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Blut tropft aus den Schnitten in den Mauern, Blut, das immer dichter strömt, während die Mauern wachsen, näher rücken, mich ersticken.

Keuchend wachte ich auf. Fremde Nachtgeräusche drangen herein, das Zirpen von Zikaden, fernes Reifenquietschen, der dringliche Klang einer Sirene, der abrupt verstummte. Eine Katze maunzte. Nur ein Traum, dachte ich, nur ein Traum! Nur die dunklen Bilder im Atelier, die mich verfolgen. Und zumindest nicht der Traum.

Bebend stieß ich das gekippte Fenster zu, sperrte die Geräusche aus, sperrte alles aus, was mir Angst machen konnte. Dann rutschte ich in die hinterste Ecke meines Bettes, lehnte mich gegen die Wand und lauschte in die Dunkelheit.

Ich versuchte mich zu erinnern, wie glücklich ich noch am Morgen gewesen war. Das Gefühl, angekommen zu sein, hier, in Rom. So weit weg vom Schloss, von meiner Kindheit, der Angst und der Einsamkeit, den Schatten. Ich hatte gedacht, das alles hinter mir gelassen zu haben. Endlich.

Es war wohl ein Irrtum gewesen. Es war alles noch da. Ich hatte es mitgebracht, ohne es zu merken. Mein unseliges Gepäck. Ich hatte nur ein neues Kapitel begonnen.

*

Er: Blicklos starrte er auf das Pergament. Seine Finger fuhren die Buchstaben nach, als wären sie eine Art von Blindenschrift. Informationen, dachte er. Ich brauche viel mehr Informationen. Es muss doch noch einen anderen Weg geben. Irgendwie.

Er hatte das Pergament heute erst entdeckt. Bei einem Trödler im Trastevere, halb vermodert und staubig in einer Truhe. Aber die alte Schrift war schwer zu lesen. Es wurde schon bald Morgen und er war immer noch kaum weiter mit dem Text.

Er war zu jung, um die Alte Sprache wirklich gut zu beherrschen, und einen von den Alten wollte er nicht fragen. Sie hätten wissen wollen, warum er sich mit den verstaubten Geschichten befasste. Keinen von den Jungen interessierten sie mehr. Das Leben war viel zu schnell geworden für so etwas - selbst wenn es, sofern man denn Pech hatte, ewig dauerte. Verflucht! Und jetzt auch noch das Mädchen! Wie verletzlich sie ausgesehen hatte. Er hatte sofort gemerkt, wie seine sämtlichen Instinkte darauf angesprungen waren. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, sich zu beherrschen, sie einfach stehen zu lassen und zu gehen. Sie hatte in seine Richtung geschaut, ohne ihn zu sehen, es war zu dunkel gewesen. Für ihn war das Sehen bei Dunkelheit kein Problem. Er war ein Nachtwesen.

Ihr Gesicht war so bleich gewesen wie der Mond. Sie hatte die Brauen gerunzelt, ein wenig unsicher, und dann hatte sie die Angst getroffen. Er hatte das Vibrieren ihrer Nervenfasern spüren können. Die Schwingungen der Furcht – er kannte sie nur zu gut. Er mochte es, diese Vibrationen auszulösen, dieses Zittern. Er mochte es, weil er stärker war, weil er sich beherrschen konnte, weggehen konnte. Weil es ihm Macht gab. Nicht über die Kreatur, die in der Nacht stand, gefügig wie ein Lamm, das auf seinen Metzger wartete - nein, weil es ihm Macht gab über sich selbst. Er konnte das Spiel kontrollieren. Er musste es nicht mitspielen wie die anderen, Sklaven ihrer Triebe. Er konnte die Regeln bestimmen. Bis jetzt. Doch seit er das Mädchen gesehen hatte, war er sich nicht mehr so sicher. So schwer war es ihm noch nie gefallen. Der Hund hatte ihn schließlich weggezerrt.

Diese schreckliche Verletzlichkeit. Es müsste verboten werden, so verletzlich zu sein! Mit einem Fluch fegte er das Pergament vom Tisch.

*

Die Fragen summten und kreisten in meinem Kopf wie ein Schwarm Bienen: Wer war das gewesen am Tor? Wem gehörte dieser Hund? Und warum hatten bei mir alle Alarmglocken geschrillt? War ich verrückt oder reagierten alle Frauen so auf Schatten in der Nacht?

Das Grübeln hatte mich die halbe Nach wachgehalten und ich fühlte mich wie zerschlagen, als der Wecker läutete. Bei Tageslicht kam mir meine Reaktion auf die Gestalt im Garten hysterisch vor. Da hatte einfach jemand aus dem Haus noch eine Runde mit dem Hund gedreht. Sonst nichts. Später musste ich Lia nach seinem Besitzer fragen, jetzt schlief sie noch und gestern hatte ich sie nicht mehr getroffen, weil ich wie panisch in mein Zimmer gerannt war. Seufzend machte ich mir einen Kaffee.

Heute sollte ich mich in meiner neuen Schule melden. ‚Archio - Scuola di Restauro’, eine Restaurierungsschule. Möbel, Bilder, Fresken als Schwerpunkte. Es war ein privates College und kostete Geld, aber da verpflichtend ein Praktikum nebenherlief, bei dem ich etwas verdienen würde, und da ich bei Lia umsonst wohnen konnte, war es machbar. Das Kostgeld würde meine Mutter aufbringen und das Fahrtgeld hatte mir ganz überraschend meine Großmutter ausgelegt. Geld war leider in unserer Familie ein beständiges Thema, vor allem, weil selten welches da war. Alles ging für die Instandhaltung unseres Familienstammsitzes drauf, Schloss Razburg. Ich war immer ziemlich gehänselt worden wegen des adeligen Getues meiner Großmutter. Sie hatte das Gefühl, etwas Besseres zu sein. Das machte es für mich nicht einfacher, Freunde zu finden. Jemanden mit nach Hause zu bringen war eine Qual, es sei denn, wir schafften es unbemerkt ins Schloss und verkrochen uns still und leise irgendwohin.

Aber öfter noch verkroch ich mich alleine. Mein Lieblingsplatz war das chinesische Zimmer mit der verschossenen blassgrünen Seidentapete. Im Wäscheschrank hatte ich mir ein Lager eingerichtet. Wenn ich jemanden kommen hörte, klappte ich einfach die Tür zu ...

Vielleicht war das der Grund, warum ich Restauratorin werden wollte: Aus Dankbarkeit dem Schrank gegenüber, der mich so oft beschützt hatte. Mir kam es selbst schrecklich vor, wenn ich daran dachte, als besten Kindheitsfreund einen alten Schrank zu haben, aber so war es nun einmal.

*

Das Sekretariat in dem alten Palazzo war nicht schwer zu finden, eine Schlange Schüler stand bereits davor. Ich stellte mich dazu. Angesichts des Temperaments der Italienerinnen, die um mich herum redeten, lachten und gestikulierten, kam ich mir unbeholfen und sprachlos vor. Die Sekretärin drückte mir einen Packen Zettel in die Hand. Der reguläre Unterricht begann erst in ein paar Tagen, diese Woche war noch frei, damit sich alle in die Praktikumsstellen einarbeiten und ihre Unterkünfte organisieren konnten.

„Hey! Du bist auch Erstsemester, ja?“ Das Mädchen, das hinter mir in der Schlange gestanden hatte, tippte mir auf die Schulter. „Woher kommst du?“

„Deutschland. Und du?“

„Rom. Ich heiße Celia.“ Sie schob mit dem Zeigefinger ihre Brille hinauf und lächelte. „Gehst du mit gegenüber ins Café?“

Das ist ein guter Beginn, dachte ich.

Wir ergatterten das letzte unbesetzte Tischchen und breiteten unsere Studienunterlagen aus. Grundlagen der Konservierungs- und Restaurierungstechniken, Kunstgeschichte, Werkstoffkunde nach historischen Quellen, Werkstoffgeschichte, Chemie und Physik der Arbeitsstoffe, Klima, Licht und Umwelteinflüsse, Denkmalpflege – das klang alles furchtbar technisch, trotzdem freute ich mich darauf.

„Ich möchte auch mal ins Ausland, so wie du.“ Celia blickte verträumt ins Weite. „Das ist … mutig.“

„Ich bin eigentlich gar nicht mutig. Eher das Gegenteil.“

„Das meinst du nur! Erzähl, wo genau kommst du her, wie lebst du dort?“

„Tja, ich wohne in Süddeutschland in einem Schloss, das dringend eine Rundum-Sanierung bräuchte. Meine Mutter ist eine gefangene Prinzessin und meine Großmutter der Drachen, der sie bewacht. Und in den Verliesen treffen sich verwunschene Horrorwesen, denen man am besten aus dem Weg geht, wenn man seine Seele behalten will. Alles ganz normal also. Und du?“

Celia lachte so, dass sie sich unter der Brille die Tränen aus den Augen wischen musste. Ich lachte mit. Natürlich war es Unsinn gewesen, aber es tat trotzdem gut, mein bedrückendes Zuhause von der lustigen Seite zu betrachten.

„Meine Mutter hat einen Modeladen. Drüben, auf der anderen Seite vom Tiber, im Trastevere. Da leben wir auch. Frauenhaushalt … Na, du kennst das ja, wie es aussieht!“ Celia verzog das Gesicht und grinste.

Es war so einfach, mit Celia zu sprechen. Mir kam es vor, als wären wir schon seit langer Zeit Freundinnen.

„Mein Freund macht Schmuck. Luca. Er verkauft die Sachen auf der Porta Portese, dem Flohmarkt. Er …“ Celia verstummte plötzlich und starrte über meine Schulter. „Sag mal, hast du einen eifersüchtigen Freund oder so was?“ Ich schüttelte langsam den Kopf. „Ah, na ja, dreh dich jetzt nicht um, aber da steht so ein Kerl und bohrt dir seine Blicke in den Rücken. Schon die ganze Zeit. Mit einem ziemlich wilden Gesichtsausdruck, wenn du mich fragst!“

Ich fuhr herum, doch die Leute am Tisch hinter mir hatten sich gerade erhoben, und bis ich es schaffte, an ihnen vorbeizusehen, war niemand mehr da.

Der Duft von Tomaten zog sich bis in den Hausgang. Lia stand am Herd und rührte in einem Topf. Die warmen Gerüche der Küche, die Radiomusik, diese ganze Normalität kam mir seltsam irreal vor. Auf dem Heimweg hatte ich mich immer wieder umgedreht, um zu sehen, ob mir jemand folgte. Ich hatte Blicke in meinem Rücken gespürt und um jeden Hauseingang, der im Schatten lag, hatte ich einen Bogen geschlagen. Und das am helllichten Tag.

Ich hatte es gleich beim Nachhausekommen ansprechen wollen. Der Schatten im Garten. Und Razburg, unser Familiensitz. Lia war im Schloss aufgewachsen, genau wie ich. War sie je in den Kellern gewesen? Wusste sie irgendetwas, was mir Antworten auf meine Ängste und Albträume hätte bieten können? Oder hatte sie es geschafft, alle Erinnerungen hinter sich zu lassen? War das überhaupt möglich? Ich bezweifelte es – und hoffte es zugleich.

„Lia, da ist …“, begann ich zögernd.

„Ich koche immer Sugo vor. Ist doch praktisch, oder?“, rief sie fast im gleichen Moment. Dann warf sie mir über die Schulter einen Blick zu. „Was wolltest du gerade sagen? Hab ich dich unterbrochen?“

„Nein, schon gut. Ich wollte nur … Ach, eigentlich nichts Besonderes.“ Ich wagte es nicht zu fragen. Ich hatte schon zu oft auf Antworten gehofft.

Du bist einfach hypersensibel, Schatz! Da ist gar nichts! Was glaubst du denn? Dass es spukt? Und dann hatte meine Mutter gelacht. Ich hatte ihre Stimme noch genau im Ohr und auch, wie künstlich ihr Lachen geklungen hatte. Ich war mir sicher, dass sie log. Vielleicht belog sie sich aber auch selbst.

Lia begann mit dem Kochlöffel den Takt zu einem Lied an den Topfrand zu klopfen und ein wenig schräg zu singen.

„Sag mal, wem gehört der Hund im Garten?“

„Rizzi? Der gehört Justin. Unterste Wohnung zusammen mit Valentina. Fotografen alle beide, er ist ihr Assistent. Netter Junge, etwas ernst. Er müsste ungefähr in deinem Alter sein. So!“ Sie legte den Löffel beiseite. „Bedien dich ruhig, wenn du Hunger hast! Mach dir einfach ein paar Nudeln dazu. Und komm doch später wieder nach unten. Vielleicht ist Flavia da. So lernst du rasch die ganze Belegschaft kennen!“

Ich verbrachte den Nachmittag in meinem Zimmer und studierte die paar Skripten, die ich schon bekommen hatte. Nur nicht wieder hinausgehen und diese Blicke spüren. Und dieses Beobachtetwerden. Missmutig blätterte ich durch meine Unterlagen.

Es war schwül in der Wohnung. Ich schleppte mich unter die Dusche. Das Wasser wechselte ständig zwischen heiß und kalt, aber danach war ich ein wenig munterer.

Einer hat mich angestarrt. Na und? Vielleicht hat er mich ja mit jemandem verwechselt. Und dann? Habe ich mich verfolgt gefühlt. Wirklich gesehen, dass jemand hinter mir herkommt …? Nein, hab ich nicht. Also.

Ich straffte die Schultern, als könnte der reine Wille zum Glück es herbeizwingen. Ich lass sie mir nicht kaputtmachen, dachte ich, meine neue Freiheit, meine Unabhängigkeit! Mit feuchten Zehen schlüpfte ich in meine Flip-Flops und lief hinunter ins Atelier.

Ich atmete durch, als ich zwischen Lia und Ubaldo saß, wieder auf der Treppe, die anscheinend mein üblicher Platz wurde. Die beiden arbeiteten still. Zum ersten Mal an dem Tag fühlte ich mich sicher. Ich vertiefte mich in mein Italienischlehrbuch.

Die Dämmerung begann sich bereits über den Raum zu legen und aus den Ecken zu kriechen, als draußen der vertraute Pfiff ertönte. Dann flog die Tür auf und Rizzi stürmte herein, doch diesmal kam er nicht allein.

„Ah, Justin!“ Lia winkte. „Schön, dass du kommst. Dann kannst du gleich Selina kennenlernen.“

Justin folgte seinem Hund deutlich langsamer. Die dunklen Haare hingen ihm wirr und nachlässig in sein düsteres Gesicht. Sein Blick aus seltsam hellen Augen traf mich direkt, dann zuckte er zur Seite. Ich spürte ihn nachglühen wie einen Schmerz.

Und das war er. Der Moment, der mein Leben in ein Vorher und ein Nachher teilte. Und nichts dazwischen.

„Selina?“ Ich hörte die Stimme meiner Tante wie durch Watte.

Justin, dachte ich. Justin. Ihm gehört der Hund.

Der Puls klopfte wie ein kleines gefangenes Tier in meinem Hals. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, mich in Zeitlupe zu bewegen. Ich legte mein Buch auf die Treppe, stand auf, ließ den Halt des Geländers los und schaffte es ohne zu stolpern durch den Raum.

„Freut mich“, murmelte ich, streckte Justin die Hand hin und spürte kurz den Druck seiner kühlen Finger. Sein Blick traf mich erneut, flüchtig diesmal. Er antwortete so leise, dass ich ihn kaum verstand. Es klang wie: „Ja. Okay.“ Dann hatte er auch schon Rizzi, der sich wedelnd und hechelnd an mein Bein drückte, am Halsband gepackt. Die Tür fiel zu und sie waren fort.

Ich stolperte zurück zur Treppe, kauerte mich auf die Stufe. Zum Glück achtete niemand auf mich. Der Schatten am Tor, das war er gewesen. Justin. Wie ein Flashback ergriffen mich der Schreck und die Unsicherheit des letzten Abends.

Justin. Seine Augen schimmerten wie Kiesel, die unter Wasser lagen. Oder unter Eis. So kalt hatten sie mich angeblickt. Als wäre ich das Letzte auf der Welt, was er sehen wollte. Und ich? Alle Alarmglocken in meinem Kopf waren zugleich losgegangen, als dieser Blick mich getroffen hatte: Renn! Lauf weg! Egal wohin, nur fort!

Und dann?

Der Gesang einer Sirene hatte sich eine schmale Spur durch meine Gedanken gebahnt, süß, klebrig und unwiderstehlich. Ich hatte plötzlich ein Flattern in mir gespürt, wollte reflexhaft nur dem betörenden Ruf folgen. Und der Ruf kam von Justin.

Ich schlang Schutz suchend die Arme um mich, versuchte mich zu konzentrieren. Was lief hier ab? Ich verstand es nicht. Wurde ich jetzt verrückt, psychotisch? War ich getrieben von Wahnvorstellungen? War es vielleicht nie etwas Anderes gewesen?

*

Er: Er hätte nicht hingehen sollen. Verdammt! Und da war noch etwas. Er konnte es spüren. Irgendetwas war da draußen. Es beunruhigte ihn. Genau wie ihre Anwesenheit im Haus. Fast verrückt machte es ihn. Beides. Ein Glück, dass er morgen weg war. Hoffentlich lang genug. Obwohl er … lieber bleiben würde. Eigentlich. Er verstand es nicht! Nicht im Geringsten.

Dunkle Seele Liebe

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