Читать книгу Träume, die im Meer versinken - Edda Blesgen - Страница 10

Kapitel 7

Оглавление

Jürgen beschloss, Stubenhocker zu werden. Am nächsten Tag, einem Samstag, schaute er aus dem Fenster. Ben und Stefan liefen durch die Wiesen. Soll ich nicht doch rausgehen? Das Zimmerleben erschien ihm bereits jetzt, nach einer halben Stunde, eintönig und beengend. Er nahm sich vor, außer Stubenhocker auch noch ein Musterschüler zu werden, griff nach seinem Biologiebuch, blätterte dann allerdings nur lustlos darin herum, betrachtete das Bild von einem Bauernhof mit Kühen, Hühnern, Gänsen. Wie gerne hätte er ein Haustier, natürlich keinen Hund, Hunde machten ihm Angst, vielleicht eine weiche Schmusekatze? Aber Mama erlaubte es nicht. Elisa erging es da besser. Neulich hatte die Lehrerin ihre Schüler über Haustiere befragt.

„Wer von euch hat einen Hamster?“

Unter anderen meldete sich Elisa.

„Wer hat einen Kanarienvogel oder Wellensittich?“

Wieder ging Elisas Finger in die Höhe.

„Wer hat eine Schildkröte?“

Elisa zählte zu den Glücklichen.

„Sag mal, habt ihr zu Hause einen zoologischen Garten?“, wollte die Lehrerin wissen.

Bei Hund und Katze musste Elisa dann allerdings passen.

Plötzlich beschloss Jürgen, sich eine Katze zuzulegen, keine echte, sondern eine, die niemand sah, die es nur in seiner Fantasie gab. So würde es auch keinen Ärger mit Mama geben. Oder wie wäre es doch mit einem Hund? Der ließe ihn vielleicht seine Angst vor diesen Tieren überwinden. Ja, ein Hund sollte es sein! Jürgen schloss die Augen und konnte ihn ganz deutlich vor sich sehen: groß, mit funkelndem Blick und gefährlich blitzenden Zähnen. Aber er fürchtete sich nicht vor ihm, denn dies war sein Beschützer. Nur Diebe und Einbrecher würden von ihm beißend verjagt. Nun brauchte Jürgen kein banges Herzklopfen mehr zu haben, wenn Papa ihn abends für eine Flasche Bier in den Keller schickte. Er war nämlich gar nicht mutig, im Gegenteil, Gewitter, Dunkelheit, Spinnen, schnell und hoch sausenden Karussells, seine Lehrern ängstigten ihn. Beim wöchentlichen Schwimmunterricht wagte er sich schlotternd nur bis zum Bauchnabel ins Wasser, auf einer zwei Meter hohen Leiter befiehl ihn Schwindel, ihm gruselte vor Fröschen, Regenwürmern und dicken Nachtfaltern. Doch am meisten fürchtete er, jemand könne seine Ängstlichkeit bemerken. Damit das nicht geschah, klopfte er oft flotte Sprüche, zeigte sich waghalsig. Niemand sollte ahnen, was für ein kleiner – nein sogar großer – Angsthase Jürgen war, der sich sogar davor fürchtete, alleine in den Keller zu gehen. Aber jetzt hatte er einen Hund als Begleiter, der würde selbst Gespenster in die Flucht schlagen. Vielleicht sollte man ihn auch einmal auf Elisa, Stefan und Ben hetzen? Nein, das wäre gemein. Aber er täte ihnen ja nichts, nur ein bisschen die Zähne fletschen, knurren, ihnen einen Schrecken einjagen.

Nach einer halben Stunde sah Jürgen sich gezwungen, dem Hund zuliebe sein Stubenhocker-Dasein aufzugeben, denn so ein Tier muss schließlich ausgeführt werden.

„Komm, wir gehen spazieren“, lockte er seinen unsichtbaren Vierbeiner und trottete nach draußen, wanderte den Weg hinunter, wandte sich nach links und trabte am Bahndamm entlang, balancierte eine Weile auf den verrosteten Schienen, über die schon seit langem kein Zug mehr fuhr; die Strecke war vor mehreren Jahren still gelegt worden. Ab und zu blieb er stehen, drehte sich um – was auf dem schmalen Gleis gar nicht so einfach war, ohne das Gleichgewicht zu verlieren – und wartete auf seinen unsichtbaren Begleiter. Beim alten Schrankenwärterhäuschen verließ er die Schienen und ging durch die Wiesen zum Ahornweg zurück.

In einiger Entfernung trabten Ben und Stefan im Dauerlauf davon. Jürgen gab sein Spiel auf und rannte los, um die beiden einzuholen, aber vergebens, ihr Vorsprung war zu groß. Darum lief er nach einer Weile langsamer, ging dann im Schritt und blieb schließlich stehen. „Wozu den beiden nachlaufen? Eigentlich spiele ich ab und zu auch ganz gerne allein“, versuchte er sich ein wenig trotzig einzureden. Jürgen setzte sich auf einen Stein am Wegrand und kraulte seinen Hund. Es freute ihn, als Elisa neben ihm auftauchte, obwohl er sie eigentlich für eine blöde Ziege hielt.

„Guten Tag“, sagte das Mädchen freundlich.

„Vorsicht, tritt meinem Hund nicht auf den Schwanz“, brummte Jürgen ohne aufzusehen.

„Wie heißt dein Hund?“, wollte Elisa wissen.

„Quatsch doch nicht so dumm, du siehst doch, es ist überhaupt keiner da.“ Auf einmal hatte er nicht mehr die geringste Lust, sich mit einem Mädchen abzugeben. „Außerdem würde ich mich an deiner Stelle in Sicherheit bringen. Er beißt nämlich jeden Fremden.“

Elisa setzte ihren Annäherungsversuch fort. „Wenn wir uns anfreunden, bin ich bald nicht mehr fremd für ihn.“ Sie ging ihm gewaltig auf die Nerven. Was war nur in sie gefahren, warum tat sie auf einmal so liebenswürdig?

Herr Geuer, Stefans Opa, der auf seinem Spaziergang vorbei kam, blieb stehen.

„Jürgen hat einen Hund“, verkündete Elisa. Wollte sie ihn lächerlich machen?

„So? Wo steckt er denn?“

Direkt neben Ihnen. Aber er ist unsichtbar.“

Herr Geuer stützte sich auf seinen Spazierstock.

„Nur ich kann ihn sehen“, erklärte Jürgen.

„Ich auch“, behauptete Elisa.

„Aha, verstehe.“ Herr Geuer schien gar nicht verwundert. „Es ist ein Fantasiehund. Mit euch und ihm verhält es sich ähnlich wie mit den Sonntagskindern. Sie verstehen die Sprache der Tiere, weil sie eben an einem Sonntag geboren wurden. Dein Hund ist für euch sichtbar, da ihr ihn euch mit eurer Vorstellungskraft ausmalen könnt.“

„Hm, ja“, murmelte Jürgen verwirrt.

„Wenn ich mich mächtig anstrenge – wer weiß – vielleicht gelingt es mir auch eines Tages, ihn zu sehen.“ Herr Geuer bückte sich, tätschelte in der Luft herum, dort wo der Kopf des Hundes sein könnte, richtete sich wieder auf, rückte seinen Hut zurecht, tippte grüßend mit dem Finger an die Krempe und ging weiter.

„Der ist in Ordnung“, bemerkte Elisa und sah ihm nach. „Ein anderer Erwachsener hätte gesagt: Das ist Unsinn. Er dagegen tut, als glaube er alles, obwohl gar kein Hund da ist.“

„Was heißt hier: Obwohl kein Hund da ist?“, fragte Jürgen aufgebracht. „Dir fehlt wohl die nötige Fantasie.“ Kopfschüttelnd erhob er sich von dem Stein. „Komm, wir gehen“ rief er seinem Vierbeiner zu.

Verdutzt sah Elisa ihm nach. „Der spinnt“, murmelte sie vor sich hin.

Eine halbe Stunde streifte Jürgen noch mit seinem unsichtbaren Begleiter umher, dann ging er nach Hause. Claudia war wieder da; sie trank in der Küche mit Mama Kaffee. Julia hielt ihr Mittagsschläfchen. Papa kam herein, begrüßte seine Tochter zwar, aber ziemlich frostig, unausgesöhnt. Dann zog er es vor, alleine im Wohnzimmer zu sitzen, hinter seiner Zeitung verborgen. Wieder mal die Stellenanzeigen studierend, bemerkte er ab und zu im Selbstgespräch, welche Chancen ihm in der Privatwirtschaft entgingen, was für ein Glück sein Chef habe, weil er blieb, trotz des miserablen Gehalts, das man für einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst in Kauf nehmen musste.

Mama lächelte Jürgen freundlich an, strich ihm sogar über seine widerspenstigen Haare. „Schön, dich wieder hier zu haben.“ Es war ungewohnt, Mama über Gefühle reden zu hören; in letzter Zeit hatte sie ihn kaum wahrgenommen. Jetzt wurde er verlegen; abermals kamen ihm die Tränen. Zu ärgerlich, anstatt männlicher und erwachsen zu werden, entwickelte er sich zu einer Heulsuse. Seine Mutter und Schwester sollten ihn nicht weinen sehen. Jürgen lief hinaus, hockte sich in seinem Zimmer aufs Bett. Vielleicht wollte Mama mit ihrem Freundlichsein nur Eindruck auf Claudia machen? Was sollte das Getue? Er war doch nicht freiwillig zu Oma gegangen, sondern dorthin abgeschoben worden. Einen Moment lang beherrschte ihn das Gefühl grässlicher Einsamkeit. Doch dann fiel ihm ein: Er war jetzt nicht mehr allein. Auf dem Fußboden kauerte sein Hund, der die Schnauze auf sein Knie legte und gekrault werden wollte. Und Jürgen erlaubte dem Fantasiehund, das Aussehen zu verwandeln. Ein kleines weißes, weiches Bündel sprang zu ihm aufs Bett und kuschelte sich mit zufriedenem Brummen auf der Decke zusammen. Jürgen legte sich neben ihn.

„Ich muss einen Namen für dich aussuchen“, murmelte er müde – und schlief am helllichten Tag ein.

Nach einer Weile weckte ihn Mama. „Du wirst für einige Zeit zu Claudia gehen“, sagte sie. Jürgen konnte es kaum fassen und packte, jubilierend vor Freude, seine Sachen abermals zusammen.

„Weißt du, dass ich einen Hund habe?“, fragte er, auf Claudias Sofa zwischen Bettlaken und Decken eingemummt, am Abend schläfrig.

„Einen Hund? Mama erlaubt dir, einen Hund zu halten?“

„Sie ahnt nichts von ihm. Er ist nämlich unsichtbar. Dort unten, an meinen Füßen liegt mein Begleiter, der mir überall hin folgt, auch hierher. Keine Angst, in seinem Fell sitzen keine Flöhe.“

„Stubenrein ist er auch?“

„Aber klar.“

„Gut, dann lasse ich ihn bei dir auf meinem Sofa schlafen. Gute Nacht, ihr zwei. Träumt was Schönes.“

Was mag ein Hund träumen? Von großen Knochen zum Knabbern, von Katzen, die er jagt?, überlegte Jürgen, während Claudia das Licht löschte und zu Heinz ins Schlafzimmer verschwand.

Träume, die im Meer versinken

Подняться наверх