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„Sie sind … fort?“ Ich ließ mein Marmeladebrötchen sinken. Sonntags wurde bei Lia meistens deutsch gefrühstückt mit Brot, Käse, Marmelade und weichen Eiern. Gegen das Heimweh, meinte sie.

„Ja. Nach Mailand. Zur Herbstmesse. Darum können sie auch Rizzi nicht gebrauchen.“ Lia sah mich prüfend an. „Wieso verblüfft dich das so?“

„Ach, nur so.“ Ich beugte mich über meinen Kaffee, dass sie mein Gesicht nicht sehen konnte. „Ich dachte nur … Weil sie doch gerade erst weg waren.“ An den Zehen konnte ich das warme Fell von Rizzi spüren, der unter dem Tisch lag und mit schmatzenden Geräuschen einen Kauknochen bearbeitete.

„Aha.“ Lia schien nur halb überzeugt. „Wie ist es dir denn heute mit den Katzen gegangen?“, fragte sie dann. Ich stieß vor Schreck mit der Tasse an den Unterteller und Kaffee schwappte heraus. „Ich wusste ja gar nicht … Hätte ich sie denn füttern sollen?“

„Aber ich hatte dir doch wieder einen Zettel auf dein Kopfkissen gelegt. Hast du den nicht gefunden? Oder habe ich das etwa vergessen? Oje! Ob Marzia uns das je verzeihen wird? Vielleicht ist er ja runtergefallen!“

Ich suchte gar nicht lange, sondern lief gleich zur Tür hinaus. Zum Glück war ich schon angezogen. Wenigstens etwas. Flavia kam gerade die Treppe herauf, das rote Haar über ihrem verschlafenen Gesicht aufgetürmt. „Wo rennst du denn hin, Süße? Gibt`s heute kein Frühstück?“

„Die Katzen“, rief ich über die Schulter zurück. „Bis später!“

Der Korb stand nicht vor der Tür. Ich lief in den Schuppen, in den fahles Tageslicht fiel, klopfte bei Marzia, aber alles blieb still. Es war schließlich auch schon weit nach Sonnenaufgang, stellte ich seufzend fest. Aber vielleicht saß sie irgendwo mit dem Topf und ich konnte ihr wenigstens beim Nachhausetragen behilflich sein.

Weder auf der Piazza noch im Park konnte ich Marzia entdecken. Die Katzen lagen träge zwischen den Mauern verstreut und dösten. Ich setzte mich auf eine der Bänke.

Pino hatte mich die letzten Tage nicht mehr allein in der Krypta arbeiten lassen. Ich glaube, er werkte nachts an den Türen, nur damit er tagsüber bei mir sein konnte und manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich aus den Augenwinkeln verstohlen ansah. Die Öffnung zu den Katakomben hatte er noch am Tag meines Missgeschicks mit einer Plastikplane zugeklebt. Das war gut, jetzt zog es weniger und außerdem fühlte ich mich damit sicherer.

Celia hatte mich ein paar Mal gefragt, ob ich sie nicht wieder einmal im Laden besuchen wollte, aber ich hatte abgeblockt. Ich hatte mich innerhalb weniger Tage so weit von ihr entfernt, dass es mir fast weh tat, aber ich konnte über all das was geschehen war, über diese ganzen Einbildungen, die mich verfolgten, nicht sprechen. Ich hätte es nicht erklären können. Und auch über Justin konnte und wollte ich nicht sprechen – ein anderes seltsames Kapitel in meinem Leben.

Mir kam es so vor, als hätte ich im Grunde die letzte Woche nichts getan als zu warten. Zu warten und zu hoffen. Justin. Warum kam er nie in unsere Wohnung oder rief wenigstens an? Warum lag die Wohnung im Erdgeschoss immer so ruhig, als wäre niemand zu Hause? Warum traf ich ihn nie im Stiegenhaus oder im Garten? Rizzi konnte ich manchmal sehen, wie er zwischen den Büschen umherstrolchte, nie aber Justin. Fast schien es, als würde er mir absichtlich aus dem Weg gehen. Und jetzt war er schon wieder fort. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, zu ihm hätte ich sprechen können, er hätte das verstanden mit den Kellern, den Träumen und mit meiner Angst.

Ich war verwirrt und traurig. Und dennoch wusste ich, dies hatte nicht allein mit Justin zu tun, sondern vor allem mit mir. Meine Mutter und meine Großmutter fielen mir ein, die am Schloss hingen, als wären sie dort eingesperrt, und auf eine Art waren sie das ja auch. Traurig, bitter, unfähig ihr Gefängnis zu verlassen und für immer aneinandergeschweißt.

Mein ganzes bisheriges Leben lang bin ich vernünftig gewesen, dachte ich plötzlich. Brav. Was für ein schreckliches Wort: Brav. Es klang wie das Blöken eines Schafes. Ich mochte Schafe, aber ich war keines. Ich war ein Mensch, und ich hatte ein Recht darauf, mein Leben zu leben, Fehler zu machen und allen möglichen Unsinn anzustellen. Immer war ich still gewesen, hatte mich zurückgenommen, und alles nur, damit meine Mutter nicht noch trauriger wurde und Großmutter nicht noch schrecklicher. Und wo war ich in dem Ganzen geblieben?

Ja, auch mein Frohsinn und ein Teil meiner Kraft waren dort zu Hause im Familienschloss eingesperrt. Warum sonst verfolgten mich immer wieder diese Ängste und Albträume, die auf irgendeine Weise mit dem Keller dort zu tun hatten?

Meine Mutter hatte es nie geschafft, sich aus dem Bannkreis der Razburg zu befreien, aber ich, das nahm ich mir in diesem Moment vor, ich würde es schaffen. Ich musste es schaffen.

Ich kam mir vor wie Dornröschen, das sich durch die Rosenhecke kämpfte. Nur dass mein Prinz verschwunden war, bevor er mich hätte wachküssen können, und ich mich wohl selbst retten musste.

Ich holte tief Luft. Nein, auch wegen eines Jungen würde ich mein Leben nicht in Trübsinn verbringen! Auch wegen Justin nicht!

Als erstes rief ich Celia an. Entschuldigte mich, dass ich so auf Distanz gewesen war. Sie seufzte nur: „Schwere Zeiten, ich kenn das. Ist schon okay! Ich glaube, wir sollten einfach mal wieder tanzen gehen. Na, wie wär’s?“

„Ja, am besten noch heute!“

„Großartig! - Und, Selina“, sagte sie noch. „Ich bin froh, dass die Welt und ich dich wiederhaben!“

‚Fluxo’ stand in roter Leuchtschrift neben dem durchgestrichenen U-Bahn Zeichen. Abgetretene Betonstufen führten in die neongrell beleuchtete ehemalige Schalterhalle. Die Bässe, die aus den alten U-Bahn Schächten dröhnten, brachten selbst die Luft zum Vibrieren.

An den rostigen Drehkreuzen standen breitbeinig zwei Männer vom Security-Dienst. Mit Kleiderschrankfiguren und kahlgeschoren fischten sie sich immer wieder einmal jemanden aus der Menge, um ihn oder sie kommentarlos beiseite zu schieben. „Celia! Ich bin noch keine achtzehn“, flüsterte ich meiner Freundin zu. „Die machen Ausweiskontrolle!“

„Kein Problem!“ Celias Freund, Luca, hatte sich zwischen uns geschoben und legte mir einen Arm um die Schultern. „Gleiches Football Team!“ Er lachte, legte den anderen Arm um Celia und zog uns zum Einlass.

„Football? Du meinst American Football?“ Ich musterte Luca erstaunt von der Seite. Mit seinem Lockenkopf und der schmalen Gestalt sah er mir kaum nach einem harten Sportler aus. Ich spürte, wie er die Schultern zuckte. „Runningback. Die müssen vor allem schnell sein. Gianni war Center. Nicht wahr, Gianni?“ Er boxte dem einen Einlasser spielerisch gegen die Schulter. „Was immer du sagst, Luca.“ Gianni parierte den Schlag mit einem breiten Grinsen. „Heut mit zwei Mädels, was?“ Er ließ uns passieren. Luca drückte mir etwas in die Hand, zwinkerte mir zu und grinste. Ohrstöpsel. Wir tauchten ein in die stroboskopflimmernde Dunkelheit des Clubs.

Längs der ehemaligen Bahnsteige war eine Bar aufgestellt, die mit geisterhaft blauen Neonröhren leuchtete, auf einem Stahlgerüst gegenüber tanzte der DJ hinter seinen Mischpulten. Die Gleise waren mit wuchtigen Stahlplatten abgedeckt: Die Tanzfläche. Die Nischen in den Schacht hinein lagen im Dunkeln, sicher gab es ein Gitter, dass den U-Bahn Kanal hinten absperrte. Die Stahlplatten nahmen die Schwingungen des Techno-Sounds auf und setzten sie in ein leichtes Dröhnen um, vielleicht waren es aber auch nur die Bewegungen der anderen Tänzer, die ich spürte. Ich schloss die Augen und tanzte.

Es kam mir vor wie Ewigkeiten, bis ich sie wieder aufschlug. Das T-Shirt klebte mir am Körper, die Luft über der Tanzfläche dampfte. Ich war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen, so selbstvergessen. Ich blickte mich nach meinen Freunden um, konnte sie nirgends entdecken und drängte mich zur Bar durch.

„Ciao, bella! Sag mir, was du willst, und ich hol es dir.“ Ein Junge schob sich neben mich.

Ich schüttelte nur den Kopf. Bei der Lautstärke musste man fast schreien, um sich verständlich zu machen.

„Jetzt komm schon! Was willst du? Wodka, Gin?“

Ich legte Geld auf den Tresen und nahm meine Cola. Eiskalt. Toll.

„Wie heißt du? Bist du oft hier?“ Er ließ nicht locker. Ich blickte ihn an. Weißes Hemd, Sonnenbrille in die Haare geschoben. Wie frisch aus dem Machokatalog bestellt, dachte ich und musste kichern.

„Siehst du, du kannst doch nett sein!“

„Ja, aber öfter als ein Mal pro Abend bin ich das nie“, konterte ich. Wo waren denn bloß Celia und Luca? Ich schlenderte die Bar entlang und hielt nach ihnen Ausschau.

„Willst du vielleicht was anderes? Hinten in den Nischen kriegst du alles. Du musst nur was sagen.“ Der Typ legte mir den Arm um die Schultern.

„He!“, protestierte ich und wich ihm aus. Ich mochte es nicht, wenn mich Leute umarmten, die ich gar nicht kannte. „Hör mal, lass mich einfach in Ruhe, sonst brauche ich gar nichts.“

„Warum zickst du denn so rum?“ Jetzt wurde er plötzlich sauer. „Ist doch nichts dabei, Leute kennenzulernen, oder? Du bist vielleicht ‘ne Tusse, das sag …“

Bevor er seinen Satz beenden konnte, drängte mich plötzlich jemand von hinten zur Seite, eine Männerfaust fuhr vor und packte den Jungen beim Hals. Aus den Augenwinkeln sah ich ein blasses Profil, zum Teil von Haaren verdeckt. „Lass sie in Ruhe! Hast du nicht gehört?“

Allein die Berührung, die Welle von Aggression, die von dem Mann ausging, genügten. Und die Stimme. Ich rannte, drängte mich rücksichtslos durch die Leute. Nur weg … weg!

„He, Selina!“ Jemand rief mich, aber ich blieb nicht stehen. Raste hinaus, an Gianni vorbei ins Licht der Halle. Nach Luft schnappend blieb ich stehen, lehnte mich an die Wand, die rau und kühl war. „Selina!“ Jetzt kam auch Celia gelaufen. „Alles in Ordnung? Du bist an uns vorbeigerannt. Was war denn?“ Sie blickte mich besorgt an.

„Ich … ich weiß eigentlich auch nicht genau …“ Hilflos zuckte ich die Achseln.

„Krankenwagen! Schnell!“ Aus dem Club wurden Stimmen laut. Dann tauchte Luca auf.

„Da drinnen hat es eine Schlägerei gegeben. Ich weiß auch nichts Genaues, aber einer scheint ziemlich schwer verletzt zu sein.“ Er runzelte die Brauen. „Zum Glück seid ihr vorher raus. Was war denn eigentlich los, Selina?“

Das Martinshorn der Ambulanz war zu hören und für einen Moment war ich vor allem froh, weil es meine Freunde genügend ablenkte, dass ich nicht mehr antworten musste. Sanitäter mit einem Strecker rannten die Treppe herunter und verschwanden im Schacht. Es war seltsam ruhig geworden, die Musik war abgestellt und alle unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Dann tauchten die Sanitäter wieder auf, einen Jungen auf der Liege festgeschnallt. Er war in eine Decke gewickelt, einer der Sanitäter hielt ihm eine Sauerstoffmaske über den Mund. Blutstropfen leuchteten rot auf dem halb eingerissenen weißen Hemdkragen des Verwundeten. Jemand hatte ihm seine zerbrochene Sonnenbrille unter den Brustgurt gesteckt, aber es sah nicht fürsorglich aus, sondern eher ein wenig spöttisch. Ich stand ganz still.

Eine Polizeisirene ertönte und auf einmal lichtete sich die Menge. Keiner wollte etwas mit denen zu tun haben. Wir gingen ebenfalls die Stiege hinauf. Ein wenig weiter die Straße entlang, fanden sich kleinere Grüppchen zusammen.

Es schien, als hätte niemand gesehen, was genau passiert war. Es war so schnell gegangen. Auf einmal hatte der Junge dagelegen. Jemand sagte etwas von einem Messer und ein anderer hatte einen Mann in den U-Bahn Schacht hineinlaufen sehen. Ganz sicher war sich keiner. Ein wenig standen wir noch so zusammen, als könnte sich niemand richtig entschließen aufzubrechen, dann verliefen sich die Leute langsam in der Dunkelheit.

Celia, Luca und ich gingen zu Lucas Fiat. Ich war froh, meine Freunde dabeizuhaben. Der Verletzte … es gab gar keinen Zweifel, dass es der Junge gewesen war, der mich angesprochen hatte. Was war danach geschehen? Wer war der Mann gewesen, der sich da zu meinem Retter aufgespielt hatte? Und warum hatte ich so heftig auf seine Nähe, seine Berührung reagiert? Was hatte das alles überhaupt mit mir zu tun? Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass es auf der ganzen Welt keinen Platz mehr gab, an dem ich mich hätte sicher fühlen können.

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