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»Selige Zeiten, brüchige Welt« nimmt den Topos Leben versus Werk als eine Kopie auf, in der sich der männliche Geist und der weibliche Körper gegenseitig bekämpfen. Der Ort ist wieder São Paulo, Brasilien. Im Hintergrund tut sich aber eine ganz »europäische« Lebensgeschichte auf: Der bereits bekannte Leo Singer will Körper und Geist von der Höhe des absoluten Wissens aus vereinigen, die klassische Opposition auflösen, das Werk in der Sicherheit des Lebens verwirklichen. Seine Aussagen entsprechen der geistigen Kondition, die körperliche Begierde und ihre Befriedigungen aber stehen im Stadium der sinnlichen Gewissheit. Leo Singers ewiger Kampf mit Judith Katz führt ihn zu billigen Huren und zum Alkohol. Das große Werk existiert einfach nur in seinem ›G’schichtl-Erzählen‹. Er kann weder seine Theorie in die Praxis umsetzen, noch seinen Gedanken eine schriftlich fixierte Form geben. Singers Zerfall ist aber auch im Körper determiniert. Er kann nicht einmal sein eigenes Leben gestalten. Er ist überzeugt davon, dass ein Philosoph sich im Stadium des absoluten Geistes von den körperlichen Begierden befreien kann. Begierde und Lust bedeuten bei ihm erneut eine unklare geistige Vereinigung, und eben diese sture Idee wird zu seiner Lebenslüge. Er pendelt zwischen der seligen Zeit und der brüchigen Welt dialektisch hin und her: Als das totalitätszentrierte (nicht) selbst gemachte Werk in einer Sackgasse landet, verzichtet Leo Singer darauf und wendet sich den wesentlichen Dingen des Lebens zu. Als er jedoch am Leben scheitert, zieht er sich an seinen Schreibtisch zurück. Er ist in seine eigene Geschichte eingeschlossen und verwirklicht die Scheinwirklichkeit der Anfangssituation: Er erkennt sein Ich-Bild weder im selbst gemachten Spiegelbild noch im wirklichen Spiegel, den Judith Katz vor ihn stellt. Tatsächlich ist Menasses Roman »ein Abgesang auf Größenwahn und Allmachtsideen«. Leo Singer maßt sich »ein Werk von messianischer Bedeutung an. Judith dagegen, die musische Gottheit, ist in der brüchigen Welt zugrunde gegangen, ohne ihre Funktion erfüllt zu haben, denn das von ihr bewahrte Werk ist lediglich eine Kopie der selbstgefälligen Monologe Leos.«9 Leo Singer opfert Judith, das Symbol des Lebens, das Medium des großen Werkes. Seine große Tat wird durch den Mord legitimiert. Das Werk verliert aber an Bedeutung: Nach dem Erscheinen werden nicht mehr als fünf Exemplare verkauft, so der allwissende Erzähler, der Roman Gilanian nachahmen sollte.

TEXT + KRITIK 234 - Robert Menasse

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