Читать книгу Träume, die im Meer versinken - Edda Blesgen - Страница 7

Kapitel 4

Оглавление

Seine Mutter stand eines Tages – mit Hund – vor der Tür, zunächst nur zu einem Besuch, von dem Elisa, bei der sie, obwohl ihr Sohn und ihre Schwiegertochter sich getrennt hatten, immer noch wohnte, angeblich nichts wusste. Bei ihrem nächsten Auftauchen brachte sie in einer Reisetasche Waschzeug, Nachthemd und Kosmetikartikel mit und blieb übers Wochenende. Sie beklagte sich. „Ich bin stets alleine und fühle mich so einsam. Tagsüber arbeitet Elisa. An den Wochenenden und im Urlaub sind sie und ihr neuer Freund unterwegs und keiner von beiden kommt auf die Idee, mich mitzunehmen. Langsam beschleicht mich das Gefühl, ich sei unerwünscht. Die einzigen Lichtblicke sind die Besuche von Susanne, die allerdings nur noch selten vorbeikommt. Anscheinend gefällt ihr der Freund ihrer Mutter auch nicht, der jetzt bei Elisa einziehen will. Dann ist da kein Platz mehr für mich.“

Hat die fromme Elisa, die vor der Ehe keinen Sex duldete, etwa ein Verhältnis? Jürgen war wütend auf seine Ex, die, anstatt ihm nachzutrauern, Trost bei einem anderen Mann suchte, wie er auf diese Weise erfuhr. Aber noch mehr ergrimmte ihn Dora, die sich allmählich für den Vorschlag, einen gemeinsamen Haushalt zu führen, begeisterte. „Selbstverständlich müssen wir uns eine größere Wohnung suchen“, sagte seine Mutter. „Ich brauche ein eigenes Zimmer, damit ich euch nicht störe und bin dafür gerne bereit, die Hälfte der Miete und monatlich einen Teil der Haushaltskosten zu übernehmen. Abends setze ich mich hin und wieder zu euch ins Wohnzimmer, ganz still in eine Ecke. Ich werde euch niemals zur Last fallen.“

Damals, als er Elisa verließ, hatte Jürgen gedacht, er sei nun auch seine Mutter, die bei ihnen wohnte, endgültig los. Aber die angekündigte finanzielle Hilfe überzeugte ihn, er gab dem Drängen der beiden Frauen nach. In dem kleinen Haus außerhalb der Stadt beanspruchte Ina, wie sie jetzt genannt werden wollte, für sich den größten Raum und bezahlte die Hälfte der Miete, aber ihr Beitrag zum gemeinsamen Haushalt fiel, zumindest nach Jürgens Ansicht, recht knauserig aus. Seine Hoffnung, Dora würde endlich wieder arbeiten, blieb unerfüllt. „Morgens eine Stunde Fahrt hin, nachmittags im Berufsverkehr eine Stunde zurück – vielleicht auch länger – der Zeitaufwand ist zu groß. Bei einer Halbtagsstelle mit vier Stunden täglich wäre ich sechs Stunden von zu Hause fort. Das lohnt sich kaum. Außerdem erscheint es mir unsozial, anderen Frauen, die das Geld dringender benötigen als ich, die Stelle wegzunehmen.“ Jürgen ärgerte sich im Stillen schwarz. Fand sie es etwa gerecht, ihn alleine für den Unterhalt der Familien aufkommen zu lassen? Vielleicht wäre ein zusätzliches Einkommen nicht unbedingt erforderlich, aber sie könnten es gut brauchen. Zudem steckte er jetzt täglich auf dem Weg in die Stadt zur Arbeit im Stau, wenn auch keine Stunde, wie Dora übertrieben hatte.

Aber hier schlief er wenigstens besser, zumindest in der ersten Zeit, da es kaum Straßenlärm gab; die Fenster konnten offen bleiben. Weil die nächste Laterne weit entfernt war, wollte Dora nachts ein Licht brennen lassen, wodurch Nachtfalter angelockt wurden, die durch das Schlafzimmer taumelten. Er musste sich als Kammerjäger betätigen, durfte sie jedoch nicht töten, sondern nur hinausscheuchen, obwohl die staubigen Flügel der Flatterinsekten ihm schon beim Hinsehen Brechreiz verursachten. Ungestörter Nachtruhe konnte er sich mithin nicht lange erfreuen.

Der Wunsch seiner Mutter, mit dem Vornamen angeredet zu werden, entfremdete Jürgen diese erst recht. Er sagte weder Mama, noch Ina, als Kurzform von Katharina; früher wurde sie Käthe genannt. Dora benutzte begeistert die Anrede Mutter, da sie ihre eigene früh verloren hatte. Jürgen fand die neue Mitbewohnerin unerträglich. Morgens um neun stand sie auf, hing dann ungewaschen, nicht frisiert, am Frühstückstisch herum und ließ sich von Dora – die das übrigens gern tat – umsorgen. Nach dem Frühstück ging das Jammern los: „Ich fühle mich noch müde und außerdem schrecklich deprimiert.“ Eine Gute-Laune-Pille sollte ihre Stimmung aufhellen. Spätestens eine Stunde später, gegen halb zehn, jetzt endlich geduscht und geföhnt, klagte sie: „Ich bin ja so nervös und aufgeregt“, und schluckte etwas zur Beruhigung. Manchmal schockte sie Dora: „Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen, danach sehne ich mich mitunter. Ein Maiglöckchenstrauß, einige Tage in Wasser gestellt und das hochgiftige Wasser getrunken, kann helfen, einen Menschen ins Jenseits zu befördern.“ Wie hatte sie Jürgen in seiner Kindheit erschreckt, als er anhören musste: „Ich wünsche, ich wäre tot.“ Jetzt ließen ihn ihre Redensarten kalt, zeitweilig hoffte er sogar, sie würde diese Drohung wahr machen.

Den Köter, der mit seiner Mutter bei ihnen einzog, diese scheußliche Promenadenmischung, alt, taub, halbblind, mit Triefaugen und Sabbermund, die den unpassenden Namen Bella – die Schöne – trug, hasste und verabscheute er! Das Fell, früher schwarz, jetzt grau verfärbt und stellenweise zu einem hässlichen Rostrot ausgebleicht, zeigte kahle Flecken. Die schwanzwedelnden Begrüßungen des Tieres versetzten Jürgen in Panik, besonders wenn der Hund an ihm hochsprang und sein Gesicht zu lecken versuchte. Angeekelt wandte er seinen Kopf ab, voll Abscheu über den von schlechten Zähnen herrührenden faulen Atem und brachte kein Verständnis für die Affenliebe auf, die Ina für ihn hegte.

Ihren zweiten Ehemann hatte Ina während seiner letzten Lebensjahre aus dem gemeinsamen Schlafzimmer verscheucht, weil er schnarchte, das wusste Jürgen aus ihren Erzählungen. Jetzt lag das Vieh nachts neben ihr im Doppelbett. Den Kauf eines Einzelbettes lehnte seine Mutter kategorisch ab. „Soll mein armer Liebling etwa auf dem Fußboden liegen, oder willst du ihn gar in eine Hundehütte im Garten verbannen?“ Tagsüber saß er neben seinem Frauchen auf dem Sofa; überall lagen Haare herum, sein Fell stank, besonders wenn er von einem Spaziergang mit Dora – seine Mutter rappelte sich nur noch selten dazu auf – bei regnerischem Wetter nass zurückkam. Das Maß war voll, als er anfing, die Kontrolle über seine Blase zu verlieren, Pfützen in Küche und Diele hinterließ. Ausgerechnet auf der Fliese im Flur, die sich etwas gelockert hatte, pinkelte er mit Vorliebe. Sobald man darauf trat, spritzte einem die stinkende Brühe gegen die Beine. Eines Abends benutzte er sogar im Wohnzimmer den neuen Veloursteppich als Toilette. Das konnte nur pure Bosheit sein, denn Dora war eine halbe Stunde zuvor noch mit ihm draußen gewesen.

Als der Hund mit Ina bei ihm einzog hatte Jürgen gehofft, der Köter würde nicht mehr lange leben; er müsste bald abkratzen; mit seinen sechzehn Jahren war er doch längst überfällig. Aber dank guter Pflege, der Kunst des Tierarztes und seiner Aufbauspritzen, des teuren Fressens – oder trotzdem, denn seine Mutter übertrieb, kaufte Kinderschokolade, fütterte Hähnchenfleisch und Rinderfilet – machte er einen durchaus lebendigen Eindruck.

Als Jürgen an jenem Novemberabend nach Hause kam, beschlagnahmte Ina mit vier Freundinnen mal wieder Sofa und Sesseln. Von wegen ‚ich setze mich ganz still in eine Ecke’. Für ihn war kein Platz frei – vielleicht sollte er sich ganz still in eine Ecke hocken? Woher kennt sie die Leute?, rätselte Jürgen. Seine Mutter hatte sich in kürzester Zeit in der neuen Umgebung einen Freundeskreis aufgebaut. Aber Ina war – im Gegensatz zu ihm – schon immer sehr kontaktfreudig gewesen. Heute hatte sie zum ‚Totenkaffee’ eingeladen. „Aus zwei Gründen“, erklärte sie soeben die makabere Feier. „Da ich noch lebendig bin, kann ich selbst daran teilnehmen; zum anderen stelle ich meinen Körper nach dem Ableben der Anatomie für Forschungszwecke zur Verfügung. Dann findet die Beerdigung erst Monate später statt, wenn mich längst alle vergessen haben.“ Jetzt begann das beliebte Spielchen: „Wer geht zu wessen Beerdigung?“

„Ihr werdet mich alle überleben.“

„Nein, du uns. Du wirfst noch mit unseren Knochen Äpfel von den Bäumen.“

„Meint ihr? Vor meinem nächsten Geburtstag könnte ich schon tot sein.“

„Das sagst du nun schon seit fünfzehn Jahren.“

Das Geplänkel ging weiter, während die Frauen Rommee spielten, Kaffee tranken, Sahneteilchen aßen – auch Ina, die das bei ihrer Zuckerkrankheit überhaupt nicht durfte. Die anderen würden auch besser die Finger davon lassen, dick wie sie sind, fette alte Weiber, dachte Jürgen verächtlich. Seine ansonsten knauserige Mutter tischte ihren Freundinnen jedes Mal Unmengen von Kuchen auf; sogar für einen, um diese Jahreszeit sicherlich sündhaft teuren Freesienstrauß hatte sie Geld ausgegeben – oder Dora, um sich beliebt zu machen. Die sonst von Ina bevorzugten Chrysanthemen würden besser zu diesem Trauermahl passen.

Seine junge Frau lief erstaunlich flink, obwohl hochschwanger, zwischen Küche und Essecke im Wohnzimmer hin und her, brachte Kaffee, servierte Kuchen, bediente begeistert die älteren Damen, füllte immer wieder Tassen und Teller. Dora genoss ihre Gastgeberinnenrolle, selbst die weit mehr als fünfzig Jahre älteren Freundinnen ihrer Schwiegermutter waren ihr willkommen, nachdem sie sich die ersten Monate in der fremden Stadt ziemlich isoliert gefühlt hatte. Ihr Mann führte sie nicht, wie erhofft, in einen neuen Bekanntenkreis ein. Der Kontakt zu den Verwandten war durch seinen Vater schon vor Jahren abgebrochen worden. Die wenigen von ihm und seiner Ex gepflegten freundschaftlichen Beziehungen ließ Jürgen einschlafen, um Vorwürfen, nachdem er Elisa verlassen hatte, aus dem Weg zu gehen. Dabei beneideten die Männer, die längst nicht mehr so gut aussahen wie er, ihn seiner Ansicht nach doch nur, weil sie keine junge Frau wie Dora erobern konnten.

Mutter könnte ruhig etwas sparsamer mit ihrem Geld umgehen, nörgelte Jürgen innerlich, gereizt über die unnötigen Ausgaben. Anstatt die Kohle für Kuchen und Blumen zu verschwenden, soll sie es beiseite legen, schließlich rechne ich mit einem ansehnlichen Erbe. Jetzt musste er sich zu allem Ärger erneut die alte Geschichte anhören, die Ina nach Beendigung des Kartenspiels wieder einmal erzählte: „Eines Abends im Januar, als ich mit meinem Mann vom Theater nach Hause kam, Aida hatte es gegeben, ließ ich den Hund noch einmal zum Pipimachen in den Garten. Plötzlich, während ich meinen Mantel auszog, ertönte ein jämmerliches Winseln. Das arme Tierchen war in unseren Gartenteich gefallen – Feuchtbiotop nennt man das wohl heute – und fand im Dunkeln nicht mehr raus. Ich in den Garten, steige mit Pumps und Abendkleid in den Tümpel – damals machte man sich ja für einen Theaterbesuch noch schick, zog sich festlich an, nicht wie heute die jungen Leute, die mit zerrissenen Jeans und ausgeleierten Pullovern in die Oper gehen. Auf dem glitschigen Boden rutschte ich aus, lag im einsfünfzig tiefen Wasser. Schnell wieder auf die Beine, meinen wild strampelnden, keuchenden Liebling geschnappt, triefend nass ins Haus, zunächst Bella abgetrocknet, in sein Körbchen gelegt und sorgfältig zugedeckt, dann selbst unter die Dusche. Die Schuhe habe ich sofort mit Zeitungspapier ausgestopft, sie waren jedoch ruiniert, das Kleid musste am nächsten Tag in die Reinigung – aber Hauptsache, meinem armen verwöhnten Schatz war nichts passiert.“ Sie drückte Bella, die auf ihrem Schoß saß, an sich, gab ihr einen Kuss auf die feuchte Nase. „Ich sage ja immer: Wenn ich noch mal auf die Welt komme, werde ich Hund bei Hallards.“

Jürgen wandte sich angeekelt ab, während Ina weiter berichtete: „Mein Mann der währenddessen im Wohnzimmer seinen Schlummercognac trank, hatte von der ganzen Rettungsaktion nichts mitbekommen. Ich war total aufgekratzt, lag zunächst wach, redete wie ein Wasserfall, weshalb mein Göttergatte ärgerlich brummte: ‚Schlaf doch endlich.’ ‚Andere Männer singen: Holde Aida’, sagte ich zu ihm ‚und du meckerst.’ ‚Ja, die waren auch nicht verheiratet’, antwortete er darauf.“

Mindestens fünfzehn Mal hatte er die Story inzwischen schon gehört und kannte sie Wort für Wort auswendig, sogar die dazugehörige Mimik und Gestik waren ihm vertraut, als sähe er zum werweißwievielten Mal dasselbe Theaterstück. Ina, die sonst immer klagte und jammerte und von ihren Depressionen sprach, sprühte wenn Besuch kam, vor guter Laune.

„Ja, früher besaß ich auch ein Abo“, fing jetzt eine der Freundinnen an. „Aber seitdem man nur noch die verrückten modernen Sachen spielt, deren Sinn niemand versteht, – wahrscheinlich gibt es gar keinen – habe ich es gekündigt. Zudem werden die Opern nur noch in der Originalsprache gebracht. Italienisch, wer versteht das schon? Dabei kann man dem Text schon kaum folgen, wenn er in Deutsch gesungen wird.“

„Du hast Recht. Ich habe immer vorher im Opernführer nachgelesen und ein Programmheft gekauft – das kostet inzwischen einen Euro. Es gab Zeiten, da erhielt man es kostenlos zur Theaterkarte...“

Ina wollte wieder von ihrem Liebling erzählen (mich hat sie nie so genannt, dachte Jürgen): „Jetzt ist meine Bella alt und jenseits von Gut und Böse – genau wie wir“, fügte sie neckisch kichernd hinzu und blickte Zustimmung heischend in die Runde. „Aber als meine Hundedame noch jedes halbe Jahr läufig wurde, gab ich ihr täglich eine viertel Tablette von meinen Antidepressiva, weil sie ihre Sexualität nicht ausleben konnte. Das arme Tier ist ja so sensibel. Bei Gewitter fürchtet mein Liebling sich entsetzlich, dann gibt’s ein paar Baldriantropfen in den Trinknapf. Ich hingegen liebe Gewitter, stehe am Fenster, schaue, begeistert von dem Naturschauspiel, zu. Vorher plagen mich entsetzliche Kopfschmerzen, weil ich sehr wetterfühlig bin. (Da sind wir ja schon wieder beim Thema Krankheiten, dachte Jürgen.) Wenn es dann richtig losprasselt, blitzt und kracht, lösen sich die Verspannungen. Aber einmal habe ich mich fürchterlich erschrocken, als der Blitz gegenüber in einen Baum einschlug.“

War sie schon vor Jahren depressiv und schluckte Medikamente dagegen?, überlegte ihr Sohn. Tut ihr gut! Wahrscheinlich kam das von dem schlechten Gewissen, weil sie ihre Familie verlassen hatte. Das Gespräch plätscherte dahin. Dora nickte zu allem zustimmend. Vertrat seine junge Frau wirklich die gleichen Ansichten oder wollte sie sich nur beliebt machen? Jürgen wusste es nicht – es war ihm auch gleichgültig und die älteren Damen achteten sowie nicht darauf.

„Soll ich dir ein Bierchen holen?“, fragte Dora ihn.

„Kind, jetzt setz dich endlich einmal hin. Denke an deinen Zustand, schone dich“, mahnte Ina.

Den ganzen Nachmittag hat sie sich bedienen lassen, aber jetzt, wo es um mein Bier geht, ist sie um das Wohl ihrer Schwiegertochter besorgt – und vermutlich noch viel mehr um das des ungeborenen Babys, dachte Jürgen erbost. Susanne, ihr erstes Enkelkind, hat sie in den ersten Lebensjahren nie gesehen. Wahrscheinlich will sie jetzt das Versäumte nachholen. Dora wieselte entgegen dem Rat ihrer Schwiegermutter zum Bierholen in den Keller. Was ihren ‚Zustand' betraf, so war Jürgen mächtig stolz darauf, in seinem Alter noch einmal Vater zu werden – obwohl er sich auf das Baby überhaupt nicht freute.

Ina war beim Thema Schwangerschaft angelangt, bei dem, was sie mitmachen musste an morgendlichem Erbrechen, Kreislaufbeschwerden, Krampfadern „...und das gleich dreimal. Wobei zumindest eins der Kinder gegen meinen Willen gezeugt wurde“, erzählte sie, während Jürgen, zu dem sie vielsagend herübersah, vor lauter Ärger gegen eine aufsteigende Übelkeit ankämpfte. „Nach einem Streit wollte ich nichts von meinem Mann wissen. Er hat mich überrumpelt und täuschte dabei vor, mit einem Kondom zu verhüten. – Heute haben die jungen Frauen es ja zum Glück selbst in der Hand, ob sie in andere Umstände kommen oder nicht.“

„Ja, ja“, stimmten die anderen zu. Aber Ina war noch nicht fertig: „Zwei Töchter musste ich leider begraben. Darunter meinen absoluten Liebling. Man behauptet ja immer, eine Mutter sei all ihren Kinder gleich zugetan, aber wer das meint, macht sich etwas vor.“

Während Jürgen den schnatternden, Kuchen mampfenden, Kaffee in sich hineinschüttenden Frauen grimmig lächelnd zuhörte, dabei sein Bierchen trank, beschloss er, was den verhassten Hund betraf, dem Schicksal ein wenig nachzuhelfen. Antidepressiva, das Stichwort hatte ihn auf die Idee gebracht.

An den folgenden sechs Tage stibitzte er Ina jeden Abend eine Valium aus der Packung – seine Mutter merkte es nicht, weil sie die Tabletten sowieso unkontrolliert schluckte. Ein halbes Dutzend, diese Dosis müsste für einen kleinen Hund reichen, ihm den Garaus zu machen. Dann überkamen ihn allerdings doch unerwarteter Weise Skrupel. Erst zwei Wochen später konnte er sich entschließen, auf dem Nachhauseweg von der Arbeit in den Supermarkt zu gehen. Die kleine Dose Hundeschlemmermahlzeit aus dem Tierfutterregal kostete einsfünfzig, ein Preis der ihn maßlos ärgerte. Er empfand es als pervers, solche Luxusmenus für Tiere anzubieten, wenn anderswo Kinder hungerten, obwohl er niemals auf den Gedanken gekommen wäre, auch nur eine Mark für hungernde Kinder zu spenden. Nach dem Einkauf kamen ihm abermals Bedenken. Erst am darauffolgenden Sonntagmorgen, alle anderen schliefen noch, holte er die Schlemmermahlzeit aus dem Kofferraum seines Wagens, zerdrückte die stibitzten Tabletten und mischte sie unter das Hundefutter. Bella schlang, gierig wie immer, alles in sich hinein. Jürgen sah zufrieden zu, spülte anschließend den Fressnapf aus, trug die leere Konservenbüchse zu seinem Wagen; er würde sie Montag auf dem Weg vom Parkplatz zur Arbeitsstelle in einen Abfallbehälter werfen.

Der gefräßige Köter vertilgte eine halbe Stunde später noch seine übliche Portion und ließ sich beim Frühstück von Frauchen mit Wurst füttern, dann legte er sich in sein Körbchen. Ina war am gestrigen Samstag in die Stadt gefahren, um einen Wintermantel zu kaufen. Lohnt sich das überhaupt noch in ihrem Alter? Und warum konnte sie damit nicht bis Januar, wenn alles reduziert wurde, warten? Zum Glück war Dora, die Gegnerin von Pelztierfarmen, dabei gewesen, sonst hätte seine Mutter womöglich keinen Kamelhaar- sondern einen teuren Pelzmantel erstanden. Um das gute Stück vorzuzeigen, entschloss sie sich zu einem ihrer seltenen Besuche in der Kirche zur Elf-Uhr-Messe, ausnahmsweise sogar zu Fuß: „Die frische Luft wird mir gut tun.“

Beim Nachhausekommen schimpfte Ina über den Pastor, der mit seiner Predigt gelangweilt hatte – wieder einmal, wie sie sagte, dabei beschränkte sich ihre Teilnahme am Gottesdienst auf höchstens zweimal im Jahr, meistens um ein neues Kleidungsstück oder eine neue Frisur vorzuführen. Bella lag, jetzt schwer atmend, noch immer schlafend im Körbchen. Beim Mittagessen blieb sein Platz am Tisch leer. Ina fing an, sich zu sorgen.

„Hoffentlich ist mein Schatz nicht krank.“ Trotzdem streckte sie sich seelenruhig zum Mittagsschläfchen in ihrem Gesundheitssessel aus. „Gestern der Stadtbummel, heute der Weg zur Kirche und zurück, das war doch etwas viel für mich. Ich fühle mich total erschöpft.“

Eine Stunde später kam Ina ächzend aus ihrem Sessel hoch; Bella atmete nicht mehr. Jürgen musste, äußerst lästig für ihn, seine schluchzende Mutter mit ihrem reglosen Liebling zum notdiensttuenden Tierarzt fahren. Als der Doktor bestätigte, der Hund sei tot und all seine Kunst könne ihn nicht wieder lebendig machen, fühlte er sich erleichtert. Die Investition von einsfünfzig in die Hundeschlemmermahlzeit hatte sich gelohnt.

„Warum bin ich nicht gleich diesen Mittag, als er das Fressen verweigerte, mit ihm gekommen“, jammerte Ina verzweifelt.

„Das hätte auch nicht mehr geholfen. Ihr Hündchen war alt und schwach. Es ist ohne Schmerzen friedlich eingeschlafen. So ein schönes Ableben kann man sich nur wünschen.“ Niemand hegte zum Glück einen Verdacht.

Inas Tränen glichen einem Sturzbach, als der Tierarzt ihr sagte, sie solle den Kadaver zum Entsorgen in der Praxis lassen. Selbst Jürgen fand diese Ausdrucksweise des ansonsten so mitfühlenden Arztes reichlich brutal.

„Ich will meine Bella mitnehmen und im Garten zur letzten Ruhe betten“, schluchzte seine Mutter theatralisch und konnte nicht verstehen, weshalb ein Gesetz dies verbot.

Geschieht ihr ganz recht, dachte Jürgen auf der Heimfahrt trotzig. Tat ihr etwa Tiger, meine Katze, damals Leid, die sie einfach aussetzte? Und wenn sie schon dem Tier gegenüber völlig gefühllos sein konnte, hätte mein Kummer sie rühren müssen. Zu der Zeit vermochte er noch intensive Trauer zu empfinden, heute war er abgestumpft. Um den Köter ist es nicht schade, dachte er weiter. Dem habe ich nur einen Gefallen getan, ihn von seinen Altersbeschwerden erlöst und ihm ein langsames Dahinsiechen erspart, beruhigte er sein schlechtes Gewissen. Mutter hätte sich nie dazu aufraffen können, ihn einschläfern zu lassen, wie elend er auch dran gewesen wäre.

Träume, die im Meer versinken

Подняться наверх