Читать книгу Träume, die im Meer versinken - Edda Blesgen - Страница 4

Kapitel 1

Оглавление

O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben“, sang Jürgen lauthals. „O Freiheit, o Freiheit“, schmetterte er noch lauter. Von wem war das noch mal? Elisa, seine Ex, war Opernfan; er hatte sich nie dafür begeistern können, oftmals Grimassen geschnitten, wenn sie hingebungsvoll ihrer klassischen Musik lauschte. Elisa hingegen verließ fluchtartig das Zimmer, sobald er eine Kassette mit Liedern von Mireille Mathieu abspielte. Erst als er heimlich mit Dora zusammen war und merkte, sie schwärmte ebenfalls für Opern, wollte er die junge Frau mit seinem Wissen beeindrucken, fing an hinzuhören, Fragen zu stellen: „Von wem ist das?“, und die ahnungslose Elisa wunderte sich über sein plötzliches Interesse.

„O Freiheit...“ – Bestimmt stammte das wieder mal vom ollen Beethoven. Richtig, jetzt fiel es ihm ein. Fidelio, Beethovens einzige Oper. Einmal hatte Elisa ihn zu einem Theaterbesuch überreden können. Weder an die Musik noch an die Handlung konnte er sich erinnern, nur noch an die grässliche Langeweile. Ein weiteres Mal war er mit Dora, seiner zweiten Frau, im Theater gewesen. Ihre ausschweifenden Erklärungen – vorher und in der Pause – nervten, wenn er auch, scheinbar aufmerksam, freundlich lächelnd zuhörte. Im letzten Akt war er sogar eingeschlafen. Keine Frau würde ihn je wieder in eine Oper schleppen; nie wieder würde ihm irgendwer irgendetwas aufzwingen. Er war unterwegs in die absolute Freiheit, Autobahn Richtung Süden, den Kajak auf dem Autodach, Zelt, Luftmatratze, Kühlbox, Spirituskocher im Kofferraum, seine Tasche mit Badehose, Tauchermaske und Schnorchel, eine weitere mit Freizeitkleidung, Unterwäsche. Mehr brauchte er nicht. Einige Zwanzig-Euro-Scheine befanden sich in seinem extra großen Brustbeutel. Pass, Wagenpapiere und seine Ersparnisse waren unter der Reserveradabdeckung im Kofferraum versteckt. Er hatte vor seiner Abfahrt ein Konto, welches das von seiner Firma an ihn gezahlte Schwarzgeld enthielt, und von dem seine Frau nichts ahnte, aufgelöst.

Ein Stau im Tunnel. Zum Glück saß Elisa nicht neben ihm, sonst würde sie wieder husten, dann keuchend nach Luft japsen, in panischer Aufregung nach ihrem Asthmapümpchen suchen. Er hatte sie jedes Mal deswegen abgrundtief verachtet. Seiner Meinung nach alles Anstellerei, Krankheiten, in die sie sich hineinsteigerte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, darum summte er unbeeindruckt vor sich hin, was Elisa, wie er wusste, fürchterlich aufregte, obwohl sie kein Wort dazu äußerte. Nur wenn es zu einem Streit zwischen ihnen kam, dann wärmte sie alte Geschichten auf, machte ihm Vorwürfe über angebliches Fehlverhalten, das mitunter schon Wochen oder sogar Monate zurücklag, warf ihm Gleichgültigkeit, Gefühlskälte vor. „Ich könnte neben dir ersticken, du bleibst ungerührt“, hatte sie schon öfters geäußert. Er fand es lästig, sich mit der redegewandten Elisa auseinander zu setzen, weil er stets den Kürzeren zog. Also verließ er jedes Mal wortlos das Zimmer, was sie erst recht in Wut versetzte. Sie riss die Tür auf, die er gerade hinter sich geschlossen hatte, schimpfte, wurde, weil von ihm keine Antwort kam, immer lauter, warf die Tür schließlich knallend ins Schloss. Dann ließ sie eine Beethoven-Schallplatte oder CD laufen, um sich zu beruhigen, wie sie später behauptete, aber hauptsächlich um ihn zu ärgern, wie er glaubte.

Jürgen hatte immer wieder gesagt: Wenn ich erst einmal Rentner bin, fahre ich ein ganzes Jahr lang in den Süden, nehme meinen Kajak mit, bleibe dort, wo es mir gefällt, lebe in den Tag hinein, bis es mich weiterzieht. Elisa hätte ihn gewähren lassen. Bei Dora, seiner zweiten Frau, die, als er sie sechsundfünfzigjährig kennen lernte, nur halb so alt war, kam das nicht in Frage. Obwohl nie zugegeben, nicht einmal vor sich selbst, stand er seit der Hochzeit vor fünf Jahren unter dem Pantoffel seiner jungen Frau. Damit war jetzt glücklicherweise Schluss. Aus Gesundheitsgründen vorzeitig aus dem Dienst auszuscheiden war ihm nicht gelungen. Das kam davon, wenn man sich fit hielt; dafür wurde man bestraft. Aber er hatte allen ein Schnippchen geschlagen, sich jetzt schon seine Freiheit genommen, Arbeit, Frau, ein plärrendes Kind und vor allen Dingen seine Mutter, deren dauernde Anwesenheit in seiner Wohnung ihm unerträglich schien, zurückgelassen. Keine Schufterei mehr, die drei Jahre bis zur Rente. Er war an diesem Morgen wie immer um sieben Uhr aufgestanden. Dora hatte bereits Kaffee gekocht, den Frühstückstisch gedeckt, sein Butterbrotpaket und die Thermoskanne für die Pause wie üblich für ihn bereit gestellt. „Tschüss, bis später“, verabschiedete er sich von ihr, als sie unter die Dusche ging. Während im Badezimmer das Wasser rauschte, lud er in fieberhafter Eile seinen Kajak auf den Wagen. Die Reisetasche, bereits tags zuvor gepackt, als Dora mit Julia, ihrer dreijährigen Tochter, das allabendliche Ritual aus Geschichte erzählen, Herumalbern, Singen und Kuscheln absolvierte, wurde im Kofferraum verstaut. Gegen viertel vor acht fuhr er davon, aber nicht zur Arbeit, die Plackerei als Fliesenleger am Bau war zu Ende. Seine heimlichen Ersparnisse müssten die drei Jahre bis zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag reichen. Eventuelle Probleme beim Rentenantrag kamen ihm gar nicht in den Sinn. Er machte sich selten Sorgen, um das was morgen passieren könnte.

Ich werde Dora nie wiedersehen, überlegte er, ganz ohne Bedauern, und bei dem Gedanken, seine Mutter nun niemals mehr ertragen zu müssen, fiel ihm geradezu ein Stein vom Herzen. Selbst wenn er seine dreijährige Tochter Julia im Geiste vor sich sah, gab ihm das nur einen winzigen Stich. Die Kleine war niedlich; als Beweis, was ein Neunundfünfzigjähriger noch leisten konnte, eignete sie sich wunderbar. Ansonsten wusste er wenig mit ihr anzufangen, fand sie nur anstrengend. Nach dem Duschen würde Dora Julia wecken und für den Kindergarten zurecht machen. Seine Mutter, inzwischen einundneunzig aber erstaunlich fit, lag um diese Zeit noch in den Federn. Dora brachte ihr jeden Morgen die Zeitung und eine Tasse Kaffee ans Bett. Beim Aufstehen um neun Uhr erwartete sie ein gedeckter Frühstückstisch. Jürgen wurde zwar ebenfalls von seiner Frau verwöhnt, hielt das auch für ganz normal, schließlich war er derjenige, der arbeitete und das Geld nach Hause brachte, fand aber die Ansprüche seiner Mutter unverschämt und erst recht ärgerte ihn – der es selbst nie besonders genau nahm mit der Körperpflege – dass sie ungewaschen, nicht frisiert, am Frühstückstisch erschien.

Gegen zehn machte Jürgen Picknick auf einem Rastplatz, aß sein von Dora, der Vegetarierin, mit Gurkenscheiben und Käse belegtes Brot, trank den Kaffee und fuhr weiter bis ein Uhr mittags. Allmählich wieder hungrig, steuerte er die nächste Raststätte an. Das Restaurant kam nicht in Frage, er musste haushalten, damit sein Geld möglichst lange reichte. Also rein in den Shop, eine Dose Bier, zwei Äpfel, ein Paket Toastbrot, ein großes Stück Wurst, Dora zum Trotz. An der Kasse stand eine lange Schlange – meist ältere Frauen, wahrscheinlich mit einem Bus unterwegs, die jetzt auf der Hinfahrt in den Urlaub bereits Mitbringsel für ihre Enkelkinder einkauften: Plüschtiere, Comic Hefte, Sandkastenspielzeug aus Plastik und für sich selbst Reiseproviant: Schokoriegel, Kekse, Gummibärchen, Dosenlimo und Cola. Touristinnen, dachte Jürgen verächtlich, lustige Witwen, unterwegs in Richtung Süden. Schon hier, noch nördlich der Alpen, wo es kühl und regnerisch war, liefen sie nur leicht bekleidet in dreiviertellangen Hosen – Caprihosen nannte man sie, glaubte er sich zu erinnern – mit ärmellosen Tops, bevorzugt im Leoparden-, Tiger- oder Reptilienmuster, herum, einen Strohhut auf den krausen Dauerwellen, mit viel Gold behängt, am Hals, den Armen, einige trugen sogar Fußkettchen um die geschwollenen Knöchel, dazu schwere Klunker in den Ohren, welche die Ohrläppchen auf fast die doppelte Länge zogen. Die Frau vor ihm hatte dicke gelbe Hornhaut an den Fersen und blaulackierte Zehennägel in ihren offenen Sandaletten. Wahrscheinlich waren ihre Fingernägel in der gleichen Farbe angemalt, vermutete Jürgen, aber die konnte er nicht sehen. Diese Frauen gaben fröhlich das Geld aus, für das die Männer sich ein Leben lang abgerackert hatten, um dann, kaum in Rente, zu sterben und nichts mehr davon zu haben. Ihm würde es nicht so gehen. Er war unterwegs, seinen Traum zu verwirklichen, bevor Alterswehwehchen ihn daran hinderten.

Die Schlange an der Kasse rückte nur langsam vorwärts. Alte Weiber, schimpfte Jürgen innerlich, wütend, weil sie ihn fatal an seine Mutter erinnerten, an die er nun absolut nicht denken wollte. Noch schlimmer als die Witwen fand er die Geschiedenen, die sich von dem Anteil an den Rentenansprüchen ihres Verflossenen ein schönes Leben machten, indes der Ex knapp bei Kasse war, besonders wenn dieser eine neue Familie gründete. Elisa hatte sich nach der Scheidung einen schwerreichen, mehrere Jahre jüngeren Freund geangelt, mit dem sie bereits jetzt Weltreisen unternahm, die sicher nach dessen Pensionierung noch an Häufigkeit zunehmen würden, und er, Jürgen, müsste mit seinem Geld, das die beiden eigentlich gar nicht nötig hatten, dazu beisteuern, während es ihm an der Rente fehlen würde.

Ob Elisa auch inzwischen mehrere überflüssige Kilos mit sich herumtrug, wie die Frau vor ihm in der Schlange? Dora ging bereits jetzt, mit vierunddreißig in die Breite. Schlank war sie nie gewesen, hatte stets breite, muskulöse Schultern und Arme gehabt, aber neuerdings setzte sich zudem noch Fett auf ihren Hüften an, weil sie seit der Schwangerschaft und nach Julias Geburt keinen intensiven Schwimmsport mehr betrieb. Zum Glück würde er nicht länger mit ansehen müssen, wie Jahr für Jahr ihr Gewicht zunahm, wie bereits jetzt vereinzelt vorhandene graue Haare und die Falten sich vermehrten. Verblühte, unter Wechseljahrs-Hitzewallungen ewig schwitzende Frauen, mit dicken Hintern, ausladenden Busen, waren ihm zuwider. Ältere, Bierbäuche vor sich herschiebende Männern, die beginnende Glatzen durch Haarsträhnen zu kaschieren versuchten, fand er genauso abstoßend. Obwohl inzwischen auch nicht mehr der Jüngste, hielt er sich selbst für das lebende Beispiel, wie attraktiv ein Übersechzigjähriger mit ein wenig Disziplin noch aussehen kann: schlank durch Sport, braungebrannt, und das nicht vom Solarium sondern vom Aufenthalt an der frischen Luft. Ein jugendliches Gesicht bildete er sich allerdings nur ein; tatsächlich war seine Haut durch zu viele ausgiebige Sonnenbäder trocken und faltig, zeigte besonders um die Augen herum tiefe Furchen. Doch das wollte er, bis auf ein paar Lachfältchen, sogar vor sich selbst nicht zugeben.

Die Frau vor ihm klemmte den eingekauften Plüschhund unter ihren Arm mit den Schweißrändern im Leopardenmuster-Pulli, öffnete den Reißverschluss der Umhängetasche, holte ein Spitzentaschentuch und eine Parfümsprayflasche heraus. Das Tuch wurde mit Kölnisch Wasser eingenebelt und sie fuhr sich damit durch das Gesicht, über den Nacken, in dem die Haare nass an der Haut klebten. Gleichzeitig mit dem Taschentuch war das Portemonnaie herausgerutscht und fiel – von ihr unbemerkt – zu Boden. Jürgen konnte nicht widerstehen; er bückte sich. Gefunden, nicht gestohlen. Ein hastiger Blick über die Schulter, niemand beobachtete ihn. Schon verschwand die Geldbörse in seiner Hosentasche. Nun nichts wie weg, bevor die Frau – spätestens an der Kasse – den Verlust bemerkte. Zum Glück hatte er vorhin, als sie ihr Kölnisch Wasser allzu großzügig versprühte, den Hustenreiz unterdrückt. Wahrscheinlich hätte sie sich zu ihm umgewandt und sein Gesicht gesehen; jetzt konnte er unerkannt entkommen. Auf dem Weg zum Ausgang stellte er den Einkaufskorb mit Äpfeln, Brot, Wurst, Bierdose einfach neben einem Regal ab, um nicht beim Verlassen des Ladens mit unbezahlter Ware ertappt zu werden. Erleichtert aufatmend – niemand verfolgte ihn – ließ er sich auf seinen Autositz fallen und gab Gas. Das war gut gelungen, obwohl ihm die Übung darin fehlte.

Sein Magen knurrte. Nach einer halben Stunde steuerte er den nächsten Rastplatz an. Hier machte die Busgesellschaft bestimmt nicht erneut eine Pause. Und wenn schon, sicherlich würde ihn niemand wiedererkennen oder gar mit dem verschwundenen Portemonnaie in Verbindung bringen. Vorsichtshalber wechselte er sein dunkelblaues T-Shirt gegen ein knallrotes aus. Jetzt erst wagte er seine Beute zu untersuchen. Ein Kinderfoto, vermutlich der Enkel, für den der Plüschhund bestimmt war, dahinter zwei Hunderteuroscheine. Wahrscheinlich trug sie den größten Teil ihrer Reisekasse in einer dieser unkleidsamen, dickmachenden Gurttaschen um die mehr oder weniger vorhandene Taille gebunden unter ihrem weiten Leoparden-Pulli, aber immerhin zweihundert Euro, dazu noch ein Zehner und Kleingeld, insgesamt zweihundertfünfzehn Euro sechzig – nicht schlecht.

Im Laden erstand er wiederum zwei Äpfel, ein Toastbrot, ein Stück Wurst, eine Dose Bier. Auf dem Rastplatz breitete Jürgen eine Decke aus und setzte sich zum Picknick darauf, öffnete die Bierdose, nahm einen kräftigen Schluck. Während er dicke Scheiben von der Wurst mit seinem Taschenmesser absäbelte und zwischen zwei Scheiben Toastbrot klemmte, rülpste er ungeniert. Das tat gut, ohne Doras missbilligende Blicke. Es war niemand nahe genug, um ihn zu hören, außer drei Kindern, die mit einem Ball herumtollten und ohne ihn zu beachten über den Rand seiner Decke liefen, als sei er gar nicht vorhanden. Sie gingen ihm auf die Nerven. Auch Julia, seine Tochter, brachte ihn manchmal auf die Palme. Mit zweiundsechzig ist man einfach zu alt für kleine Kinder. Enkelkinder ja, die konnte man den Eltern zurückbringen, wenn ihr Geschrei und Herumtoben unerträglich wurden. Er hatte allerdings nie den Sohn seiner Tochter aus erster Ehe verwahrt, sah ihn nur äußerst selten. Es reichte ihm, sich manchmal um Julia, seine Tochter, die zwei Jahre jünger als sein Enkel war, zu kümmern, wenn Dora an einem ihrer Nörgeltage klagte, sie käme nirgendwo hin, nichts als Arbeit mit dem Kind, im Haushalt. Sein Argument, der Nachwuchs habe sich nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin eingestellt, jetzt solle sie auch alleine damit fertig werden, überhörte sie einfach und entschloss sich mitunter plötzlich zu einem Stadtbummel. Dann spielte er widerwillig den Babysitter, während seine Mutter, die er nur aufgenommen hatte, um Julia ganztags zu beaufsichtigen, damit Dora wieder arbeiten und Geld verdienen könnte, sich einfach drückte. Und ausgerechnet dann machte die Kleine jedes Mal ein stinkendes Häufchen in ihre Pampers. Aber auch mit dem Kinderhüten war es glücklicherweise für ihn jetzt aus und vorbei.

Jürgen nahm die beiden Äpfel aus der Tüte, aß den einen, verstaute den zweiten mit dem Rest Wurst und den Toastbrotscheiben in seiner Kühltasche. Dann steckte er das seines Inhalts beraubte Portemonnaie in die leere Apfeltüte und schmiss sie in den nächsten Mülleimer, stieg in seinen Wagen, warf den Motor an, öffnete die vorderen Fenster, obwohl der Himmel sich zugezogen hatte und es nach Regen aussah. Macht nichts, dachte er, sobald die Alpen hinter mir liegen, wird das Wetter besser; ich fahre der Sonne entgegen. Den Arm auf den Fensterrahmen gestützt, fing sein herausragender Ellbogen im Fahrtwind wieder mal an zu schmerzen. Ob das Rheuma ist?, fragte er sich. Na, egal. Bald faulenze ich Tag für Tag in der Sonne, die Wärme wird mir gut tun und ich werde mich zwanzig Jahre jünger fühlen.

Hat mein Chef, nachdem ich nicht zur Arbeit gekommen bin, Dora angerufen, um sich zu erkundigen, ob ich krank im Bett liege? Er würde sie heute Vormittag nicht erreichen, denn sie war im Kindergarten. Dort sollten die Eltern beim Bau eines Indianertipi – was immer das auch ist – helfen. Dora wird mich erst heute Abend vermissen und denken, ich sei nach der Arbeit zum Schwimmen zur Talsperre gefahren und wütend sein, weil ich, ohne sie zu informieren, nicht pünktlich zum Essen komme. „O Freiheit, o Freiheit“, sang er wieder lauthals.

Am nächsten Tag, nach langer Fahrt die ganze Nacht hindurch, unterbrochen nur von einer halbstündigen Ruhepause auf dem Parkplatz einer Raststätte, erreichte Jürgen gegen Mittag sein Ziel, einen kleinen Ferienort an der Riviera. Hier auf dem Campingplatz hatte er vor sechs Jahren mit Dora gezeltet, als Elisa, seine erste Frau, ihn – alleine – mit seinem Boot an der Mosel wähnte. Er füllte an der Rezeption das Anmeldeformular aus, nahm anschließend seine Schwimmtasche und ging, obwohl hundemüde, über den Fußweg hinunter zur Bucht. Der Aufbau seines Zeltes, ein winzigkleines, in dem man nicht einmal stehen konnte, es war ja nur gedacht, um darin zu schlafen, konnte bis später warten. Es herrschte wenig Betrieb am Strand, die meisten Feriengäste saßen beim Mittagessen in ihren Hotels. Vollpension, dachte er verächtlich. Die schönsten Stunden des Tages verbringen die Urlauber bei Tisch, essen riesige Portionen, weil sie für ihr Geld möglichst viel haben wollen und wundern sich dann, dass sie trotz Schwimmens – was bei den meisten sowieso nur aus Herumplätschern besteht – zunehmen. In langen weiten Zügen kraulte er hinaus, lag dann am Strand auf seinem Badetuch. Ja, so ließ sich das Leben aushalten. Der Himmel war zwar bewölkt, aber die Temperatur angenehm warm.

Jürgen döste vor sich hin und grübelte: Gegen zehn, elf Uhr gestern Abend wird Dora angefangen haben, sich Sorgen zu machen. Ahnt sie, dass ich mir endlich meinen Traum erfülle? Dora und die Kleine würden ihn schrecklich vermissen, weinen, sich nach ihm sehnen; seine Mutter auf keinen Fall, ihr war er immer gleichgültig gewesen. Ob die Frauen jetzt beisammen saßen, über seinen Verbleib rätselten? Gut oder schlecht von ihm redeten? Ihm fehlte die Fantasie, sich das Gespräch auszumalen. Wozu auch? Sie mussten sehen, wie sie alleine zurecht kamen. Seine Zukunft jedenfalls konnte er sich lebhaft vorstellen: Sonne, Wasser, faulenzen.

Der Schlaf übermannte ihn; erschreckt fuhr er nach einer Weile hoch, weil irgendjemand ihn nassgespritzt hatte – nein, es regnete. Er packte seine Sachen zusammen, ging zurück zum Campingplatz und baute sein Zelt auf. Beim Hineinkriechen war er bis auf die Haut nass, zog darum die durchweichten Kleidungsstücke aus und legte sich, nur mit der Schwimmhose bekleidet, auf die Luftmatratze. Todmüde schlummerte er gleich ein. Das rächte sich allerdings in der folgenden Nacht. Seine in letzter Zeit eingenommen Schlaftabletten lagen vergessen zu Hause in einer Kommodenschublade. Jetzt benötige ich keine Chemie mehr, redete er sich ein, schließlich gibt es hier weder Verkehrslärm, noch ein plärrendes Baby – obwohl Julia aus dem Alter längst raus war –, es brennt kein störendes Nachtlicht und morgens brauche ich nicht zur Arbeit und kann so lange schlafen, wie ich will. Dem Regen lauschend, der plätschernd auf sein Zelt trommelte, lag er wach, überdreht von der langen Fahrt, neugierig auf das neue Leben, erstaunt über seinen Mut, das Wagnis einzugehen, alles hinter sich zu lassen.

Am nächsten Tag, es goss in Strömen, ging er zum Bahnhof und deponierte einen alten braunen DIN-A4-Umschlag, der seine Ersparnisse enthielt, in einem Schließfach. Mit den darin einstmals enthaltenen Formularen hatte die Landesversicherungsanstalt vor Jahren seinen Antrag auf Rentenauskunft beantwortet. Er war fast krank geworden aus Sorge über die geringe Höhe der zu erwartenden Bezüge. Die aufgeführte niedrige Summe gab den Ausschlag, sich von Elisa zu trennen und Doras Drängen auf eine Heirat nachzugeben, denn zu der Zeit hielt er sie für reich. Sie besaß ein eigenes Haus, von ihrem Vater geerbt, groß, komfortabel, auch Bargeld, dessen Höhe ihm allerdings unklar blieb, das er jedoch auf eine ganz beträchtliche Summe schätzte. Dora, zwar noch in der Ausbildung, würde nach deren Abschluss in ihrem Beruf als Altenpflegerin nicht schlecht verdienen. Sie war jung, müsste, wenn er mit fünfundsechzig in den Ruhestand ging, noch jahrelang arbeiten. Allerdings verringerte sich die Rentensumme für ihn völlig unerwartet bei der Scheidung drastisch, denn die gemeinsam erwirtschafteten Ansprüche wurden addiert und dann durch zwei geteilt. Da Elisa zehn Jahre nach der Geburt ihrer gemeinsame Tochter Susanne nicht gearbeitet hatte und anschließend nur halbtags, würden sie beide jeweils nur geringe Bezüge erhalten. Trotzdem glaubte er, auch im Ruhestand finanziell abgesichert zu sein, denn zusammen mit Doras Gehalt ergäbe sich ein schönes Einkommen. Und er hätte den ganzen Tag über seine Freiheit, könnte viel alleine unternehmen, Kajak fahren, im Talsperrensee schwimmen. Vielleicht auf dem Heimweg ein bisschen einkaufen, das ließe sich machen. Dora, neuerdings eine leidenschaftliche Vegetarierin, ernährte sich am liebsten von Salat, Rohkost und Obst. Abends dürfte sie sich gerne an den Herd stellen, für ihn ein Steak braten und ein paar Kartoffeln kochen – das war doch nicht zu viel Arbeit und keineswegs zu viel verlangt. So hatte er sich das vorgestellt.

Doch dann kam alles ganz anders. Dora brach die Lehre ab, verpachtete ihr Haus und zog zu ihm, weil er in seinem Alter und nur ein paar Jahre von der Rente entfernt, unmöglich noch einmal die Stelle wechseln konnte. Sie fand keinen neuen Ausbildungsplatz, bemühte sich wahrscheinlich auch gar nicht darum. Von der Miete, ihrer einzigen Einnahmequelle, behielt Dora einen – wie ihm schien viel zu großen – Betrag für sich, den Rest steuerte sie zum gemeinsamen Haushalt bei. Dann wurde die junge Frau, angeblich ungewollt, schwanger. Mit neunundfünfzig noch einmal Vater werden, das passte Jürgen absolut nicht, denn dann wäre seine Freiheit gefährdet. Nein, kein Kind, das hatte er ihr vor der Ehe bereits klar gemacht und sie hatte – wenn auch ungern – zugestimmt. Aber auf einmal lehnte sie eine Abtreibung rigoros ab und brachte Julia zur Welt.

Lag es am Regen, der alles grau aussehen ließ und ihm die Stimmung verdarb oder der Übermüdung von der gestrigen langen Fahrt und der schlechten Nachtruhe? Jürgen fand dieses geschäftige, überlaufene Städtchen mit den neuerbauten mehrstöckigen Hotels entlang der Uferpromenade gar nicht mehr reizvoll. Er hatte es anderes in Erinnerung, ruhig, anheimelnd. Vielleicht wäre die Weiterfahrt zu einem weiter südlich gelegenen Aufenthaltsort angebracht, zumal Dora ihn möglicherweise hier suchen würde. Aber das ließ sich ja eventuell noch machen – mal sehen.

Nach der Rückkehr zum Campingplatz legte er den Schließfachschlüssel in den Kofferraum seines Wagens, unter die Reserveradabdeckung, ein sicheres Versteck, wie ihm schien. Anschließend kaufte er in dem kleinen Laden, der zum Campingplatz gehörte, eine Bildzeitung, es gab allerdings nur eine Ausgabe vom Tag vorher, außerdem Pulverkaffee, ein Stück Wurst; Brot war noch genügend vorhanden. Der Regen tropfte in den Becher, als das Kaffeewasser auf dem Spirituskocher vor dem Zelt kochte. Nach dem Frühstück saß Jürgen geduckt auf der Luftmatratze und las die Bildzeitung. Wenn ich das Blättchen aus habe, scheint die Sonne, dachte er, hier regnet es doch niemals mehrere Stunden hintereinander. Aber das Geplätscher ließ nicht nach. Allmählich verging ihm die Laune. Im Zelt war es feucht und kalt, weil, um Licht und Luft hereinzulassen, die Eingangsklappe offen stand.

Nach einer Weile lief er, die Zeitung schützend über seinen Kopf haltend, geduckt zum Auto, schob den Sitz in die Liegeposition, machte es sich bequem, drehte den Schlüssel bis zum Kontakt, hörte Radio. Eros Ramazotti, Dora schwärmte für ihn. Nicht sein Geschmack, aber besser als Opernmusik. Die Zeitung wurde noch einmal von hinten nach vorne durchgeblättert, in der Hoffnung, einen beim ersten Mal übersehenen interessanten Artikel zu finden. Sogar die Anzeigen für Kopfschmerztabletten und Sonnenöl las er, legte dann gelangweilt die Lektüre beiseite, starrte hinaus auf den nassen Campingplatz. Keine Menschenseele ließ sich sehen, nur geschlossene Wohnwagen und Zelte. Gegen Mittag wagte er sich nochmals hinaus in den Regen, lief zum nebenan liegenden Restaurant und bestellte ein Steak, schön blutig, ganz nach seinem Geschmack. Der Gedanke an Dora, die, könnte sie ihn sehen, sicher wieder ihre missbilligende Miene aufsetzen würde, ließ ihm sein Leibgericht noch köstlicher munden. Das tat gut, nach all dem Grünzeug, welches sie ihm in letzter Zeit vorgesetzt hatte – von wegen abends Steaks braten –. Seine Mutter war, im Gegensatz zu ihm, gerne zu vegetarischer Kost übergegangen, „...weil diese Ernährung so gesund ist“. Will sie etwa hundert Jahre alt werden? Na wenn schon, jetzt, weit weg von zu Hause, konnte ihm das gleichgültig sein.

Nach dem Essen ging er zurück zum Auto. Das stetige Trommeln der Regentropfen auf das Wagendach machte ihn müde. Nur nicht einpennen, sagte er sich, sonst liege ich in der kommenden Nacht wieder stundenlang wach. Satt und zufrieden überfiel ihn trotzdem der Schlaf; bei seinem Munterwerden war mehr als eine Stunde vergangen. Es goss noch immer wie aus Kübeln. Ob der Klimawandel daran die Schuld trugen? Dora jedenfalls behauptete so etwas. Vielleicht stimmte es sogar? Früher hatte es im Süden doch nur äußerst selten geregnet. Nein, so habe ich mir meinen Urlaub auf immer nicht vorgestellt, dachte er verdrießlich. Soll ich zur Adriatischen Küste und an dieser entlang weiter nach Süden fahren? Aber dort herrschte, nach den Fernsehnachrichten im Restaurant, ebenfalls nasskaltes Wetter. Vielleicht überlege ich es mir noch einmal und rufe vorsichtshalber zu Hause an, um die Stimmung bei meinen Frauen zu testen.

Im Spätnachmittag machte er sich auf den Weg zu einer Telefonzelle. Was soll ich Dora erzählen, wie mein Untertauchen erklären? Darüber brauche ich mir nicht den Kopf zu zerbrechen, beschloss er. Sie wird froh sein, meine Stimme zu hören, sich jede Frage verkneifen, nur auf eine schnelle Rückkehr drängen. Eine Weile wird sie zappeln müssen, dann lasse ich mich von ihr überreden.

Vor der Fernsprechzelle schüttelte Jürgen seine nassen Haare und stellte erfreut fest, es hatte aufgehört zu regnen. Vom letzten Urlaub besaß er noch eine Telefonkarte, hoffentlich reichte das Guthaben für den Anruf zu Hause. Ein Schild an der Glaswand der Kabine zeigte die Vorwahlnummern aller europäischen Länder an. Er suchte die für Deutschland heraus, drückte die entsprechenden Tasten, dann die für seinen Heimatort, anschließend eine Sechs, die Fünf. Folgte jetzt eine Drei oder eine Neun? Er entschloss sich für die Neun, geriet wieder ins Stocken und hängte den Hörer ein. In seinem Notizbuch stand nur die alte Nummer aus der Zeit mit Elisa. Während der Scheidung hatte er öfters mit ihr Rücksprache nehmen müssen. Die Arbeitgeberfirma und sein früherer dienstlicher Einsatzort, ein Kloster, waren ebenfalls vermerkt. Ein neuerer Eintrag, dabei handelte es sich um den Internisten, der ihn vor einem Jahr wegen seiner Magenprobleme behandelt hatte, weitere Zahlen ohne Namen und Adressen, ihm unbekannt, zu wem sie gehörten. Nein, seine eigene Telefonnummer stand nirgendwo notiert. Er steckte das Notizbuch fort, versuchte es noch einmal mit dem Wählen, sechs, fünf, stockte jedoch erneut bei der Neun.

Sein Blick fiel zufällig in die Nachbarkabine. Oh Gott, Frau Blaufußnagel! Ihr Gesicht hatte er in dem Rastplatzshop nicht gesehen. Aber Figur und Haarfarbe stimmten. Solche Zufälle sind unwahrscheinlich, sagte er sich, sie kann es nicht sein. Vielleicht ist es diesen Sommer modern, die Zehennägel blau zu lackieren. Die Frau sprach und gestikulierte wild dazu mit ihrer freien Hand. Ob sie den Angehörigen daheim vom Verlust des Portemonnaies erzählte? Jürgen wandte ihr den Rücken zu, fing noch einmal an zu wählen ... sechs, fünf, neun, acht, vier, nein, es hatte keinen Zweck. Doch, jetzt klingelte es und gleich darauf meldete sich eine Stimme: Ina, seine Mutter, die hatte ihm gerade noch gefehlt! Er wollte sie weder wiedersehen noch jemals mehr etwas von ihr hören. „Hallo, wer ist da?“, fragte Ina, als er sich nicht meldete und dann zu der Kinderstimme im Hintergrund: „Julia, sei mal still. Ich verstehe kein Wort.“ Jetzt fiel ein Strahl der untergehenden Sonne, die sich durch die Wolken gekämpft hatte, in die Kabine. Jürgen hängte den Hörer ein. Wozu sollte er nach Hause fahren? Ab morgen würde es herrliches Wetter geben.

Die Nachbarzelle war inzwischen leer. „Julia, sei mal still“, hörte er im Geiste noch immer die Stimme seiner Mutter auf dem Rückweg zum Campingplatz. Warum musste Dora die Kleine ausgerechnet Julia nennen, wie seine jüngste Schwester, und nicht Claudia, wie die Ältere? Dora hatte darauf bestanden, weil das auch der Name ihrer Großmutter gewesen war und Jürgen, der gern jeder Diskussion aus dem Weg ging, ließ sie, obwohl verärgert, gewähren.

Während ihrer ersten Lebensmonate hatte er seine kleine Schwester Julia heiß und innig geliebt. Erst als sie ein Jahr alt wurde, fingen für ihn die Probleme an. Er wollte nicht zurückdenken. Doch gegen seinen Willen tauchten die Erinnerungen an die gemeinsame Kinderzeit wieder auf.

Träume, die im Meer versinken

Подняться наверх