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Rom. Ich war in Rom. Mittendrin. Stand vor der Stazione Termini, dem Bahnhof, und klammerte mich an meine Reisetasche. Meinen Rucksack hatte ich fest unter den Arm geklemmt. „Pass bloß auf, alles Diebe“, hatte meine Großmutter Charlotte mir mit auf die Reise gegeben. „Wenn nicht Schlimmeres!“ Natürlich war das Unsinn, aber mein Gepäck hielt ich trotzdem fest. Sicher ist sicher.

Ich fühlte mich wie betäubt, konnte gar nicht mehr denken, starrte auf das Gewühl an Autobussen und Menschen. Alle möglichen Sprachen, Gelächter, Motorengebrumme, Hupen, Sirenen, Schimpfen hüllten mich in eine Klangwolke. Ich sah die ersten antiken Mauerreste und die erste Pinie, die sich mit unvergleichlicher Eleganz in einen Himmel streckte, wie er perfekter gar nicht sein konnte. Blau wie Glas, ein paar fedrige Wölkchen aufgetupft, dehnte er sich über mir, die Sonne warf nachlässig ihre Strahlen über den Platz. Mein Herz begann zu klopfen, als würde es plötzlich einen verrückten Tanz tanzen. Frei. Ich war frei! Ich hatte es wirklich geschafft. Ich stand und lächelte übers ganze Gesicht - denn irgendetwas muss man ja tun, wenn man so glücklich ist. Und genau das war ich gerade: absolut glücklich.

Zehn Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet. Meine erste Tagebucheintragung unter ‚STRENG GEHEIM! LESEN VERBOTEN! LEBENSGEFAHR!’, war: ‚Ich geh nach Rom! Wenn ich mal groß bin. Dann finde ich Papa. Ganz gleich, was Großmutter sagt! Und dann …’

… beschützt er mich vor dem Keller und vor meinen Träumen und vor allem, was mir Angst macht, wäre der Satz weitergegangen. Aber ich hatte damals nicht einmal gewagt, das zu schreiben.

Ich war allerdings jetzt nicht nach Rom gekommen, um meinen Vater zu finden. Das war nicht mehr möglich. Dabei hatte ich meine ganze Kindheit davon geträumt: Wieder eine richtige Familie zu haben. Ich war auch nicht nach Rom gegangen, um mich von meiner Großmutter zu befreien oder um der gedrückten Stimmung im Schloss zu entkommen. Dazu liebte ich meine Mutter zu sehr. Sie hätte das tun sollen! Sie war immer traurig, sogar wenn sie lachte. Ich war nach Rom gekommen, um Restauratorin zu werden. Alte Bilder und Möbel wiederherstellen, das wollte ich.

Ich kannte die damalige Tagebucheintragung deshalb so gut, weil ich noch immer in das gleiche Buch schrieb. Es war trotzdem halb leer. Ich machte nur sehr selten Eintragungen und dann auch nur kurz und undatiert. Wahrscheinlich, weil ich insgeheim immer befürchtete, dass meine Großmutter es finden könnte. Sie würde es ohne zu zögern lesen, das wusste ich sicher. Kein Verschluss könnte sie davon abhalten und schon gar keine moralischen Bedenken. Alles im Schloss war ihr Eigentum, das Tagebuch, ich und auch meine Mutter. Aber das war im Moment eine andere Geschichte. Auf jeden Fall steckte das Buch in meiner Reisetasche und ich stand in Rom, und das schien mir das Beste, was mir in einer langen Zeit passiert war.

Neben mir begrüßte sich eine Familie. Alle lachten und redeten durcheinander, küssten sich auf die Wangen und wirbelten Kinder durch die Luft. Mich holte keiner ab, aber das machte mir nichts. Nicht viel zumindest. Für die Unabhängigkeit, dachte ich, ist mir kein Preis zu hoch!

Ich nahm noch einen tiefen Atemzug von der berauschenden, warmen, staubigen und abgasschweren römischen Luft, dann ging ich zurück in die Bahnhofshalle und folgte den Pfeilen zur U-Bahn. Im Vorbeigehen kaufte ich mir ein Ticket. Ich hatte Mühe, die Verkäuferin zu verstehen. In der Schule hatte ich ganz gut Italienisch gelernt, aber hier klang das anders und die Frau sprach sehr schnell. Ich drängte mich mit vielen anderen die Rolltreppen hinunter zu den Zügen. In den Gängen stank es, aber das störte mich nicht, ich fand einfach alles toll! Alles!

Ich musste nur ein paar Stationen fahren. Meine Tante hatte mir ein Zimmer angeboten. Ich hatte Lia seit Ewigkeiten nicht getroffen. Das letzte Mal war bei uns zu Hause im Schloss gewesen – ich erinnerte mich, dass ich damals noch Zöpfe trug. Lia hatte gleich solch einen Krach mit Großmutter bekommen, dass sie umgehend wieder abgereist war.

Hier kam meine Haltestelle. Wieder tauchte ich hinauf in diesen perfekten Himmel und dieses strahlende Licht. Vor mir erstreckten sich ein riesiger Platz und ein monumentales Gebäude. San Giovanni, die Lateranbasilika. Weiter hinten sah ich einen roten Obelisken hervorblitzen. Ein Hund schnupperte neben mir an einem Abfallbehälter. Er sah noch etwas verschlafen aus und so, als würde er grinsen. Alles wirkte morgenfrisch, freundlich und ein wenig träge. Rechts strömte eine Touristengruppe in ein altes Gebäude. Laut meinem Reiseführer war dort die Heilige Treppe. Eine Mauer schloss daran an mit einer eisernen Pforte. Das musste es sein! Mein Herz klopfte mir mit einem Mal bis zum Hals.

Der Messingknopf der Klingel war unscheinbar in die Wand eingelassen. Ich drückte ihn zaghaft. Hinter der Tür blieb alles still. Vielleicht hatte meine Tante ja vergessen, dass ich kam. Ich biss mir auf die Unterlippe. Sollte ich noch einmal läuten? Zögernd hob ich die Hand, da näherten sich schnelle Schritte, dumpf, als würde jemand mit Turnschuhen über Steinplatten laufen. Das Tor schwang auf und eine Frau stand vor mir. Sie starrte mich mit einem Gesicht an, als hätte ich sie bei etwas Wichtigem gestört, als wäre sie in Gedanken ganz woanders und wüsste nicht genau, was sie mit mir anfangen sollte. In ihren wirren dunklen Locken blitzten Silberfäden. Ich konnte mich zwar nur vage erinnern und die Fotos, die wir von ihr hatten, waren inzwischen auch alt, trotzdem gab es keinen Zweifel.

„Tante Lia …“

Sie riss die Augen auf und dann explodierte ein Lachen in ihrem Gesicht. „Maria-Selina! Bist das wirklich du?“ Mit einem Schritt war sie bei mir und zog mich in ihre Arme. Sie war groß, gleich groß wie ich, und sie roch nach Farbe.

„Nur Selina“, warf ich rasch ein. „Kein Mensch sagt was anderes zu mir.“

Sie lachte wieder. „Zu mir sagt zum Glück auch kein Mensch … das Andere. Aurelia, puh!“ Sie schob mich ein wenig von sich und kniff prüfend die Augen zusammen. Ich zappelte, um mich aus ihrem Griff zu befreien. Es war mir unangenehm, so betrachtet zu werden. Tante Lia schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen! Als wäre die Zeit stehen geblieben.“ Sie ließ mich los.

„Ich sehe Mama ähnlich. Meinst du das?“

„Ähnlich sehen? Ja, das tust du. Du siehst aus wie Lisi früher. Nur deine Haare sind ein wenig dunkler, aber sonst …“

Sie schob mich durch das Tor in eine Loggia, die sich wie ein kleiner Himmel über uns wölbte. Hohe Außenmauern umschlossen einen wild wuchernden Garten, ein gepflasterter Weg führte zu einem Wohngebäude, das in verwaschenem Rot hinter Palmen und Büschen hervorblitzte. Mitten im Grün lag eine überdimensionale Hand und reckte zwei weiße Marmorfinger in die Luft, die anderen waren abgebrochen und in Fragmenten verstreut.

„Die hat zu einer der Apostelstatuen draußen auf der Basilika gehört.“ Tante Lias Blick war meinem gefolgt. „Jetzt liegt sie hier. Früher war hier übrigens mal ein Kinderhospital. Da, der Kuppelbau, das ist das Atelier. Dort arbeite ich.“ Sie lief leichtfüßig durch den Garten und eine breite Steintreppe hinauf. Ich folgte ihr. Eine gelbe Tigerkatze lag wie hingegossen auf den ausgetretenen Stufen und blinzelte uns aus trägen Augen an.

Die Wohnung lag im dritten und obersten Stockwerk. Die Räume dehnten sich hoch, Licht flutete hindurch und ließ Staubpartikel in den Sonnenstrahlen tanzen. Auf einer Dachterrasse quollen Palmen und Blüten aus Steintrögen.

„Das ist dein Zimmer.“ Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ein Bett mit einer roten indischen Decke und einen leuchtend grün lackierten Stuhl an einem Schreibtisch. „Aber jetzt mach ich dir erst mal Frühstück! Du musst doch gerädert sein, die ganze Nacht im Zug …“

In der Küche zischelte Fett und der Duft von Rühreiern zog durch den Raum. Mein Magen grummelte vernehmlich. Tante Lia schenkte uns Kaffee ein und schob mir Pfanne und Teller hin. Sie hatte wieder ihren Malerinnenblick in den Augen. Linie für Linie studierte sie mein Gesicht.

Ich kannte Lias Werke nur aus den raren Bemerkungen meiner Mutter und den bissigen meiner Großmutter. An sich wurde bei uns zuhause nicht über meine Tante gesprochen. Für meine Großmutter war ihre jüngere Tochter der Schandfleck der Familie; dabei hatte Lias einziges Vergehen darin bestanden, sich aus den Klauen meiner Großmutter zu befreien, um ihr eigenes Leben zu leben. Unverzeihlich, denn, wie gesagt, alles im Schloss gehörte Charlotte.

Ich betrachtete meine Tante kaum weniger gründlich. Im Gegensatz zu meiner zerbrechlichen Mutter wirkte Tante Lia stabil. Sie stützte ihr Kinn in die Hand und lächelte. „Du hast meine Augen, Selina“, stellte sie fest. „Das gleiche Blau.“

„Ich hatte richtig Lampenfieber, dich wiederzutreffen“, sagte ich.

„Und?“

„Jetzt nicht mehr. – Ich wollte, Lisi würde so viel lachen wie du.“

„War deine Großmutter nicht böse, dass du gegangen bist und noch dazu bei mir wohnst?“

„Ich bin ja erst mal nur vorübergehend weg, um eine Ausbildung zu machen. Das sieht selbst Großmutter ein! Mit mir ist sie nicht ganz so streng“, fügte ich hinzu.

„Du bist nicht ihre Tochter.“ Tante Lia seufzte und ihr Blick verdüsterte sich.

„Ja. Im Übrigen … sie, hm, sie weiß nicht, dass ich bei dir wohne“, gestand ich. „Lisi hat es ihr nicht gesagt und ich auch nicht.“

„Ah!“ Tante Lias Nicken sprach Bände, dann schüttelte sie den Kopf und seufzte. „Deine Mutter hätte damals auch weggehen sollen. Wenn schon nicht mit mir, dann wenigstens mit deinem Vater.“

„Aber sie musste Großmutter doch pflegen“, verteidigte ich meine Mutter, obwohl ich eigentlich das Gleiche dachte: Lisi hätte irgendwann weggehen sollen. „Die war doch so krank damals.“

„Pff!“ Tante Lia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die ist immer krank geworden, wenn es ihr in den Kram gepasst hat. Aber lassen wir das jetzt. Ich bin froh, dass du den Absprung geschafft hast, Selina.“ Sie betrachtete mich einen Moment ruhig. „Es tut mir leid, dass ich euch die Todesnachricht schicken musste.“

Ich zuckte nur die Schultern. Ich hatte keine Lust, jetzt über meinen Vater zu sprechen. „Danke, dass ich bei dir wohnen darf, Tante Lia“, sagte ich stattdessen.

Sie lächelte. „Sag doch einfach Lia. Tante klingt so … so … tantig.“

Ich musste lachen. „Okay, Lia.“

„So!“ Sie erhob sich. „Ich verzieh mich ins Atelier. Wenn du willst, kannst du dann nachkommen. Ich hab dir deine Schlüssel auf den Schreibtisch gelegt. Und sonst …“ Sie brach ab und sah mich etwas ratlos an.

„Danke. Ich komm schon zurecht, keine Sorge.“

„Wunderbar.“ Lia nickte und sah auf einmal sehr erleichtert aus. Wahrscheinlich hatte sie insgeheim Angst gehabt, dass sie mich babysitten musste. Nein, diese Sorge konnte ich ihr nehmen. Ich war ziemlich selbstständig und daran gewöhnt, allein zurechtzukommen.

Auf dem Fensterbrett in meinem Zimmer stand ein Blumentopf mit Basilikum. Das Bild an der Wand musste Lia gemalt haben. Es war in kräftigen Blau- und Türkistönen gehalten. Das Meer und der Himmel. Ein roter Fleck wie ein Segelboot, das klein und zerbrechlich in den ungeheuren Elementen schwebte. Das Bild gefiel mir.

Ich kniete mich aufs Bett, um aus dem Fenster sehen zu können. Die Balustrade San Giovannis mit den Apostelstatuen schimmerte durch die Bäume. Im Garten bellte ein Hund. Ein Pfiff ertönte.

Ich muss sofort eingeschlafen sein.

Bis ich wieder munter war und mich auf den Weg zu Lia gemacht hatte, fielen die Sonnenstrahlen schon schräg durch die staubigen Fenster des Ateliers. In der hohen hölzernen Kuppel des Raumes huschten wie Schatten Fledermäuse hin und her. Ein paar Bilder lehnten auf Staffeleien, dazwischen reckten sich totempfahlähnliche Holzobjekte. Ein Mann nickte mir kurz zu. Er war groß und ungeschlacht wie der rohe Steinblock, an dem er arbeitete. Lias Bilder waren unschwer zu erkennen: Bunt, direkt und trotzdem rätselhaft leuchteten sie neben einer ganzen Reihe Leinwände, die so schwarz und abgeschabt wirkten wie alte Brandmauern. An einigen Stellen waren die Leinwände zerschnitten und rote Farbe quoll heraus. Es sah aus, als würde Blut aus den Mauern laufen.

Lia lächelte mir zu. Sie hatte einen Pinsel in der Hand und deutete auf die dunklen Bilder. „Flavias Werk. Sie ist nur heute nicht da. Und, gefallen sie dir?“

„Sie sind … verstörend.“ Ich zog unwillkürlich die Schultern hoch. „Deine Bilder gefallen mir besser.“

Meine Tante lachte. „Aber Flavia ist sehr nett, du wirst schon sehen. Das da drüben ist übrigens Ubaldo. Erster Stock.“

„Stört es, wenn ich einfach ein bisschen hier bin?“

„Nein, mach nur.“ Lia hatte sich schon wieder ihrem Bild zugewandt.

Ich schlenderte zwischen den Kunstwerken herum, ließ meine Hand über die behauenen Steine wandern, betrachtete mir die Totempfähle genauer und setzte mich dann auf die Treppe, die zu einer rundum verglasten Balustrade hinaufführte. Ich fand es schön, einfach nur in der Ecke zu lehnen und das alles auf mich wirken zu lassen. Ich fühlte mich so an meinem Platz, so richtig, als wäre ich schon lange hier zu Hause.

Die Fenster wurden dunkle Rechtecke und Lia knipste einen altmodischen Lichtschalter an. Nackte Glühbirnen leuchteten auf. Kurz darauf kratzte es an der Tür, ein Hund kam hereingelaufen. Er begrüßte Lia, die ihm geistesabwesend den Kopf tätschelte, strich an Ubaldo vorbei, der ihn nicht beachtete, dann stand er gelb und struppig vor mir. Mit vorgereckter Nase schnupperte er an meinen Knien. „Na, Schöner?“ Ich streckte ihm eine Hand hin und er wedelte. Ich liebte Hunde und hätte immer gern selbst einen gehabt, aber im Schloss ging das nicht. Großmutter!

Jetzt lief er zurück zur Tür und blickte sich auffordernd zu mir um.

Kaum dass ich ihm die Tür einen Spalt geöffnet hatte, drängte er sich hindurch. Zugleich ertönte ein heller Pfiff, wie ich schon einmal gehört hatte, aus dem Garten. Ich trat ins Freie, aus dem Schein der Hausbeleuchtung unter die Bäume, die sich schemenhaft vor dem Nachthimmel abzeichneten. Die Marmorhand ragte als heller Fleck in die Dunkelheit, die Platten des Weges zogen eine verschwommene Spur zur Eingangspforte. Wieder ertönte ein Pfiff. Ich hörte leises Hecheln, dumpfe Schritte aus dem Garten, dann wuchs beim Tor ein Schatten aus dem Schwarz. Ich konnte nur die Umrisse einer Gestalt unterscheiden, mehr nicht, breite Schultern, der Haltung nach ein Mann. Was tat er? Drehte er sich zu mir um? Ich konnte es nicht erkennen, aber trotzdem hätte ich schwören können, dass er mich anstarrte. Und nicht nur das. Dass er mich belauerte, mich taxierte. Mein Herz klopfte plötzlich so, dass es mir in den Ohren dröhnte. Wer war das? Ich hatte ein Gefühl von Altvertrautem. Als müsste ich ihn kennen. Und er mich. Altvertraut wie meine Albträume. Der gleiche Ansturm hilfloser Panik. Ich konnte den Schweiß unter meinen Armen spüren und ein seltsames Gefühl des Fallens in meiner Magengrube. Mein Kreislauf sackte weg. Ich tastete nach der Wand neben mir.

Ich konnte nur für einen Moment die Augen geschlossen haben, aber als ich sie wieder öffnete, war der Schatten verschwunden. Das Tor knarzte leise im Schloss.

Dunkle Seele Liebe

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