Akkus der Fahrzeuge kontaktfrei mit Strom geladen wurden. Solche Systeme verhinderten Stromdiebstahl sehr zuverlässig.

Das System meldete sich mit einer freundlichen männlichen Stimme und fragte nach dem Fahrtziel, um eine optimale Route zu ermitteln, vorbei an möglichen Staus, mit geringstmöglichem Energieverbrauch. Abschließend wurde Daniel gefragt, ob er den automatisierten Fahrzeugmodus wünschte, was nichts anderes bedeutete, als dass der Wagen das Lenkrad wegklappen würde, um das Ziel per automatischer Steuerung selbständig anzusteuern. Der kleine Hinweis auf den Preis dieses Service fiel fast beiläufig. Mangels ausreichender Liquidität für solchen Luxus wählte Daniel den Selbstfahrmodus.

Endlich gab die Elektronik das Beschleunigungspedal frei. Daniel steuerte in Richtung Innenstadt. Es waren wenige andere Wagen unterwegs, die meisten davon ebenfalls Mietwagen. Nach wenigen Minuten verließ Daniel den Stadtteil und steuerte auf eine mehrspurige Bundesstraße, die die Stadt in der Mitte teilte. Er passierte an der Auffahrt eine Mautbrücke, die den Wagen registrierte und seine Mietkosten unangenehm nach oben trieb, und erhöhte das Tempo etwas, blieb aber auf der rechten Spur. Mehrere andere Wagen überholten ihn mit geringfügig höherem Tempo, machten aber eilig Platz, als ein paar schwarze SUV mit abgedunkelten Scheiben auf der linken Spur vorbeizogen und dabei eindeutig das geltende Tempolimit und die Kameraüberwachung des Verkehrs missachteten.

Gelangweilt gönnte sich Daniel einen Blick in ein anderes Fahrzeug, in dem er einen langen blonden Haarschopf auszumachen glaubte. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Fahrerin des Wagens war ausgesprochen attraktiv und Daniels Blick blieb an ihr haften. Ein paar Momente zu lang. Prompt ertönte ein unangenehm scharfes Pfeifen, dann erklang die Stimme der Fahrzeugsteuerung in einem sehr bestimmenden Basston.

>>Achtung, Aufmerksamkeitsalarm! Bitte fahren Sie an die Seite und stoppen Sie die Fahrt oder bestätigen Sie Ihre Fahrbereitschaft! Achtung, Aufmerksamkeitsalarm!<<

Auf dem Display wurde ein großer roter Button angezeigt, der die gut lesbare Aufschrift >>Fahrercheck<< trug. Genervt tippte er auf den Button. Das Ganze wiederholte sich zweimal, bevor das Überwachungssystem feststellte, dass der Fahrer tatsächlich wieder seinem Blick nach vorne auf die Straße richtete. Daniel wusste, es brauchte nur zwei weitere dieser Vorfälle und der Wagen würde dauerhaft per Blinksignal auf sich aufmerksam machen, bei Schrittgeschwindigkeit, während das Fahrbahnerkennungssystem den Wagen in die nächste Nothaltebucht lenken würde. Sicherheit war oberste Priorität im Straßenverkehr. Immerhin gab es in Deutschland pro Jahr nur noch weniger als eintausend Verkehrstote, als Ergebnis der immer weiter zurückgehenden Fahrzeugzulassungen und der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitssysteme in allen Fahrzeugen. Die kleine Kamera in der Instrumententafel vor ihm registrierte sein Gesicht, solange der Wagen sich vorwärts bewegte. Die Fahrzeugsteuerung analysierte die Aufnahmen und entschied darüber, ob der Fahrer eventuell nur noch als Passagier behandelt werden musste.

Daniel atmete tief durch, während er den Wagen in die nächste Abfahrt Richtung Innenstadt steuerte. Kurz danach passierte er einen Kontrollposten, an dem einer der SUV parkte, die ihn wenige Minuten zuvor überholt hatten. Der Posten bestand aus zwei schweren zur Seite rollbaren Torelementen aus Stahl, um die gesamte Breite des Fahrwegs sperren zu können, und einem massiven Metallgerüst, das wie ein Bogen über der Straße stand und mehrere Kameras trug, die in beiden Richtungen Aufnahmen von Fahrzeuginsassen, Fahrzeugen und Passanten machten und in der Lage waren, weitergehende Scans außerhalb des Bereichs sichtbaren Lichts durchzuführen. Das Gerüst wurde auf beiden Seiten von einer etwa vier Meter hohen Mauer fortgesetzt, die auf jeder Straßenseite erst an den Hausreihen endete. Der Kontrollposten war einer von mehreren Dutzend, die alle Auswahlstraßen des Stadtzentrums sicherten. Das Ganze erinnerte an mittelalterliche Zustände, wenn auch die damals üblichen Zugbrücken fehlten und Kameras den Job der Mauerwache übernahmen.

Innerhalb des gesicherten Bezirks war die Stadt außerdem mit einem Netz von Überwachungskameras überzogen. Die Sicherung der Kontrollposten führten Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma durch, von denen mehrere solche Dienstleistungen inklusive der Kameraüberwachung in allen größeren Städten anboten. In dieser Stadt gab es drei solche abgesperrten Bereiche. Außer dem Stadtzentrum waren das Gelände der privaten Universität und eines der südlichen Stadtviertel abgeriegelt und wurden von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht.

Vier breitschultrige Typen in schwarzer Kleidung mit kurz geschorenen Haaren standen neben den hochgestellten Schranken und beobachteten mit gelangweilter Miene Fahrzeuge und Fußgänger, die Richtung Innenstadt wollten. Sie trugen Halfter mit Elektroschockern und Schlagstöcke am Gürtel. An ihren Köpfen waren zudem Headsets mit einer kleinen Kameralinse zu erkennen. Als Daniel langsam an ihnen vorbeirollte, wurde er von den Männern nur mit einem kurzen desinteressierten Blick bedacht.

Lediglich die automatische Mauterfassung schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit, zumindest für den kurzen Augenblick, den die Geräte über der Durchfahrt benötigten, um sein Fahrzeug zu identifizieren und eine Zahlungsaufforderung an die Leihwagenfirma zu schicken, die einen Atemzug später bereits seinem Konto belastet wurde.

Wenige Minuten später parkte er das Fahrzeug auf einem freien Rent-to-drive Parkplatz gegenüber dem Gebäude, in dem sein Termin stattfinden sollte. Das Amt für Arbeit, wie es einer Versprechung gleich genannt wurde, lag nahe dem Stadtzentrum in einer ehemals weniger angesehenen Gegend, in der es seit ein paar Jahren zumindest innerhalb des abgesperrten Bezirks keine Problemviertel mehr gab. Dafür hatten erst neue rechtliche Freiräume für finanzstarke Investoren und seit einer Phase der Stadtneuplanung die Sicherheitsdienste gesorgt.

Es war scheinbar noch zu früh für den üblichen Publikumsverkehr in diesem Amt, denn die Straßen waren weitgehend menschenleer. Nur wenige Passanten schlenderten über die Bürgersteige. Zwei Fahrradfahrer rollten an ihm vorbei. Ein Wagen bremste abrupt hinter den Rädern ab und überholte sie mit weitem Abstand. Ein blaues Lauflicht auf dem Dach signalisierte die aktivierte autonome Steuerung des Fahrzeugs. Achtung, hier lenkt ein Computer.

Daniel nahm seine Sachen an sich und stieg aus dem Leihwagen. Nachdem er das Fahrzeug auf dem Stellplatz über der Induktionsfläche abgestellt hatte, beendete er in der App den Leihvorgang. Sekunden später erhielt er auf dem Display die Information über den Mietpreis für die Fahrt. Das Bild wechselte und ein Fenster mit dem Logo seiner Bank öffnete sich, in dem er über die Abbuchung und seinen aktuellen Kontostand informiert wurde. Die angezeigte Zahl war beunruhigend klein. Aber er hatte heute einen Termin, der dieses Problem hoffentlich lösen würde. Auf dem Weg zum Eingang warf Daniel einen Blick auf das Display der Commwatch. Er war pünktlich. Ein paar Minuten blieben ihm noch.

Das Erdgeschoss des Amtes bildete eine Halle, die den Blick bis zur Decke des Gebäudes zuließ. Auf der rechten Seite sah Daniel eine großzügige Wendeltreppe. Geländer zogen sich in den oberen Etagen über die gesamte Gebäudebreite hin. Dahinter verbargen sich vermutlich Büroräume. Im Erdgeschoss befand sich bis zur Wendeltreppe eine Reihe von Schaltern, über denen Nummerierungen angebracht waren. Die Anzeigen informierten außerdem darüber ob die Schalter besetzt waren und welche Besuchernummer die nächste war, die zur Bearbeitung anstand. Bildschirme ersetzten die Plätze der früheren Sachbearbeiter. Neben der Treppe stand ein Wegweiser, der darüber Auskunft erteilte, welche Abteilungen sich in den oberen Etagen befanden. Über der Liste der Büronummern prangte in kräftigen Buchstaben ein Hinweis: Kein Zutritt ohne Vorladung.

Als ginge es darum, diesem Satz eine eindeutige Erklärung hinzuzufügen, stand auf dem ersten Treppenabsatz vor einem mannshohen Sperrgitter ein Uniformierter mit Bürstenhaarschnitt, der seine dunkle Jacke fast bis zum Platzen füllte und mit unbewegter Miene in die Halle hineinschaute, die Daumen in die Taschen seiner Jacke gehakt. Am Gürtel baumelte ein Schlagstock, daneben steckte in einem Halfter ein Taser, ein praktisches Elektroschockgerät für den Umgang mit problematischer Klientel.

Zwei Frauen in abgetragener Kleidung standen an den Schaltern und sprachen mit Mitarbeitern auf den Bildschirmen. Der eigentlich dunkelgraue Fußboden der Halle hatte dringend eine Reinigung nötig. Helle Schlieren, Ränder und Abdrücke von Schuhsohlen überall zeugten noch von den letzten Regentagen. Die Wände waren ebenfalls alles andere als sauber. Gelangweilte Besucher hatten sich hier ebenso mit kleinen Graffitis und Schmierereien verewigt. Von einem dunklen Fleck nahe dem Eingang liefen schmale Spuren in eine Richtung über den Fußboden, als wäre Flüssigkeit verspritzt worden. Die Färbung erinnerte Daniel an Blut. Der Fleck war an den Rändern etwas verwischt, als hätte jemand seinen kräftigen Haarschopf dort angelehnt und hin und her bewegt.

Daniel versuchte sich erst gar nicht vorzustellen, was hier passiert sein mochte. Er öffnete im Kalender seines Smartphones den eingestellten Termin.

Jobvermittlung Desk 12 las er und schaute sich suchend um.

Unter der gesuchten Zahl auf einem Monitor im rechten Teil der Halle wurde bereits seine Reservierungsnummer in kräftigem Rot angezeigt. Daniel stellte sich vor den Schalter und grüßte die Frau auf dem Schirm freundlich. Ein Schild an ihrer schlichten blauen Bluse wies sie als Fr. Wolenski aus. Frau Wolenski schaute ihn nur kurz an und tippte weiter energisch auf eine Tastatur während sie auf einen Monitor schaute. Daniel blieb geduldig vor dem Schalter stehen und schaute sich gelangweilt um. Einige Leute betraten die Halle und verteilten sich auf die anderen Schalter. Frau Wolenksi, die sich wohl längst im fortgeschrittenen Alter befand, beachtete ihn nicht weiter und ging ihrer Arbeit nach. Ihre grauen schulterlangen Haare waren strähnig, ihr Gesicht von vielen kleinen Falten durchzogen. Der Rücken der Frau war ungesund krumm, was dem Kopf beim Blick auf den Bildschirm eine unnatürlich abgewinkelte Position auf dem Hals verlieh. Sie trug dazu ein dickes schwarzes Brillengestell mit halbkreisförmigen Gläsern, das ihrem Gesicht eine zusätzliche Strenge verlieh.

Wohl, um eine gewisse psychologische Wirkung gegenüber den Kunden des Amtes herzustellen, befanden sich die Bildschirme über Augenhöhe der Kunden. Über ihre Bürokamera schaute Frau Wolenski ein Stück auf Daniel herunter. Endlich nahm sie ihre Hände von der Tastatur und drehte ihren Stuhl herum.

>>Sie wünschen?<<

Sie schaute ihn über die sehr tief sitzenden Brillengläser hinweg an und schon hatte er das Gefühl, eher vor einer Richterin als vor einer Sachbearbeiterin zu stehen. Daniel ignorierte das aufkommende Unbehagen und hielt seine Commwatch gegen einen Sensor unter dem Bildschirm. In der Ablage darunter befand sich eine dunkle Glasfläche, auf der ein daumenähnliches Symbol aufleuchtete. Daniel legte seinen Daumen auf die Fläche, die sich schmierig anfühlte. Der Abdruck wurde gegen die Daten aus der Commwatch abgeglichen. Hätte Daniel einen Identchip unter der Haut seiner rechten Hand getragen, wäre der Fingerabdruck nicht notwendig gewesen. Aber er hatte sich nicht zu diesem kleinen medizinischen Eingriff durchringen können. Allein das Gefühl, eine einen Zentimeter lange und einen halben Zentimeter durchmessende Kapsel im weichen Gewebe unterhalb des Daumens zu tragen, ließ ihn frösteln. Frau Wolenski schaute kurz auf ihren Monitor und nickte ihm dann zu.

>>Herr Daniel Neumann! Sie sind zu Ihrem Termin pünktlich! Das ist schon einmal sehr positiv!<<

Ihre Stimme war kalt und scharf, eher vom Typ Aufseher als Berater. Das versprach kein angenehmes Gespräch zu werden.

>>Sie sind seit drei Monaten ohne Beschäftigung! Heute endet damit die Übergangsfrist für den Bezug von staatlichen Unterhaltsleistungen!<<

Zwischen ihren Augen zog sich die Stirn in einige missbilligend wirkende Falten.

>>Was haben Sie unternommen, um sich eine neue Beschäftigung zu suchen?<<

Vermutlich hing schon von der Antwort auf diese Frage eine minimale Steigerung ihres Wohlwollens ihm gegenüber ab. Somit hatte er schon keine gute Ausgangssituation.

Die Wahrheit war, er hatte gar nichts getan. Die Wochen seit seiner Entlassung aus dem Polizeidienst hatte Daniel in Bezug auf das Lebensnotwendige weitgehend mit Nichtstun verbracht.

Auch wenn es absehbar gewesen war, hatte es ihn ziemlich getroffen, als die Kündigung ausgesprochen wurde. Es war schnell gegangen. Der Leiter seiner Abteilung Internetkriminalität hatte ihn an jenem Morgen bei seinem Eintreffen zu Dienstbeginn direkt in sein Büro beordert. Auf dem Schreibtisch lag ein Umschlag, den er Daniel schweigend zuschob. Grundsätzlich stand nicht viel in dem Brief. Sein Vertrag sei zum nächsten Monatsende gekündigt. Der Grund war banal und stand vermutlich seit mehreren Jahren in Tausenden von solchen Kündigungsschreiben, die die staatlichen Einrichtungen verschickten, um ihren Personalbestand an die Finanzlage, also die Höhe der Steuereinnahmen, anzupassen. Er nahm allerdings den größten Teil des Textes ein, der sich über die Seite hinzog.

>>Durch das Gesetz zur Regulierung von Bundes-, Landes- und Kommunalhaushalten ist allen Einrichtungen der öffentlichen Hand untersagt, defizitäre Haushalte auszuweisen. Im Rahmen des damit verbundenen Zwangs zur Ausgabenregulierung ist auch die Polizeidirektion Dortmund verpflichtet…<<

Und dann ging es in schwülstiger Beamtenprosa weiter. Seine Stelle war aufgrund komplizierter Umstände überflüssig geworden. So einfach war das. Zumindest auf dem Papier.

Nach der Ausbildung für den Polizeidienst hatte Daniel zwei Jahre bei der Bereitschaftspolizei gearbeitet, bis er mit seiner Einheit zur Absicherung einer Demonstration befohlen wurde. Die Demonstrationen zu den Auswirkungen des deutschen Staatsbankrotts hatten gerade begonnen. Das Ausbleiben der Zahlungen von Sozialhilfen und Renten und die sprunghaft steigende Arbeitslosigkeit ließen die Gewaltbereitschaft vieler Bürger sprunghaft ansteigen. Eine große Gruppe Krawallmacher griff seine Einheit an, als sich die Hauptgruppe der Demonstranten auf dem Rathausplatz der Stadt versammelt hatte. Es ging rasend schnell. Erst wurden sie mit Hunderten von Plastikbeuteln beworfen, die beim Aufprall zerplatzten. Die Polizisten mit Farbe bespritzten und aus ihren Helmvisieren undurchsichtige Gestaltungsflächen für moderne Malkunst machten. Dann stürmte eine große Gruppe gegen die desorientierten Polizisten und überrannte sie. Es war kein spontaner Angriff gewesen. Die Angreifer waren gut ausgerüstet gewesen, mit Schlagstöcken, Messern, Schlagringen, Pfefferspray, Brustpanzern, schweren Stiefeln.

Daniel erinnerte sich noch viel zu gut daran. Ein Plastikbeutel mit blauer Farbe war auf seinem Helm zerplatzt und hatte ihm vollständig die Sicht genommen. Ein Angreifer hatte sich gegen seinen Schild geworfen und ihn umgestoßen. Dann presste jemand seine Arme und Beine auf den Boden, sodass er bewegungsunfähig war. Die Schmerzen, als ein stahlbewehrter Schlagstock sein linkes Knie traf und seine Kniescheibe in mehrere Stücke zerteilte, würde er sein Leben lang nicht vergessen. Auch die nachfolgenden Stiefeltritte auf das Knie nicht. Jemand riss ihm den Helm vom Kopf und ein Schlag gegen seine Stirn erlöste ihn damals von den Schmerzen.

Mehrere Monate und Operationen später war er wieder in der Lage gewesen, zu arbeiten, jedoch nicht mehr als Bereitschaftspolizist. Sein Knie war weitgehend wieder hergestellt worden, aber meldete sich bei jeder unbedachten oder zu langen Anstrengung mit einem dumpfen Schmerz und leistete jeder zu starken Beugung Widerstand. Also hatte man ihn in den Innendienst versetzt. Die anschließenden Jahre verbrachte er nach einer entsprechenden Ausbildung bei einer Abteilung, die sich damit beschäftigte, gesetzeswidrige Aktivitäten im Internet zu verfolgen. Es war kein Traumjob und er tat sich mit einigen Anforderungen schwer, aber es war ein Job und manchmal war er sogar mit seinen Ermittlungen erfolgreich.

Bis er rausgeworfen wurde. Ein Brief teilte ihm das Notwendige mit. Sein Vorgesetzter sprach ihm sein Bedauern aus, schüttelte ihm die Hand, dankte ihm für seine Arbeit und bat ihn dann, seinen Schreibtisch sofort zu räumen, da er mit sofortiger Wirkung beurlaubt sei, aus Sicherheitsgründen. Natürlich, Daniel hätte ja auf die Idee kommen können, aus einem Anflug von Rachsucht ein paar Ermittlungen zu sabotieren, möglicherweise Verdächtige zu warnen.

Er musste nur noch ein paar Arbeitsutensilien abgeben, ein paar Unterschriften leisten und Quittungen entgegennehmen. Dann begleitete ihn jemand aus dem Gebäude und Daniel hatte das Gefühl, völlig hilflos zu sein. Allein das Tempo, in dem er vom Wachdienst vor die Tür gebracht wurde, machte ihm deutlich, wie schnell man das Gefühl verinnerlichen konnte, nutzlos oder sogar lästig zu sein.

Dazu war ihm blitzschnell die Kontrolle über sich selbst abhandengekommen. Ein fast dreißigjähriger Polizist mit einem demolierten Knie. Ohne Job, ohne Geld. Für welchen Job war er überhaupt geeignet? Daniel machte sich in einem Zustand mittelschwerer Lethargie auf den Weg nach Hause. Die folgenden Wochen verschlief er tagsüber, vertrieb sich die wachen Stunden zuhause in einer Mischung aus Wut, Niedergeschlagenheit und Selbstzweifel. Abends suchte er erst unregelmäßig, dann nahezu täglich die umliegenden Kneipen auf und ertränkte seine schlechten Gedanken in günstigem Alkohol, bis er nicht mehr ohne Hilfe von seinem Platz an der Theke hochkam und nach dem Saufen Begleitung fand, unsanft und nur bis zur Tür.

Wenn er es dann noch irgendwie nach Hause schaffte, setzte er seine Saufgelage in der Küche fort, bis er morgens meistens auf dem Fußboden liegend mit heftigen Kopfschmerzen erwachte. Nachdem er sein dringendstes Bedürfnis, sich Teile seines Gedächtnisses wegzutrinken, gestillt hatte, reduzierte Daniel seinen Alkoholkonsum und verlegte sich darauf, mit anderer körperlicher Aktivität seine depressive Grundhaltung zu überdecken.

In den Kneipen um die Sicherheitszone der privaten Universität traf man seltener die übertrieben geschminkten Frauen in stilistisch und preislich billigen Klamotten, die erst nach den Wünschen ihres Gesprächspartners fragten und dann einen Preis nannten. Hier fand man eher Bekanntschaften, die keine finanziellen Nöte plagten. Studienplätze an einer privaten Universität waren nicht billig, die Klientel dieser Einrichtung daher meist eher in finanziell gehobenen Schichten zu suchen. Solange man sich auf Nachfrage nach persönlichen Dingen nicht allzu sehr mit der Wahrheit aufhielt, aber noch glaubwürdig blieb, wurden auch ein paar Nächte vergnüglicher.

Carina war seine letzte Bekanntschaft gewesen. Die Erste, die ihn überredet hatte, die Nacht bei ihm zu verbringen. Alle anderen hatten es vorgezogen, ihn morgens aus ihrem eigenen Bett rauszuwerfen. Möglicherweise war es ihm egal gewesen, ihr seine doch eher billig anmutende Unterbringung zu zeigen. Die anderen Frauen hatte er auch nicht wiedergesehen. Was konnte er also verlieren. Als sie zu später Stunde in seinem Bett landeten, hatte es sie ohnehin nicht interessiert. Was sie am Morgen gedacht hatte, als sie durch seine Wohnung schlich, während er noch schlief, hatte er erst mit dem Zettel auf seinem Kühlschrank mitbekommen.

>>Ich habe Sie etwas gefragt!<<

Daniel zuckte zusammen. Er hatte sich ein paar Sekunden zu lange in Gedanken verloren. Zu lange für eine wichtige Mitarbeiterin dieses Amtes, die eine Vielzahl Fälle wie seinen jeden Tag zu bearbeiten hatte. Sie schaute ihn mit einer gewissen herablassenden Ungeduld an, die auf ihn wirkte, als würde schon eine Uhr ticken und die letzten Sekunden dieses Termins abzählen.

>>Nun, ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung, wie ich das sinnvoll angehen soll. Ich war Polizist. Ich habe meine Kontakte angesprochen, die Stellenangebote der verschiedenen in Frage kommenden Behörden durchgesehen, aber es war nichts Passendes für mich dabei!<<

Eine Lüge musste zumindest glaubwürdig klingen.

Möglicherweise deutete Frau Wolenski die zu lang geratene Denkpause auch als Verlegenheit über seine Hilflosigkeit. Immerhin war auch er vor ein paar Monaten noch so wie sie bei einer staatlichen Einrichtung angestellt gewesen. Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas milder, zumindest um eine kleine Spur. Sie warf einen Blick auf ihren Monitor.

>>In den Angaben, die Sie zu Ihrer Situation gemacht haben, steht, Sie haben eine Knieverletzung, die Sie daran hindert, in den Streifendienst zu gehen. Haben Sie dazu Nachweise?<<

Die Stimme behielt ihre Kälte bei. Durchschaute sie seine letzte Antwort, weil sie so etwas jeden Tag zu hören bekam?

>>Ich hatte Ihnen den Zugriff auf meine Daten bei meiner Krankenversicherung freigegeben. Darin befindet der Befund zu meinem Knie!<<

Frau Wolenski schaute wieder auf ihren Monitor und bewegte ihre Finger bedächtig über den Touchscreen neben ihrer Tastatur. Nach einer sehr langen Minute nickte sie.

>>Ja, ich habe das vorliegen! Das bedeutet für Ihre Übernahme in die Vermittlung leider eine ziemliche Einschränkung!<<

Irgendwo in der Halle begann jemand mit einem starken Akzent laut und unbeherrscht zu schreien und Beleidigungen auszustoßen. Die Flut von Ausdrücken schien nicht enden zu wollen. Das Vokabular wiederholte sich jedoch recht schnell. Dann knallte es laut, wieder und wieder.

Daniel schaute zur Seite und erblickte einen Mann mit fettig glänzenden schwarzen Haaren ein paar Schalter weiter. Er trug eine löchrige Hose und ein etwas zu klein geratenes Hemd. Der Mann schlug mit der flachen Hand wie ein Besessener auf den Bildschirm eines Schalters, während er seine Beschimpfungen fortsetzte. Eindeutig hatte ihn irgendetwas an der Unterhaltung mit seinem Sachbearbeiter sehr aufgeregt. Der Uniformierte lief die Treppe herunter und näherte sich dem Mann von hinten, während der weiter wie von Sinnen mit der Hand auf den Monitor einschlug. Der Uniformierte hielt etwas in der Hand, das er dem Wütenden in den Rücken drückte. Der Mann erstarrte in seiner Bewegung, während ein knisterndes Geräusch seinen Wortschwall ablöste. Es wurde wieder leise. Der Wachmann zog seine Hand zurück und der paralysierte Mann sackte zu Boden.

Frau Wolenski bekam in ihrem Büro von dem Vorfall natürlich nichts mit. Sie räusperte sich laut.

>>Herr Neumann, wenn wir weitermachen könnten, wäre das sehr hilfreich! Ich habe gleich meinen nächsten Kunden.<<

Daniel wandte sich ihr wieder zu, während der Wachmann über sein Headset Unterstützung anforderte.

>>Äh, ja! Entschuldigung! Hatten Sie etwas gefragt?<<

Wieder tauchten die Falten zwischen ihren Augenbrauen auf.

>>Ich sagte, ich habe momentan kein Angebot für Sie. Das, was ich Ihnen anbieten kann, erfordert entweder Qualifikationen, die Sie nicht haben, oder es bedarf eines Bewerbers, der seine Beine ohne Einschränkung benutzen kann.<<

Daniel wischte sich mit einer Hand über die Stirn. In seinem Knie setzte ein leichtes Stechen ein. Eine Sitzmöglichkeit wäre ihm sehr willkommen gewesen. Er entlastete das linke Bein, was Frau Wolenski scheinbar nicht entging. Die Falten auf Ihrer Stirn bekamen eine neue Dynamik und schoben sich nach oben.

>>Was für Stellen wären das denn?<<

Sie machte eine abwehrende Handbewegung.

>>Ein Hausmeisterjob für ein Firmengebäude. Die zu betreuende Fläche beträgt einhundertfünfzigtausend Quadratmeter. Das bedeutet lange Wege und Sie wackeln jetzt schon auf Ihren Beinen herum. Auf einen Müllwagen kann ich Sie auch nicht schicken. Wie wäre es mit Fahrradkurier?<<

Daniel zuckte zusammen.

>>Meinen Sie das ernst?<<

Sie senkte den Kopf und schaute ihn über ihre halbkreisförmigen Gläser an.

>>Sie haben gefragt, Herr Neumann! Schaffen Sie es, den ganzen Tag Fahrrad zu fahren?<<

Er schüttelte den Kopf. Sie nickte ihm gefällig zu.

Ein Stück entfernt griffen zwei Männer in dunkler Bekleidung nach den Beinen des Randalierers und schleiften ihn zum Ausgang. Daniel wagte nur einen kurzen Blick zur Seite.

>>Gut! Ich kann Ihnen also nichts anbieten! Das ist gut für Sie! Ich kann Ihnen aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung und Ihrer Einstufung aufgrund Ihrer bisherigen Tätigkeit als Angestellter des Landes finanzielle Unterstützung für weitere sechs Monate gewähren. Sie werden unter Berücksichtigung Ihrer körperlichen Einschränkung Arbeitsangebote erhalten. Sie sind verpflichtet, sich bei den Arbeitgebern binnen zwei Werktagen vorzustellen und sich um den jeweiligen Job zu bemühen. Wir erhalten Rückmeldungen der Jobanbieter. Wenn Sie den Eindruck machen, Sie nehmen diese Termine nicht ernst, werden wir Ihnen sofort die staatliche Unterstützung streichen.

Außerdem haben Sie sich selbständig um eine Arbeit zu bemühen. Sie melden uns jede Woche mindestens einen Nachweis darüber, dass Sie bei jemandem vorgesprochen haben. Haben Sie das alles verstanden?<<

Überrascht von diesem Wortschwall nickte Daniel stumm, auch wenn er dem Gehörten nicht zustimmen konnte. Arbeit war, gemessen an der Zahl der Arbeitsuchenden, Mangelware. Arbeitsangebote gab es in überschaubarer Menge, erst recht für Leute wie ihn. Die Bezahlung war wohl noch ein anderes Thema.

>>Gut! Ich habe Ihre Bankdaten. Sie erhalten Ihre erste Zahlung spätestens morgen. Der amtliche Bescheid mit dem Ihnen zugeteilten monatlichen Betrag erhalten Sie noch heute!<<

Sie tippte mit einem Finger auf den Touchscreen und Daniels Smartphone antwortete mit einem Klopfton. Frau Wolenski nickte ihm zu.

>>Das war es für heute! Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag!<<

Daniel war entlassen. Der Bildschirm wurde schwarz. Er verließ mit langsamen Schritten die Halle und hielt draußen für einen Moment an. Die beiden Männer, die den Randalierer aus der Halle gezogen hatten, waren gerade damit beschäftigt, ihn in einen Kastenwagen zu setzen. Er hatte nach dem Einsatz des Elektroschockers nur bedingt Kontrolle über seinen Körper. Beim Versuch, sich auf die Rückbank des Wagens zu setzen, kippte er zur Seite und stotterte etwas Unverständliches.

Die beiden Männer warfen die Tür hinter ihm zu und setzten sich nach vorne in den Wagen mit dem Firmenlogo eines Sicherheitsdienstes. Er beschleunigte mit leisem Surren und entfernte sich in Richtung der Stadtabsperrung. Die Regeln innerhalb des gesicherten Bereichs waren ziemlich einfach. Die Sicherheitsdienste hatten absolutes Hausrecht. Wer ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde mindestens aus der Sicherheitszone hinausgeworfen.

Der Mann mit den fettigen Haaren und der löcherigen Hose hatte vermutlich wie Daniel einen Termin gehabt, um staatliche Unterstützung zu erhalten. Seiner Reaktion nach war sie ihm nicht mehr gewährt worden. Darauf kam es nicht mehr an. Er würde vom Sicherheitsdienst zur Zufahrt gebracht und auf der anderen Seite der Absperrung abgeladen werden. Man würde seine Personalien aufnehmen und ihm gegenüber vermutlich ein mehrere Monate dauerndes Zutrittsverbot zum gesicherten Stadtbereich aussprechen. Sollte er es trotzdem wagen, die Zugänge zu passieren oder auf einem anderen nicht erlaubten Weg in diesen Bereich einzudringen, würde die Kameraüberwachung sofort Bilder von ihm erfassen und die Gesichtserkennungssoftware in der Überwachungszentrale sehr schnell einen Sucherfolg anzeigen. Die Folge eines solchen nicht Beachtens eines Zugangsverbots war eine Haftstrafe, immerhin in einer staatlichen Justizvollzugsanstalt in einem kleinen Zimmer, in das niemand einbrach, bei ausreichender Versorgung mit Essen und einer Menge Ruhe.

Vielleicht für Daniel in ein paar Monaten auch eine Option, um noch Unangenehmeres hinauszuschieben.

Sonnenkaiser

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