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Die nächsten Tage vergingen öde und gleichförmig: Schule, Werkstatt, Schule, Werkstatt. Unvermittelt war es Herbst geworden.

Die Ruhe des regenfeuchten Gartens empfing mich beim Nachhausekommen wie eine Oase. Alles schien leicht zu dampfen, Schatten verschmolzen mit dunklen Pfützen und in der Marmorhand blinkt eine kleine Lache. Ich warf einen Blick ins Atelier, sah niemanden und drehte mich zum Gehen. Fast prallte ich gegen eine Gestalt, die sich hinter mir aus dem Halbdunkel schälte. Das helle Oval eines Gesichtes, wässrige Augen, um die sich tausend Runzeln zogen - die Bettlerin, die immer auf unserer Piazza stand. Was machte die denn hier?

„Nettes Mädchen“, ächzte sie. „Nettes Mädchen! Du hilfst mir bestimmt, nicht wahr?“

„Gerne“, stammelte ich. „Aber was soll ich denn … Ich meine, was kann ich …“

„Die Katzen“, unterbrach sie mich. „So nette Tierchen! Und warten doch auf mich! Aber mein Bein, weißt du? Morgen muss ich in die Klinik, bleibt nichts anderes übrig.“ Sie nickte ein paar Mal mit dem Kopf. „Da muss man früh hin, sehr früh, sonst kommt man da im Leben nicht mehr dran und meine Schätzchen warten doch, verstehst du?“

„Äh …“ Nein, ich verstand gar nichts.

„Komm!“ Sie schlurfte voraus, durch eine kleine Eisentür, hinter das Haus, wo die Bäume dicht an der Außenmauer standen. Der Schuppen mit dem Rasenmäher und den Gartengeräten war hier, an seiner Wand standen ausrangierte Gartenmöbel gestapelt. Ganz hinten versteckte sich ein Eingang, den ich bis jetzt noch nicht entdeckt hatte. Die Frau schien hier zu wohnen.

„Da! Das Essen für meine Lieblinge!“ Sie hob den zerbeulten Deckel von einem Topf, der auf einem alten Holzofen stand. „Ich stell’s dir vor die Tür, ja? Und du gehst und fütterst die Kleinen. Aber früh musst du dort sein. Gerade wenn die Sonne aufgegangen ist. Vor allen anderen, ja?“

„Ja, aber …“, protestierte ich. „Ich weiß gar nicht …“

„Im Giardinetto. Neben der Ruine. Die Kätzchen zeigen dir schon, wo, keine Sorge. Und jetzt geh!“ Sie schob mich aus der Tür, als wäre ich ein lästiger Besuch. „Morgen …“, begann sie, dann aber brach sie jäh ab und starrte über meine Schulter.

Ich stand reglos, dabei wäre ich am liebsten gerannt. Umgedreht und gerannt. Panik erfasste mich - vor der Alten und vor dem, was sie hinter meinem Rücken fixierte. Sie stieß einen ächzenden Ton aus.

„Was … ist denn?“ Ich brachte es kaum heraus, wagte es nicht, über meine Schulter zu blicken.

„Anima“, flüsterte sie kaum verständlich. „Anima.“ Ihr Blick fokussierte schlagartig wieder auf mich. „Allora, domani! Morgen also!“ Sie zog mit einem Ruck die Tür ins Schloss. Ich stand in völliger Dunkelheit. Stolpernd tastete ich mich an den Gartenmöbeln vorbei. Jetzt konnte ich als blasses Rechteck den Ausgang zum Garten ausmachen. Neben mir ein schleifendes Geräusch, dann wieder Stille. „Hallo“, flüsterte ich. „Hallo?“ War da jemand? War da ein Atmen?

Ich rannte, stieß gegen den Rasenmäher, hetzte hinaus, die Treppe hinauf und fiel regelrecht in die Wohnung. Keuchend lehnte ich mich an die Tür. Die alte Frau … woher kannte sie meinen zweiten Vornamen? Mein ganzer Name lautete Maria-Selina Anima Fenice. Das konnte sie doch unmöglich wissen. Oder hatte sie das nur so gesagt? Anima heißt im Italienischen Seele und man sagt solche Ausdrücke oft aus Sympathie: amore, anima

Aus dem Wohnzimmer klang Musik.

Lia saß mit einem Buch auf der Couch. Dieses eine Mal war es mir völlig gleichgültig, ob ich sie störte. Ich warf mich aufatmend neben sie. „Ich hatte keine Ahnung, dass jemand hinten im Schuppen haust! Die alte Frau … Wer ist das?“

„Haust ist das richtige Wort.“ Lia ließ seufzend ihr Buch sinken. „Das ist Marzia. Mich wundert nicht, dass du sie vorher noch nicht bemerkt hast. Sie lebt wie ein Schatten da hinten in der Kammer und huscht durch ein kleines Pförtchen in der Mauer aus und ein. Wir wollten ihr schon x-mal ein schöneres Zimmer beschaffen oder sie zu uns nehmen oder zumindest den Schuppen ein bisschen herrichten, aber sie besteht darauf, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie sagt, es muss so sein und nicht anders.“

„Wahrscheinlich ist sie froh, dass sie überhaupt da sein darf. Dass ihr sie aufgenommen habt.“

„Das haben wir gar nicht.“ Lia schüttelte den Kopf. „Sie war schon vor uns allen da. Das Gebäude war vor Urzeiten einmal ein Kinderhospital. Dann kam der Krieg und es wurde zum Lazarett umfunktioniert. Marzia scheint eine der Krankenschwestern gewesen zu sein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie alt sie inzwischen ist! Nach dem Krieg wurden die Mietwohnungen hier errichtet. Aber Marzia ist geblieben. Wahrscheinlich hatte sie niemanden mehr, zu dem sie hätte heimkehren können. - Du hast dich hoffentlich nicht vor ihr geängstigt?“

„Ein bisschen.“ Ich zog unwillkürlich die Schultern hoch. „Sie will, dass ich morgen die Katzen füttere. Sie muss in die Klinik, wegen ihrem Fuß.“

„Ihr Fuß? Oje!“ Lia lächelte plötzlich. „Dann bist du jetzt die Gattara. – Das sind die Frauen, die die wilden Katzen füttern“, fügte sie hinzu, als sie meine ratlose Miene sah. „Deine Mutter würde staunen, was für eine Römerin schon aus dir geworden ist!“

„Von deiner Mutter ganz zu schweigen!“ Ich musste lachen. Mit einem Mal wusste ich gar nicht mehr, warum ich mich vorher so gefürchtet hatte.

Ich war mir nicht ganz sicher, wann die Sonne aufging und stellte mir den Wecker auf fünf Uhr. Das Läuten holte mich beim ersten Dämmerlicht aus dem Schlaf. So ungefähr hatte ich also richtig geschätzt. Gähnend fuhr ich in Jeans, Sweatshirt, eine alte Gartenjacke von Lia und putzte mir kurz die Zähne. Alles andere konnte warten. Ich schlüpfte aus der Wohnung und zog leise die Tür hinter mir ins Schloss.

Der Topf stand in einem Korb vor der Haustür, der Deckel war mit einem Stück Kordel festgebunden. Das Ganze war schwer und unhandlich und ich wunderte mich, wie die alte Frau das jeden Morgen schaffte. Die Straßen lagen ausgestorben, nur ein Auto der Straßenreinigung schob sich dumpf brummend den Rinnstein entlang. Der Giardinetto, das ‚Gärtchen’ unseres Stadtviertels, war am Ende der Straße. Ein kleiner Park, tagsüber von dichtem Verkehr und Markttreiben umflossen. Jetzt lag er eingebettet in Stille.

Das Tor an der Stirnseite war bereits geöffnet. Der Kies des Parkwegs knirschte leicht unter meinen Sohlen, das Trällern eines Vogels schnitt klar durch den Morgen. Hier, bei der Ruine eines altrömischen Aquädukts, musste irgendwo die Futterstelle sein.

Die Katzen zeigen dir schon den Weg, hatte die alte Frau gesagt und ich wusste bald, wovon sie gesprochen hatte. Glitzernde Augenpaare fixierten mich unbeweglich aus den Büschen, ich hörte Maunzen, ein pelziger, getigerter Körper strich mir weich um die Beine und dann kamen sie plötzlich aus allen Richtungen gelaufen: magere, struppige und schmutzige Katzen, mit räudigen Stellen in den Pelzen und verkrusteten Wunden, vereinzelt fehlten Stücke von Ohren oder ein Auge. Ich brauchte wirklich nur den steil aufgestellten Schwänzen und den zwingenden Blicken schräger Pupillen zu folgen. Auf einer Mauer hinter einer Reihe von Büschen standen ein paar schmutzige Wasserschüsseln.

Marzia hatte mir in einem Plastiksack Blechteller und einen Löffel zu dem Topf gepackt und ich begann schnell das Futter auszuteilen. Der pappige Brei mit Fleischstückchen und Knochen schien den Tieren zu schmecken. Während sie sich um die Teller balgten, nahm ich mir die herumstehenden Wasserschüsseln vor, spülte sie an einem Steinbrunnen in der Ecke durch und füllte sie frisch. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die Baumwipfel und ließ die Wassertropfen aufblitzen. Eine Katze geriet in den feuchten Sprühnebel, schüttelte sich empört und begann sich ein Stück weiter würdevoll zu putzen. Bei jedem Schritt strichen mir die kleinen Tiger um die Beine und maunzten mich an, als wollten sie mit mir sprechen. Ich kraulte ihre struppigen Köpfe, wenn auch etwas zögerlich. Einige von ihnen schienen Zecken zu haben, ich konnte die Erhöhungen unter ihrem Pelz spüren.

Eine graue Katze tappte mit weichen Schritten neben mir die Mauer entlang. Mit einem Mal verharrte sie reglos. Ein eigentümliches, drohendes Knurren stieg tief aus ihren Eingeweiden auf, dann fauchte sie. Ich fuhr herum. Wie aus dem Erdboden gewachsen stand Justin im Unterholz, die Kamera in der Hand, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen, als wäre er ärgerlich, mich zu sehen.

„Was tust du denn hier in den Büschen?“, fuhr ich ihn erschrocken an. Die Falte zwischen seinen Brauen glättete sich und er hob beschwichtigend eine Hand. „Tut mir leid! Ich dachte, du hättest mich gehört. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich …“ Er zuckte die Schultern und verstummte.

„Nein, ich hab dich nicht gehört.“ Ich stieß die Luft aus und lehnte mich Halt suchend an die Mauer in meinem Rücken.

Er bückte sich zu den Katzen hinunter und begann leise, sie zu locken. Ganz sanft und vorsichtig. Rücksichtsvoll. Jetzt zupfte er einen Grashalm aus, wedelte damit leicht hin und her. Eine Tigerkatze schlug spielerisch danach, strich Justin um die Beine. Mein Magen schlug einen Purzelbaum.

„Warum ist Marzia heute nicht da?“ Er blickte mit seinen hellen Augen zu mir auf.

„Klinik“, murmelte ich und hätte mich im gleichen Moment treten können, dass mir nichts Geistreicheres einfiel. „Ich weiß immer noch nicht, was du hier machst“, sagte ich stattdessen.

„Fotografieren.“ Justin deutete auf seine Kamera. Er fingerte suchend durch die Tasche seiner ausgebeulten Khakijacke und schob einen Deckel auf das Objektiv seiner Kamera. „Für ein Lifestylemagazin. Das andere Gesicht von Rom. Abseits der Touristenpfade, verstehst du?“

Ich nickte stumm.

„Eigentlich wollte ich Marzia aufnehmen. Beim Katzenfüttern. Deshalb habe ich Rizzi zu Hause gelassen.“ Er blickte mich einen Moment stirnrunzelnd an, dann ließ er den Blick rundum streifen. Mit einem Mal bekam er wieder sein Fotografengesicht, das ich schon von der Vernissage kannte, als hätte er alles um sich vergessen außer dem, was er auf sein Foto bannen wollte. „Die ersten Sonnenstrahlen haben den Wasserstrahl richtig aufglühen lassen“, seine Stimme klang träumerisch. „Ich glaube, die Bilder sind sehr schön geworden.“

Wieder erklang dieses seltsam knurrende Maunzen. Die Graue und eine Schwarze starrten mit gesträubtem Fell in die Büsche. Justin fuhr so schnell herum, dass ich es kaum als Bewegung wahrnahm. Mit beleidigten kleinen Schreien verschwand ein Großteil der Katzen zwischen den Mauerresten.

„Was ist denn los? Was ist da?“ Justins Rücken versperrte mir die Sicht. Ich versuchte, an ihm vorbeizusehen, legte ihm dabei eine Hand auf den Arm. Er fuhr bei meiner Berührung heftig herum und funkelte mich an.

„Entschuldige, ich …“ Hilflos brach ich ab. Hatte ich gerade irgendeine mir unbekannte Grenze überschritten?

„Du musst gehen.“ Seine Stimme klang so kalt, wie seine Augen blickten. „Jetzt!“

„Aber …“ Verwirrt begann ich, die Teller einzusammeln. „Warum? Darf man nur bis zu einer bestimmten Zeit Katzen füttern, oder was?“ Ich blickte über die Schulter zu ihm. Er starrte schon wieder in die Büsche. Vielleicht kam ja der Parkwächter.

„Nein, es…“ Justin schien sich sichtlich zu bemühen, ein freundlicheres Gesicht zu ziehen. „Ich … ich möchte dir nur die Fotos zeigen. Ja? Vorne ist eine Bar.“ Und plötzlich lächelte er. Das Lächeln begann ganz langsam in seinen Mundwinkeln. Es war ein wenig schräg, ließ ihn jünger aussehen und sein ganzes Gesicht aufleuchten. Ich hatte Justin bis jetzt nur ernst oder ärgerlich erlebt, nie fröhlich und schon gar nicht freundlich. Ich spürte mit einem Mal wieder diesen Sirenengesang, der lockte, der mich unwiderstehlich anzog, der mich froh und traurig zugleich machte. Mir wurde schwindelig.

„Also?“

Mir fiel auf, dass ich so damit beschäftigt gewesen war, ihn anzustarren, dass ich ihm noch nicht geantwortete hatte. Das Blut schoss mir in die Wangen. Ich glaube nicht, dass ein Mensch noch roter werden kann, als ich es wurde.

Justin nahm mir den Korb aus den Händen, als wäre es ganz selbstverständlich, dass er ihn trug. Er schien es plötzlich eilig zu haben.

Die Sonne hatte den Park zum Leben erweckt. Hunde mit ihren Besitzern an der Leine schnupperten über die Wiese, ein Opa schlurfte mit seiner Zeitung zu einer Bank und eine Gruppe dunkelhäutiger Immigranten sammelte sich scheu und lautlos dort, wo die Sonne auf die Mauer traf. Verkehrslärm klang als ferne Brandung herüber. Die Katzen waren wie ein Spuk verschwunden.

Justin deutete auf eine Bar, vor der ein paar alte Männer standen und rauchten.

Drinnen war es ruhig. Mein Wasserglas hinterließ einen feuchten Ring auf der blanken Platte des Tischchens, es fiel mir schwer zu trinken, denn meine Hände zitterten. Justin hatte sich einen Espresso geholt. Die Tasse stand unberührt vor ihm. Er sah auf einmal wieder kalt und abweisend aus und starrte an mir vorbei aus dem Fenster. Ich saß ihm schweigend gegenüber. Mir fiel nichts ein, womit ich die Stille hätte durchbrechen können.

„Ja, also, ich muss …“ Er sprang unvermittelt auf, kramte ein paar Münzen aus seiner Jackentasche und warf sie klappernd auf den Tresen. Er murmelte einen Gruß, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Er hatte mich noch nicht einmal mehr angesehen und ich hatte völlig vergessen, nach den Fotos zu fragen.

*

Er: So nah waren ihr die Dunklen schon. Das übliche Katz- und Mausspiel. Deswegen hatten sie sie aus Razburg gehen lassen. Er hatte es sich ja gleich gedacht. Wahrscheinlich steckte irgendein schräger Handel dahinter.

Er hatte einen von denen gesehen, im Park, bei den Katzen. Randor. Er war deutlich auf Selinas Fährte gewesen, hatte unter den Bäumen gestanden und gegrinst. Siegessicher. Die Katzen hassten die auch.

Aber warum regte ihn, Justin, das so auf? Es konnte ihm doch gleichgültig sein. Diese Spiele fanden ständig statt. Eines mehr, eines weniger, was bedeutete das schon.

Trotzdem. Allein bei dem Gedanken, dass einer von denen das Mädchen in die Finger kriegen könnte … Er wusste ja, wie die armen Dinger danach aussahen. Sie taten ihm leid.

Das war wohl Valentinas Verdienst. Mitgefühl. Immer hatte sie ihm mit Mitgefühl in den Ohren gelegen. Wozu brauchte er das? Die anderen Sucher hatten ja auch kein Mitgefühl und die Dunklen schon gar nicht. Darum ging es doch auch gar nicht, oder? Es ging um Schuld, sonst nichts. Jeder kämpfte für sich. Da war Mitgefühl nur hinderlich. Es war so schon alles schlimm genug.

Ganz egal, er wollte einfach nicht, dass die das Mädchen in ihre Fänge bekamen. Nicht, wenn er es verhindern konnte. Obwohl – viel machen konnte er nicht, wenn die irgendeine Abmachung hatten. Und das hatten sie wohl. Wahrscheinlich mit jemandem vom Schloss.

Wie sie ihn heute wieder angesehen hatte. Das Aufflackern von Furcht in ihrem Blick, ganz kurz nur, dann hatte es etwas anderem Platz gemacht. Etwas anderem, das er nicht benennen konnte. Aber er spürte es. Es kam zu ihm wie eine ferne Erinnerung. Es hatte ihn erschreckt und gleichzeitig angezogen. Noch nie war die Versuchung so groß gewesen, das Spiel zu spielen. Zu singen. Für das Mädchen. Er fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, als könnte er damit sein Unbehagen wegwischen. So richtig hatte er sich nie an dieses Singen gewöhnen können, geschweige denn, dass er richtig verstanden hätte, was es war. Beim Gehirnscan konnte man es sehen: eine aktivierte Region nahe dem rechten Schläfenlappen, ein roter Fleck in einem unregelmäßigen, gelben Kreis. Er war in ihm gewachsen, zusammen mit seinem Dasein als Sucher. Man musste sich einfach nur auf ein beliebiges Wesen konzentrieren, um diese seltsame Anziehung, das Singen in Gang zu bringen. Das war das Spiel. Der Effekt war immer wieder verblüffend. Ein leichter Ekel stieg ihm in die Kehle, wenn er sich daran erinnerte, wie sich die Gesichter seiner Gegenüber verändert hatten. Mit dem freien Willen hatte alle Kraft die Gesichtszüge verlassen und die Blicke waren seltsam leer geworden. Er hatte das Spiel nicht oft gespielt, hatte es bewusst vermieden, auch wenn es praktisch war. Er hatte beispielsweise noch nie einen Strafzettel bezahlen müssen. Die Polizisten hatten sich jedes Mal darum gerissen, das Strafmandat im Papierkorb verschwinden zu lassen. Justin kannte es gut, dieses strömende Gefühl der Macht, wenn er andere so manipulieren konnte. Und er wusste, wie gefährlich es war, dem Gefühl nachzugeben. Wie schnell aus einem Sucher ein Dunkler werden konnte. Denn nichts anderes waren die Dunklen: Opfer ihrer Gier nach Macht. Sie waren nur noch von der Idee beherrscht, Abhängigkeiten zu schaffen und sie verloren damit ihr eigentliches Ziel aus den Augen: die Wiedergutmachung ihrer Schuld, die Erlösung von ihrem endlosen … Untot. Die Dunklen waren skrupellos und gefährlich. Und sie waren hinter Selina her. Zumindest einer von ihnen: Randor.

Er, Justin, hatte es dann wirklich getan. Er hatte gesungen. Ganz kurz nur, als er Randor zwischen den Büschen gesehen hatte, und auch nur, um das Mädchen möglichst schnell aus dem Park zu bringen. Er war sich nicht sicher gewesen, wie viele von den Dunklen dort herumhingen und was genau da lief.

Die Anziehung hatte so schnell gewirkt. Wie ihre Augen an seinem Gesicht gehangen hatten. Aber dann war etwas Merkwürdiges passiert: Es war ihr selber aufgefallen. Sie war rot geworden - und im gleichen Moment hatte er sich unendlich geschämt, so mit ihr zu spielen. Und dann kam es: Sie hatte abgeblockt. Er hatte es deutlich gespürt. Als wäre irgendeine Klappe gefallen. Er war mit seinem Singen nicht mehr durchgedrungen. In dem Moment hatte es ihn sogar erleichtert.

Sie war trotzdem mitgegangen.

Dann hatten sie in der Bar gesessen. Ihre ganze Aufmerksamkeit war plötzlich bei ihm gewesen und er – er hatte nicht mehr gewusst, was er tun sollte. Die unvermutete Nähe hatte ihn verwirrt. Er war viel zu lang geblieben. Er hätte gleich gehen sollen, nachdem er sie aus dem Park gelotst hatte. Aber … irgendwie hatte ihm das gefallen, so neben ihr zu gehen, mit ihr zu sprechen … einfach so.

Die Bilder waren fantastisch geworden. Sie hatte sich zwischen den Katzen bewegt, als bestünde eine verborgene Art der Kommunikation zwischen ihr und den Tieren, die sonst niemand hören konnte. Nur sie und die Katzen.

Dunkle Seele Liebe

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