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Der Roman »Sinnliche Gewissheit« stellt eine tief europäische Lebenswelt mit deutschsprachigen Nationen dar – in Brasilien. Roman Gilanian, als muttersprachlicher, promovierter Lektor an der Universität São Paulo, berichtet hier über sein alltägliches, langweiliges Leben in erster Person Singular. Wegen der stark begrenzten geistigen Arbeitsmöglichkeiten in seiner Heimat will er seine intellektuelle Tätigkeit andernorts fortsetzen und nimmt die ihm angebotene Lektoratsstelle am germanistischen Lehrstuhl in Brasilien an. Roman monologisiert über die fremden Phänomene in grammatisch-kausalen Übungssätzen und erlebt dabei seine »sinnliche Gewissheit«, was Hegel als das primitivste Stadium des menschlichen Bewusstseins bezeichnet hatte. Er leidet unter dem uninteressierten Nichtstun und dem subjektlosen Dasein, das aber in kultischer Irritation auf ständige Erfüllung wartet. Der Handlungsbogen spannt sich im ständigen Wechsel von Frauennamen und Lokalen, Sex und Onanieren, ›G’schichtl-Erzählen‹ und Philosophieren. Die inneren Monologe enthalten Leidenstiraden über die Hindernisse des absoluten Geistes, systemkritische Aussagen über die Kriterien des Romanschreibens, autopoetische Reflexionen über den Mystifizierungszwang der Zufälle. Brasilien als Welt erscheint im Roman ohne Karneval- und Fußballbezüge, in der Symbiose ehemaliger österreichischer Flüchtlinge jüdischer Abstammung und Ex-Nazis wird ein neues Österreich in Brasilien kreiert: »hier ist den Deutschsprachigen, vor allem den Österreichern möglich, sich wie daheim zu fühlen; man ist unter sich, in einer Enklave (…) man spricht Hochdeutsch mit Austriazismen versetzt, trägt Dirndl, trinkt Heurigen und pflegt ungebrochen die vertrauten Mentalitäten (…). Sie alle sind in dieser Fremde zu Hause«.8 Roman, der Protagonist, findet in der Beschäftigung mit seinem Romanentwurf die Möglichkeit eines Auswegs aus dieser existenziellen Sackgasse. Seine Lieblingsfigur in dieser Lebenssituation ist Leo Singer, der in der Bar Esperança (»Bar jeder Hoffnung«) seine Lehre über die sinnliche Gewissheit propagiert. Dieser dient der Figur Roman als Muster für dessen Roman, in dem die Schicksalsgeschichte eines Geistesmenschen mit tragischem Ausgang erzählt werden soll. Dieser Roman wird zum zweiten Roman Menasses: »Selige Zeiten, brüchige Welt«.

TEXT + KRITIK 234 - Robert Menasse

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