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Kapitel 2

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Oma kam zu Julias Einjahr-Geburtstags-Feier, wie üblich zu Fuß, obwohl sie dreieinhalb Kilometer entfernt wohnte. Aber das Gehen zählte zu ihren Steckenpferden, wie sie gerne versicherte. Mama allerdings meinte, Oma sei zu geizig, Geld für die Busfahrt auszugeben. Seit fünf Wochen wohnten Jürgen, seine Eltern und das Baby am Stadtrand. Die alte Wohnung war zu klein für vier Personen. Julias Wiege hatte fast zwölf Monate lang im Elternschlafzimmer gestanden; auf die Dauer konnte das nicht so bleiben. In Jürgens winziger Kammer fand sich beim besten Willen kein Platz für ein weiteres Bett, meinten seine Eltern, obwohl er diese bis vor wenigen Jahren mit seiner älteren Schwester geteilt hatte. Sie mieteten ein Siedlungshaus im Grünen. „Mit Zentralheizung, Garten und Garage“, erzählte Papa jedem stolz, wenn er auch gar keinen Wagen besaß – niemand aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis verfügte damals über ein eigenes Auto –, selbst eine Zentralheizung hielt man noch nicht für selbstverständlich. Sie nannten außerdem als erste in der Verwandtschaft ein Fernsehgerät ihr eigen.

Aus welchem Grund war sein Papa brummig und noch schweigsamer als üblich? Hatten die Eltern Streit? Gefiel ihnen die neue Wohnung nicht? Warum nur lief seine Mama immer mit verweinten Augen herum? Jürgen fühlte sich todunglücklich. Niemand sagte ihm, was los war. „Das haben manche Frauen nach der Geburt eines Kindes“, tröstete Papa ihn vage in einem seiner wenigen mitteilsamen Augenblicke. Dann vertiefte er sich wieder in seine Zeitung. Die Geburt lag bereits ein Jahr zurück, dennoch gab Jürgen sich mit der Antwort zufrieden. Anscheinend gab es keinen Anlass zur Sorge, alles verlief normal.

Mama, Oma Berta, Julia und Jürgen waren allein bei der Einjahr-Geburtstags-Feier. Seine Mutter hatte ihm vorgeschlagen, einige Freunde zu Kakao und Kuchen einzuladen. Aber wen sollte er einladen? Hier gab es neben sechs Baustellen erst fünf fertige Häuser. In zwei von ihnen wohnten Stefan und Ben, die ein Jahr älter und bereits dicke Freunde waren. „Hau ab, Bübchen“, rief Stefan ihm einmal zu, als er ihnen beim Fußballspielen zusah und sehnsüchtig wünschte, mitmachen zu dürfen. Immerhin hatte er ihn wahrgenommen, wenn auch auf wenig freundliche Art. Ben übersah in glattweg. Die Tochter der Familie Mühlens von nebenan, Elisa, hatte Jürgen noch nicht gesehen. Sie sollte das Schuljahr in der alten Schule beenden und wohnte solange bei ihrer Tante.

Anfangs vermisste Jürgen kaum Gesellschaft. Total begeistert von seinem Schwesterchen, trug er sie durchs Zimmer, spielte mit ihr, saß im Garten, die Kleine neben sich auf einer Decke. Seltsamerweise krähte und juchzte Julia nie vor Vergnügen, blieb stets still und brav, zu brav. Aber da er keine Ahnung von Babys hatte, erschien ihm das normal. Manchmal schob er den Kinderwagen die Straße hinauf und wieder herunter; es war ihm egal, ob Ben und Stefan sich darüber lustig machten.

Als Julias Mahlzeiten Möhrenbrei, Hühnchen in Reis, Bananen-Zwieback-Mus hinzugefügt wurden, schmeckte Jürgen die Babykost beim Probieren. Mama schlug vor, auch ihm, der ein schlechter Esser war, Kleinkindnahrung zu geben. Erfreut sah sie, wie begeistert er sich über die Portionen hermachte.

Aber dann auf einmal änderte sich alles. Es fing ganz harmlos, sogar angenehm für ihn, an: War es ihm bisher verboten, sich alleine weiter vom Haus zu entfernen, stromerte er jetzt stundenlang ungehindert draußen umher, kroch unter Zäunen hindurch, lief durch die Wiesen, auf denen Kühe weideten, erkundete das nahegelegene Wäldchen, auch bei schlechtem Wetter. Seine Mutter bemerkte kaum, wie selbständig er sich machte, sie schien ihn nicht einmal zu vermissen. Hatte ihn bisher jeden Morgen seine Kinderwagen schiebende Mama auf dem zwanzigminütigen Schulweg bis zur Bushaltestelle begleitet, sollte er jetzt auf einmal alleine gehen, weil ihr die Zeit dafür fehlte. Ein bisschen ängstigte es ihn, der immer überbehütet worden war, anfangs schon. Andererseits freute er sich, weil seine Klassenkameraden aufhörten, ihm ‚Muttersöhnchen’ nachzurufen.

Julias Geburtstag war auch der erste Ferientag. Jürgen fürchtete sich vor den einsamen Sommerwochen ohne Spielgefährten. Würde er sich nicht bald langweilen? Aber dann erzählte Mama an diesem Geburtstagsmorgen, sie habe mit der Nachbarin zur Rechten, Frau Mühlens, gesprochen. Ihre Tochter sollte heute nach Hause kommen. Jürgen freute sich so auf Elisa, als habe er anstelle des Geburtstagskindes ein Geschenk bekommen; viel lieber allerdings hätte er mit den beiden Jungen gespielt.

Oma riss ihn aus seinen Gedanken: „Es stört euch doch nicht, wenn ich mein Gebiss ausziehe?“ Sie legte ihre neuen Zähne, die ihr noch Druckschmerzen verursachten, in ein mit selbstgehäkelter Spitze umrandetes Taschentuch gehüllt neben ihren Teller, steckte Kuchenbrocken in den Mund, mümmelte, spülte kräftig mit Kaffee nach.

„Julia kann sich immer noch nicht alleine aufrichten?“, fragte sie – zum wievielten Mal in den letzten zwei Monaten eigentlich schon? „Jürgen konnte in dem Alter schon laufen.“

Jürgen war stolz. Alles drehte sich in letzter Zeit ausschließlich um seine Schwester. Endlich beachtete ihn jemand, lobte ihn, wenn auch für etwas, das schon lange zurück lag.

„Jedes Kind ist anders. Das eine entwickelt sich schnell, das andere eben langsamer“, erklärte Mama nachdrücklich.

„Und wie ist es mit dem Sprechen?“, ging das Verhör weiter. „Ein paar einfache Wörter müsste Julia doch längst kennen.“ Mama sagte nichts mehr; Jürgen wusste, sie ärgerte sich. Oma sprach immer in vorwurfsvollem Ton. Als sei es die Schuld seiner Eltern, wenn sein Schwesterchen weder laufen, noch sich alleine zum Sitzen aufzurichten vermochte, und – außer einem knurrenden Brummen – keinen Ton hervorbrachte. Schweigend aßen sie. Julia, auf Mamas Schoß, schaute teilnahmslos vor sich hin, seiberte. Ein Bröckchen der Geburtstagstorte, das Oma ihr in den Mund schob, lief an einem Speichelfaden wieder heraus. Mit Entsetzen sah Jürgen Tränen in Mamas Augen schimmern.

„Reiß dich zusammen“, kritisierte Oma. Jürgen schmeckte der Kuchen nicht mehr. Die Missstimmung zwischen den Erwachsenen verdarb ihm den Appetit. „Willst du wohl brav sein. Ein Baby spürt die Unruhe“, hatte seine Mutter ihn öfters ermahnt. Warum benehmen die Erwachsenen sich dann so rücksichtslos? Julia fühlte doch sicher auch die schlechte Laune zwischen den beiden. Was mag sie denken? Denkt man überhaupt schon in dem Alter? Wenn ja, müsste man sich dann nicht zurückerinnern können? Jürgen überlegte. Ein rotes Tier fiel ihm ein. Aber damals war er schon etwa drei Jahre alt. Das rote Tier saß auf der Gardinenstange. Er schrie. Da kam Mama und tröstete ihn. Das Tier war verschwunden. Er hatte nur geträumt. Außerdem entsann er sich noch an einen Hund, der ihn angesprungen und umgeworfen hatte. Das war kein Albtraum gewesen, sondern Wirklichkeit. Seitdem fürchtete er sich vor Hunden – natürlich nur vor lebendigen, nicht vor dem kuscheligen Plüschpudel, Mamas Geburtstagsgeschenk für Julia. Oma hatte Bauklötze mitgebracht. Sie gab Mama den Karton: „Ich habe sie nicht eingepackt. Julia ist noch zu klein, um es zu bemerken.“ Aber auch Jürgen hatte noch nie ein hübsch eingewickeltes Geschenk von ihr erhalten, sie gab niemals Geld für unnütze Dinge wie Geschenkpapier und bunte Schleifen aus. Mama hielt übrigens genauso wenig von Krimskrams.

„Soll ich dir ein Gläschen holen?“, fragte Mama, woraufhin Jürgen zustimmend nickte.

Als sie mit dem Juniormenü Reis mit Hühnchen und feinem Gemüse zurückkam, fragte Oma fassungslos: „Du fütterst ihn doch nicht etwa mit Babynahrung in dem Alter?“

„Er ist ein schlechter Esser. Ich bin froh, wenn er wenigstens davon etwas zu sich nimmt“, erklärte Mama.

„Das nennst du Erziehung? Früher blieben die Kinder so lange vor ihren Tellern sitzen, bis sie leer gegessen waren. Mein Vater hätte mir den Hintern versohlt, anstatt solche Faxen auch noch zu unterstützen. Da gab es keine Extrawünsche. – Schämst du dich nicht?“, wandte sie sich jetzt an ihren Enkel, „ein so großer Junge.“

Jürgen wurde es zu bunt, außerdem sah er vor dem Nachbarhaus ein Taxi vorfahren. Das Mädchen auf dem Rücksitz neben Frau Mühlens musste Elisa sein. Er stand auf.

„Halt, hier geblieben, junger Mann“, funkte Oma dazwischen. „Es ist unhöflich, den Tisch zu verlassen, wenn noch nicht alle fertig sind.“

„Lass ihn nur“, sagte Mama.

„Allmählich wird es Zeit, ihm Manieren beizubringen“, nörgelte Oma.

Jürgen flitzte aus dem Zimmer. Er kam eine Minute zu spät. Frau Mühlens, ihre Tochter, ein Koffer und eine Reisetasche verschwanden im Haus, der Taxifahrer setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Enttäuscht ging Jürgen wieder ins Wohnzimmer. Die Stimmung am Kaffeetisch war noch bedrückter als vorhin. Oma hatte offensichtlich seine Abwesenheit benutzt, um Mama wieder einen Vortrag über Julias verzögerte Entwicklung zu halten. Jürgen ließ sich auf seinem Stuhl nieder und blieb sitzen. Er wollte seine Mutter vor weiteren Predigten von Oma beschützen. In Gegenwart von Kindern, das wusste er, sagten Erwachsene nicht alles.

Um halb sechs kam Vater von der Arbeit. Dem Gespräch der Frauen, das sich jetzt ganz harmlos um einen Rundfunkfortsetzungskrimi drehte, hörte er interessiert zu – oder tat nur so, während seine Gedanken ganz woanders weilten; bei ihm wusste man das nie. Nicht nur Jürgen atmete auf, als Oma sich verabschiedete. Da sie für den Heimweg nun doch den Bus wählte, begleitete Papa sie zur Haltestelle. Mama spülte, der Junge trocknete ab. Anschließend wurde Julia für die Nacht zurechtgemacht. Dabei half Jürgen sonst immer gerne, diesmal nicht; Elisa war im Garten nebenan aufgetaucht. Er rannte noch mal raus, bremste allerdings vor der Tür seine Eile, schlenderte ganz langsam, wie zufällig näher, blieb stehen.

„Ich heiße Jürgen.“

„Hhm“, brummte das am Zaun lehnende Mädchen.

„Du bist Elisa, nicht wahr?“

„Hhm“, kam wieder als einzige Antwort.

„Ich glaube, wir sind gleichaltrig“, versuchte Jürgen es hartnäckig weiter. „Im nächsten Schuljahr gehen wir vielleicht in dieselbe Klasse. Wäre das nicht fein?“

Frau Mühlens kam heraus. „Da ist ja unser Nachbarsjunge, von dem ich dir erzählt habe“, sagte sie zu ihrer Tochter, und an beide gewandt: „Ich hoffe, ihr werdet Freunde. Wollt ihr nach dem Abendessen noch ein wenig miteinander spielen?“

„Vielleicht morgen“, gab Elisa zur Antwort. „Ich muss erst meine Sachen auspacken. Du wirst staunen, was Tante Gerda mir alles gekauft hat: Ein Puppenservice, zwei Bücher, ein neues Kleid, himmelblau mit bunten Bordüren.“

Angeberin, dachte Jürgen. Sie hat das doch sicher längst alles ihrer Mutter erzählt und wiederholt es jetzt nur, um vor mir zu prahlen.

„Ich muss reingehen“, sagte er und hätte am liebsten hinzugefügt dort wartet eine leckere Buttercremetorte auf mich, verkniff sich aber diese lächerliche Aufschneiderei. „Dann bis morgen.“

„Wie war es heute in der Schule?“, stellte Papa, der gerade von der Bushaltestelle kam, seine allabendliche Frage.

„Wir haben Ferien“, antwortete Jürgen. Sein Vater war bereits in die Zeitung vertieft. Mit wem soll ich reden, sprechen, schwatzen?, überlegte der Junge. Julia ist noch zu klein. Mama hat selten Zeit für mich; für Papa bin ich kaum vorhanden. Er fühlte sich einsamer als Robinson auf seiner Insel. Der konnte wenigstens laute Selbstgespräche führen. Hier verhielt man sich am besten ganz still. Entweder studierte sein Vater die Zeitung, schlief oder starrte auf den Fernsehbildschirm. Auf jeden Fall machte er immer etwas, bei dem Reden störte. „Lass ihm seine Ruhe“, ermahnte Mama ständig. Jetzt schaltete Papa das Fernsehgerät auf volle Lautstärke. Jürgen, den die Fußballübertragung nicht interessierte, kauerte mit seiner Lieblingslektüre, Robinson-Crusoe, in einem Sessel. Er war der einzige Bücher-Leser in der Familie. Seine Mutter bevorzugte Hefte mit Doktor- und Heimatromanen; die Zeitung blätterte sie von hinten nach vorne durch, überflog Geburts-, Heirats- und Todesanzeigen auf der Suche nach bekannten Namen, bemühte sich, das Kreuzworträtsel in der Wochenendbeilage zu lösen. Vater studierte täglich gründlich den Sportteil. Von der Politik las er die Überschriften und vertiefte sich nur in den Artikel, wenn es um Krankenkassenbeiträge, Tarifverhandlungen und Steuererhöhungen ging. Außerdem interessierten ihn die Stellenanzeigen, trotz seines sicheren Jobs bei der Stadtverwaltung. Im Lokalteil informierte er sich über Verkehrsunfälle, Einbrüche und neulich hatte er die täglichen Berichte über die Gerichtsverhandlung in einem Mordprozess verfolgt. Das Gebrüll aus dem Fernseher störte Jürgen erheblich; es war ihm unmöglich, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Aber wen interessierte das? Er durfte nicht sagen: Ich möchte meine Ruhe haben. O je, das würde ein schönes Donnerwetter geben.

Mama rief nach ihm, sie brauchte seine Hilfe beim Tischdecken fürs Abendbrot. Julia lag inzwischen in ihrem Bettchen. „Hast du dich schon mit Elisa von nebenan angefreundet?“, wollte sie wissen.

„Anfreunden? Was denkst du bloß? Ich gebe mich doch nicht mit einem Mädchen ab.“ Mama achtete weder auf Jürgens Antwort, noch merkte sie dessen Verstimmung. Sie stellte keine Fragen mehr. Ihre Gedanken schienen ganz woanders zu sein, vielleicht bei Oma, die Mama trotz ihrer einundvierzig Jahre wie ein kleines Mädchen behandelte? Aber Jürgen hatte seinen eigenen Kummer, über den er nachgrübelte: Elisa war weit und breit, neben Stefan und Ben, die nichts von ihm wissen wollten, die einzige gleichaltrige Spielgefährtin – schöne Aussichten für die Zukunft.

Die Stimmung im Haus wechselte wie Aprilwetter. Am Tag darauf war Mama freundlich und heiter. Neuerdings hat sie eben Launen, dachte Jürgen. Er beschloss, sich nichts mehr daraus zu machen. Doch er würde wieder traurig sein, wenn Mama erneut bedrückt herumlief, das wusste er jetzt schon.

Um Ben, Stefan und auch Elisa aus dem Weg zu gehen, spielte Jürgen in der Garage auf dem Hof. In einem Anfall von Ordnungsliebe schichtete er Holzscheite aufeinander, die für den offenen Kamin im Wohnzimmer bestimmt waren, den es zusätzlich zur Zentralheizung gab. Dann wandte er seine ganze Geschicklichkeit auf, um den Holzstoß von einem alten wackligen Stuhl aus zu erklettern. Es gelang – der Stapel schwankte zunächst ein wenig. Jürgen hielt die Luft an, dann thronte er obenauf, lehnte den Rücken gegen die Mauer, ließ die Beine baumeln, trällerte einen Schlager: Du bist wunderbar, schon vor einem Jahr, ja da war mir klar, du bist wunderbar. So oder ähnlich ging der Text, den Mama öfters sang – das war jetzt allerdings schon eine Weile her, in letzter Zeit hörte man nur noch selten ihre Sopranstimme. Jürgen pochte mit den Fersen vorsichtig den Takt gegen die Scheite. Dieses leise rhythmische Klopfen vermischte sich mit Schritten. Die Klingel schrillte durchs Haus. Gleich darauf hörte Jürgen, wen seine Mama begrüßte – Oma war schon wieder da.

Er sah die beiden Frauen in der Küche, deren Fenster zum Hof hinausging. Es machte Spaß, sie durch das offenstehende Garagentor zu beobachten, ohne selbst in der dunklen Ecke entdeckt zu werden, obwohl wahrhaftig nichts Beachtenswertes geschah. Mama hantierte mit der Kaffeemaschine, trat nun ans Fenster, rief „Jürgen, Jürgen“, zuckte die Schultern, als keine Antwort kam und schloss die Scheiben. Der Junge schmunzelte vergnügt in seinem Versteck. Er kreuzte die Arme, schlug die Beine übereinander. Die Mauer war angenehm kühl in seinem Rücken. Ihm kam es nicht in den Sinn, ins Haus zu gehen und mit Händchen- und Küsschengeben das liebe Enkelkind zu spielen, um dann wieder die selben Sprüche über schlechtes Benehmen und mangelnde Manieren beim Essen ertragen zu müssen.

Während die beiden Frauen gemeinsam den Tisch deckten, ertönte, ausnahmsweise einmal laut und durchdringend, Schwesterchens Babygeschrei. Mama lief hinaus. Oma nutzte den Augenblick des Alleinseins, um sich Kaffee einzuschenken. Jürgens Mutter kam wieder herein, mit der jetzt zufrieden vor sich hinlächelnden Julia auf dem Arm, setzte sie auf Omas Schoß und machte das Fläschchen zurecht. Die beiden Frauen unterhielten sich. Ihre Münder öffneten sich, auf, zu, auf, zu, wie Fische im Aquarium sahen sie hinter der Fensterscheibe aus. Mama unterstrich jeden Satz mit einer lebhaften Gebärde. Ich muss mir einmal merken, welche Handbewegung sie zu welchen Worten macht, dann weiß ich, was sie sagt, auch ohne es zu hören, dachte Jürgen und überlegte, ob dies wirklich möglich sei. Wieder sang er sein Liedchen leise und klopfte den Takt mit den Füßen gegen den Holzstoß. Dieser geriet ins Wanken; erschreckt hielt der Junge still. Würde er umstürzen? Eine Weile war Jürgen damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten. Als er sich wieder einigermaßen sicher auf seinem Sitz fühlte, wanderte sein Blick erneut zum Haus hinüber. Irgend etwas stimmte nicht. Mama, regungslos gegen den Tisch gelehnt, die linke Hand auf eine Stuhllehne gestützt, sagte etwas und schaute dabei sehr betroffen drein.

„Oma – du alte Ziege“, schimpfte Jürgen laut vor sich hin. Sicherlich hatte sie abermals mit ihrem albernen Gerede über Julias verspätete Entwicklung angefangen und von irgendeinem Wunderkind aus ihrem Bekanntenkreis erzählt, das schon im zartesten Babyalter laufen, sprechen und wer weiß was sonst noch alles konnte.

Jürgen kletterte von seinem Sitz. Dabei geriet der Holzstoß erneut ins Schwanken und stürzte diesmal endgültig um. Macht nichts, nachher schichte ich ihn wieder auf, dachte der Junge, kroch zwischen den Scheiten hervor, klopfte das Sägemehl von Hose und Hemd und schlich hinaus. Ich muss mich unbedingt an Oma rächen. Aber wie? Käme sie mit dem Fahrrad, könnte man die Luft aus den Reifen lassen. Der Gedanke an eine radelnde Oma reizte Jürgen zum Lachen. Er stellte sich vor, wie der schwarze Rock vom Fahrtwind hochgeblasen wurde und darunter ein altmodischer Schlüpfer mit Beinansatz bis zu den Knien zum Vorschein kam. Seine gute Laune war wiederhergestellt; er vergaß seine Rachegelüste.

„Da bist du ja!“, rief es aus dem nun offenen Fenster. Oma hatte ihn entdeckt. Diesmal konnte Jürgen sich nicht drücken, er ging hinein. Das gewohnte Spiel begann: Händchen- und Küsschengeben. Besonders Letzteres verabscheute er, weil Omas Atem schlecht roch.

„Warum machst du keinen Diener? In meiner Jugend gehörte er einfach zu einem guterzogenen jungen Mann und die Mädchen vollführten einen Knicks.“ Es folgte der übliche Redeschwall, als hätten sie sich nicht erst gestern gesehen: „Blass schaust du aus, du wächst zu schnell. Früher bekamen die Kinder täglich einen Löffel Lebertran, der würde dir auch gut tun, besser als die ganze Babypampe, die gibt dir doch keine Kraft.“

Jürgen lächelte brav, Mama zuliebe. Innerlich kochte er vor Wut: Diener machen, Lebertran schlucken! Soll Oma doch selber Lebertran einnehmen, oder noch besser Rizinusöl. Wenn sie eine Woche auf der Toilette hockt, bleiben wir wenigstens von ihren Besuchen, mit denen sie nur Unheil anrichtet, verschont. Mama gab sich zwar heiter, doch Jürgen spürte genau, irgendetwas Unangenehmes war gesagt worden, das ihr jetzt noch durch den Kopf ging und sie bedrückte.

Am nächsten Tag besuchte seine Mutter mit Julia wieder mal den Kinderarzt, schon das dritte Mal in diesem Monat. Sie übertreibt, dachte Jürgen. Mit mir ist bestimmt nicht so ein Theater veranstaltet worden. Dabei wusste er genau, das war ungerecht, früher war sie um ihn genau so besorgt gewesen. Bei ihrem Nachhausekommen herrschte wieder mal Novemberlaune. Wegen des langen Wartens, trotz Termin, nahm Jürgen an. Mama beachtete ihn kaum, schaute hingegen Julia immer wieder aufmerksam, fast forschend, an. Ich mag mein Schwesterchen nicht, dachte Jürgen. Mama hat nur noch die Kleine lieb und übersieht mich einfach, besonders wenn sie, wie jetzt, schlecht gelaunt ist. Jürgen erschrak. Nein, solch ein hässliches Gefühl musste man ersticken, bevor es sich ausbreitete.

Mama hatte gar keine schlechte Laune – viel schlimmer, erfuhr Jürgen abends, als er im Bett lag. Sein Reich befand sich gleich neben dem Wohnzimmer. Vor dem Einschlafen hörte er manchmal Gesprächsfetzen, ohne eigentlich zu lauschen. Meistens allerdings herrschte Schweigen zwischen den Eltern. Aus dem Fernsehgerät rieselten Volksmusik, politische Kommentare oder – meistens – Sportmeldungen. An diesem Abend hingegen redeten Mama und Papa miteinander.

Mama: „Oma hat mir angeboten, Jürgen für den Rest der Sommerferien zu sich zu nehmen.“

Papa: „Und? Wann?“

Mama: „Übermorgen. Ich habe mit ihm allerdings noch nicht darüber gesprochen. Er wird wenig begeistert sein.“

Jürgen war entrüstet. Mich fragt niemand. Wie ein Buch, das man verleiht, schickt man mich zu Oma. Dabei mag ich sie nicht leiden; Mama weiß das genau. Warum tut man mir das an? Das Argument, das er nach einer Weile aufschnappte, war schlimm für ihn:

„Ich bin überlastet. Wenn der Junge fort ist, bedeutet das weniger Arbeit.“

Empörend! Sie ließ mich immer in dem Glauben, ich sei ihr eine große Stütze, dachte Jürgen wutentbrannt. Aber ich wurde wie ein kleines Kind beschwindelt, welches sich unbedingt nützlich machen will, tatsächlich jedoch nur im Weg steht. Dabei habe ich Julia gefüttert, beim Wäscheaufhängen und -abnehmen geholfen, die Windeln gefaltet. Es machte mir Spaß, obwohl das nun wirklich keine Jungenarbeit ist und ich immer befürchtete, Stefan oder Ben könnten mich dabei erwischen und auslachen. Und nun behauptet Mama, ich störe nur.

Jürgen fing an zu weinen, was lange nicht mehr vorgekommen war, vor lauter Zorn flossen die Tränen gegen seinen Willen. Da hörte er einen Satz, der ihn seinen Kummer, seinen Ärger, ja sogar sich selbst vergessen ließ.

„Ich wünsche, ich wäre tot“, sagte Mama, „und Julia gleich mit mir.“ Jürgen wurde unendlich traurig, verzagt wie nie zuvor in seinem Leben. Ein dicker, eiskalter Klumpen saß in seinem Magen. Jetzt versiegten sogar vor Kummer seine Tränen.

Jürgen erwachte am nächsten Morgen und fühlte sich – er wusste nicht warum – todunglücklich. Erst allmählich fiel ihm der Grund dafür wieder ein.

„Dein Papa und ich haben etwas beschlossen“, teilte Mama mit. „Du gehst ab morgen bis zum Ende der Ferien zu Oma.“

Jürgen nickte gehorsam. Mama hatte wahrscheinlich Rebellion und Trotz erwartet und atmete erleichtert auf, als er nicht widersprach, ohne sich zu fragen, warum der Junge so gefügig nachgab. Offensichtlich dachte sie längst wieder an etwas anderes.

Jürgen saß am Tisch, Julia auf seinem Schoß und blätterte in dem schon unzählige Male von ihm gelesenen Robinson-Crusoe-Buch. Seine Nase steckte jedoch nur scheinbar interessiert zwischen den Seiten, stattdessen beobachtete er Mama aus den Augenwinkeln, die den Frühstückstisch leer räumte, spülte, Kartoffeln schälte, die gewohnten Arbeiten wie üblich verrichtete. Schlank, mit kurzgeschnittenen Haaren, sah sie, obwohl älter als die Mütter seiner Mitschüler, noch jugendlich aus. Ihr Gesicht kam ihm heute fremd vor. Ich wünsche, ich wäre tot, hatte Mama gesagt. Wie wenig kenne ich sie, grübelte Jürgen. Niemals habe ich etwas von ihren schwarzen Gedanken geahnt. Nicht einmal reden kann man mit ihr darüber. So wie sie kein Wort über Liebe oder Zuneigung sagt, verschweigt sie auch ihren Kummer. Aber vielleicht fällt es Mama schwer, über Gefühle mit mir zu sprechen, weil ich ein unerträgliches Kind bin, so schrecklich, dass sie meinetwegen sterben will? Sie hat doch schon öfters gesagt, wenn auch lachend, als wäre das ein Witz, ich sei ein Nagel an ihrem Sarg. Eine Träne lief jetzt über ihr Gesicht. Wahrscheinlich sind nur die Zwiebeln schuld, die sie soeben schneidet, versuchte Jürgen sich zu beruhigen.

„Da steht ein schlimmer Artikel in der Zeitung“, brach Mama unerwartet ihr Schweigen und tippte auf die fettgedruckte Überschrift: Geistigbehinderter acht Jahre in Stall eingesperrt. Jürgen achtete kaum auf das, was seine Mutter sagte. Er atmete erleichtert auf; Mama mag mich doch, sonst würde sie nicht so freundlich mit mir sprechen.

„Und so etwas geschieht im zwanzigsten Jahrhundert“, entrüstete sie sich und las den Artikel über den geistigbehinderten Jungen, der jahrelang von seinen Eltern in einem sechs Quadratmeter großen Schuppen auf dem Hinterhof versteckt gehalten wurde, laut vor. Die Polizei fand ihn völlig verschmutzt, abgemagert, frierend, in zerlumpte Decken gehüllt, auf einem Strohlager. Der Hund des Ehepaares hingegen saß wohlgenährt und gepflegt im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Grund für das unmenschliche Verhalten: Die Eltern schämten sich vor den Nachbarn.

Jürgen war empört, genau wie Mama. Doch dann fiel ihm etwas ein: Vor Julias Geburt hatten sie zusammen – obwohl ihm dies, bei seiner Wasserscheu, gar nicht gefiel – regelmäßig das städtische Hallenbad besucht. Einmal planschte neben ihm im Nichtschwimmerbecken ein offensichtlich geistigbehindertes Kind. Er fand den unförmig dicken Jungen mit dem stumpfen Gesichtsausdruck abstoßend und ekelte sich, als ein dicker Speichelfaden von den wulstigen Mundwinkeln herunterlief. „So jemanden dürfte man gar nicht in die Schwimmhalle lassen. Sicherlich macht er auch noch Pipi ins Wasser“, sagte Mama damals. Jetzt war sie von dem Zeitungsartikel betroffen und entsetzt über die Rabeneltern. Jürgen fragte sich, warum Erwachsene einmal so sprechen und dann wieder ganz anders. Aber etwas kam ihm in den Sinn, das ihm im Augenblick viel wichtiger erschien: Wie konnte eine todtraurige Mama sich über diese Meldung aufregen? Denkt man, wenn es einem zum Sterben elend geht, über fremder Leute Verhalten nach? Vielleicht bin ich gestern Abend eingeschlafen, als ich mich ärgerte, weil ich einfach abgeschoben werde? Sicherlich habe ich nur geträumt; gewiss hat Mama niemals Ich wünsche, ich wäre tot gesagt. Er fühlte sich auf einmal unendlich erleichtert. Jetzt machte es ihm gar nichts mehr aus, für eine Weile zu Oma zu müssen. Erst als Mama Schlafanzüge, Zahnbürste, Unterwäsche, Hosen, Pullover und Hemden in eine große Reisetasche packte, wurde er wieder traurig.

Nach zwei Stunden bei Oma kam es Jürgen vor, als verfolge ihn unablässig ein schwarzes Gespenst. Wohin er auch ging, seine Großmutter stand neben ihm, gab Ratschläge, hielt Vorträge über gutes Benehmen; selbst vor der Toilettentür verharrte sie und redete weiter. Dieser Geist, nicht weiß, mit hellen Betttüchern bekleidet, sondern schwarz gewandet, da Oma noch immer Trauerkleidung trug, obwohl Opa Johannes, ihr Mann, schon über sechs Jahre tot war, stürzte sich begeistert auf eine neue selbstgewählte Aufgabe, nämlich Jürgens Erziehung.

Wenigstens bleibe ich jetzt vor der albernen Elisa verschont und Ben und Stefan können mich nicht mehr ärgern, dachte Jürgen. Aber Oma, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, war viel, viel schlimmer als die Nachbarskinder.

„Johannes, halte dich grade. Denke immer daran, so aufrecht zu gehen, als trügest du ein Buch auf dem Kopf.“ So hatte man vor fünfundsiebzig Jahren gepredigt, um aus ihr eine gesittete junge Dame zu machen und diese Ratschläge schienen Oma auch in der heutigen Zeit noch sinnvoll zu sein, selbst für einen Jungen. „Wenn du mit Armen und Beinen schlenkerst wie ein Hampelmann, wird niemals ein Gentlemen aus dir. Und sitze aufrecht. Meine Mutter, Gott hab sie selig, saß sogar noch im Alter von neunzig Jahren stets kerzengerade, ohne je mit ihrem Rücken eine Stuhllehne zu berühren.“

Jürgen sah die alte Dame erstaunt an. Johannes? Mit wem sprach sie? „Ich werde dich ab sofort nur noch Johannes nennen“, erklärte Oma. „so wie du nach meinem lieben Mann, deinem Großvater und Paten, Gott hab ihn selig, getauft bist. Aber deine Eltern wollten modern sein und setzten diesen grässlichen Namen Jürgen davor, obwohl sie wussten, wie weh mir das tat. – Jürgen“, fügte Oma noch einmal verächtlich hinzu.

„Aber ich heiße Jürgen.“

„Johannes, sei nicht trotzig“, ermahnte Oma ungerührt.

„Ich heiße Jürgen. Jürgen! Jürgen!“, schrie er. Dazu stampfte er den Takt mit dem rechten Fuß. Aber der Wutanfall schien seine Wirkung zu verfehlen. Die Großmutter ging schweigend hinaus und bald hörte Jürgen sie in der Küche mit Töpfen und Tellern klappern. Dazu – und das war nach seiner Meinung der Gipfel der Bosheit – schaltete sie das Radio ein, suchte einen Sender, der Musik nach ihrem Geschmack, nämlich Blasmusik, brachte. Wie konnte Oma einem zornbebenden, verlassenen und traurigen Jungen Blasmusik zumuten! Jürgen lief in das kleine Zimmer, das ihm zugewiesen worden war, warf sich auf die Plüschdecke des Sofas, das ihm als Bett dienen sollte, weinte in das röschenbestickte handgearbeitete Kissen und tat sich selbst schrecklich leid. Nach einer Weile stand er auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterbank. Nur ganz selten brummte unten auf der Stadtrandstraße ein Wagen vorbei und schickte seine Abgase hinauf in diese beängstigend saubere und gepflegte Kammer. Der helle Teppich vor dem Sofa glich einem Alptraum. Darf man überhaupt darauf treten? Warum stehen überall Vasen und Porzellanfiguren herum? Ich bin doch so ungeschickt und mache schnell Scherben! Die Möbel, obwohl mindestens sechzig Jahre alt, wirkten wie neu. Kein Kratzer, keine abgestoßenen Ecken. Selbstgehäkelte Deckchen auf jeder freien Fläche, unter der Vase mit den künstlichen Blumen, der Stehlampe, der Keksschale, dem Gummibaum; wahrscheinlich erwartete Oma, sie nach seinem Ferienaufenthalt noch genau so weiß und steif vorzufinden, wie gerade frisch gewaschen und gestärkt. Hier muss ich fünf Wochen bleiben, grübelte Jürgen, das überlebe ich nicht. Ein kalter Schreck erfasste ihn. Der Begriff Zeit machte ihm plötzlich Angst. Fünf lange Wochen! Was nun, wenn seine Eltern ihn nie wieder zurückholten, wenn sie ihn vielleicht sogar einfach bei Oma vergaßen, weil ihre Gedanken nur noch um Julia kreisten? Bloß nicht daran denken!

Jürgen öffnete die Reisetasche und holte seine Sachen heraus. Ordentlich – Mama würde ihre helle Freude haben, könnte sie es sehen – hängte er die Hosen auf Kleiderbügel, räumte Hemden und Pullover in den nach Lavendel und Mottenkugeln duftenden Schrank, legte Wäsche und Socken in die mit Blümchenpapier ausgeschlagenen Seitenfächer. Eine Weile gelang es ihm, sich damit abzulenken. Dann stand er mit hängenden Armen da. Wenn ich fertig bin, werde ich mich langweilen. Schon wieder ein Wort, das sich gleich einem Schreckgespenst in seinem Hirn einnistete, in den Magen rutschte und dort wie ein Eisklumpen drückte: Langeweile. Unten in der Reisetasche lag das Robinson-Crusoe-Buch. Er blätterte lustlos darin, ohne ein Wort zu lesen, schob es dann beiseite, weil ihn der Roman auf einmal nicht mehr interessierte.

Nach einiger Zeit kam Oma und holte Jürgen in die Küche. Sie stellte freundlich lächelnd, als sei nichts geschehen, das Abendessen auf den Tisch: Kartoffelsalat mit Würstchen. Der Junge setzte sich schnell aufrecht hin, wischte die Tränen fort und putzte seine Nase.

„Johannes“, sie blieb hartnäckig bei dieser Anrede, „besitzt du kein richtiges Taschentuch. Diese Papierdinger sind hässlich. Einen ordentlichen Menschen erkennt man am sauberen Taschentuch und an seinen blankgeputzten Schuhen. Übrigens, musst du hier im Haus mit Straßenschuhen herumlaufen und mir unnötig Schmutz und Arbeit machen? Hast du keine Pantoffel mitgebracht?“

Zum Widersprechen fühlte Jürgen sich zu müde, zu hungrig, zu traurig. Er kapitulierte, hörte auf den neuen Namen und holte schweigend seine Turnschuhe. Sie lagen, in Zeitungspapier eingewickelt, noch in der Reisetasche. Es war das Blatt mit dem Artikel über das eingesperrte, behinderte Kind. Mal sehen, wie Oma darüber denkt. Jürgen nahm die Zeitung mit in die Küche.

„Da lies mal.“ Er aß von dem Kartoffelsalat, der, wie er sich widerwillig eingestehen musste, sehr lecker zubereitet war und schämte sich gleichzeitig, weil es ihm trotz seines Kummers so gut schmeckte. Oma überflog währenddessen den Bericht, saß dann regungslos und schwieg. Jürgen wartete verwundert auf einen Kommentar.

„Du musst dir die Geschichte mit Julia nicht so zu Herzen nehmen“, sagte sie schließlich. „Deine Eltern, die schon seit längerem Bescheid wissen, haben mich erst neulich eingeweiht, obwohl ich so etwas bereits seit geraumer Zeit befürchtete. – Das arme Würmchen“, fügte Oma noch hinzu.

„Wieso?“ Jürgen legte Messer und Gabel beiseite. Der Kartoffelsalat schmeckte ihm mit einem Mal nicht mehr. „Was ist mit meinem Schwesterchen?“

„Oh – ich dachte – ich glaubte – ich meinte, du wärst informiert“, stotterte Oma verlegen.

„Was hat der Zeitungsartikel mit Julia zu tun?“, wollte Jürgen wissen, der plötzlich Schlimmes ahnte.

„Nichts, wirklich nichts.“ Oma gab sich betont heiter. „Iß jetzt. Gleich kommt diese Schlagerwettbewerbsendung im Radio. Sollen wir die zusammen anhören? Ich bin so gespannt, wer diesmal Erster wird. Schafft „Pack die Badehose ein“ es wieder? Ich hoffe doch sehr; die kleine Cornelia ist ja zu süß.“

Jürgen interessierte sich jetzt weder für Kartoffelsalat noch fürs Radio. Er war misstrauisch, fragte und bohrte. Danach wusste er, warum Mama nicht mehr leben wollte, Papa bedrückt wirkte, Julia weder laufen noch sprechen konnte. Die furchtbare Wahrheit erschreckte ihn so sehr, er musste mit jemandem darüber sprechen. Aber nicht mit Oma. Jürgen lief fort – zu Claudia, seiner älteren Schwester.

Träume, die im Meer versinken

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