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2. Die Begründung des Verzichtes auf die Beschneidung

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Der beschriebene Verzicht auf die Beschneidung in den heidenchristlichen Gemeinden durch die von Antiochia ausgehende HeidenmissionHeidenmission ist nur verständlich als ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Hierbei sind insbesondere nicht allein christliche Faktoren zu beachten, sondern zugleich sind die Situation des DiasporajudentumsDiasporajudentum und die heidnische Einstellung zum Brauch der Beschneidung wahrzunehmen.

Die Antike kennt eine weit zurückreichende Kritik an der Beschneidung, die in neutestamentlicher Zeit vor allem das Judentum trag (vgl. nur Poseidonios bei Strabo 16,2,35–37; Juv. Sat 14,98; 6,160; Petron. Satir 68,8; Persius Sat 5,184; Horat. Sat 1,9,69).1 Josephus berichtet in seiner Apologie Contra Apionem, er, der Ägypter Apion, spotte über die jüdische Beschneidung (2,13). Josephus hält ihm entgegen, dass ägyptische Priester ausnahmslos beschnitten seien, und er bemüht Herodot, um einen Altersbeweis für die Beschneidung zu führen (1,22). Philo geht in der Schrift De specialibus legibus im einleitenden Kapitel, das in den Handschriften die Überschrift Περὶ περιτομῆς trägt, auf den Brauch der Beschneidung ein, von dem er sagt, er werde von vielen Völkern belächelt. In seinen Ausführungen folgt Philo einer älteren apologetischen Tradition des hellenistischen Judentums, welche die heidnische Kritik schon längst verarbeitet hat. Aber es geht nicht nur um heidnische Kritik. Man hat sich ja auch im Judentum diesbezüglichen reformerischen Vorstellungen immer wieder geöffnet.2 Es war ein Kennzeichen der hellenistischen Reform in Jerusalem zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes, dass von Juden der Epispasmos, die operative Wiederherstellung der männlichen Vorhaut gesucht wurde (1 Makk 1,15; Jos.Ant 12,241). Wiederum Philo berichtet in De mirgatione Abrahami 89–93 von Juden, deren allegorische Auslegung des Pentateuchs den wörtlichen Sinn des Geschriebenen im Sinne eines Zeremonialgesetzes aufhebt, d.h. man hat – einer alttestamentlich-jüdischen Tradition der Spiritualisierung der Kultusbegriffe entsprechend (Jer 4,4; Dtn 10,16; Ez 44,7; 1 QS 5,5.26) – die Beschneidung nur noch allegorisch auf die Beschneidung der Lust und Begierde bezogen. Philo kann sogar in Quaestiones et solutiones in Exodum 2,2 (zu Ex 22,21) sagen, dass der wahre Proselyt jemand ist, der nicht seine Unbeschnittenheit (d.h. Vorhaut) beschneidet, sondern seine Begierden, Freuden und Leidenschaften der Seele.3 Jedenfalls ist auffällig, dass Philo in seiner Apologie der Beschneidung in De specialibus legibus 1,1–11 unter den vier Gründen, die für die Beschneidung sprechen, nicht die Beschneidung als Bundeszeichen erwähnt (anders allerdings in Quaestiones et solutiones in Genesim 3,49).4 Weiß er, dass dieser Brauch „ein Haupthindernis aller ApologetikApologetik gegenüber der griech-röm Welt“ darstellt?5 Die Apokalypse Assumptio Mosis, die um die Zeitenwende zu datieren ist,6 spricht von Juden, die die Beschneidung verleugnen (8,2). Jub 15,33 nennt die Unterlassung der Beschneidung bzw. die reduzierte Beschneidung als Möglichkeit, das Gebot zu umgehen. Die heidnische Umwelt hat diesbezüglich Tendenzen im Diasporajudentum wahrgenommen. Der römische Epigrammatiker Martial (*40 n. Chr.) berichtet zweimal von einem Verdecken der Vorhaut (Epigrammata 7,35, 82). Weitere heidnische Kritik, die aus der Zeit des römischen Beschneidungsverbots stammt, muss hier außer Betracht bleiben.

Eine entscheidende Rolle kommt in dieser Fragestellung natürlich der Praxis der ProselytenProselytenaufnahme im DiasporajudentumDiasporajudentum zu. Bekannt ist die gegen das Ende des ersten nachchristlichen Jahrhudnerts datierte Diskussion in Υεν 46a zwischen Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua, ob für den Stand des Proselyten die Beschneidung oder das Tauchbad notwendig sind.7 Leicht erinnert man sich in diesem Zusammenhang an die aufsehenerregenden Sonderfälle, etwa die Bekehrung des Königs Izates II. von Adiabene durc den jüdischen Kaufmann Ananias, der ihn aus poltischen Gjründen zunächst von der Beschneidung abhält (Jos.Ant 20.34–48), der jedoch durch den gesetzesteuen Eleazar einige Zeit später auf eigenes Begehren hin die Beschneidung übernimmt.8 Im Alltag des Diasporajudentums wird man allerdings eine gewisse Variabilität, die auch die Vernachlässigung der Beschneidung bedeuten konnte, nicht ausschließen dürfen.9 Erst mit der Konsolidierung des rabbinischen Judentums nach dem zeitweiligen Beschneidungsverbot unter Hadrian und im Gegenüber zum Weg des Heidenchristentums erfährt die Beschneidung eine theologische und praktische Aufwertung, die sich vielfach in der rabbinischen Literatur niedergeschlagen hat.10

Die christliche MissionMission in der Diaspora wird in der Regel zunächst das Umfeld der örtlichen SynagogenSynagoge und jüdischen Gemeinden gesucht haben. Hier traf sie jedoch nicht nur auf „Volljuden“ und ProselytenProselyten, sondern vor allem auf die sog. Phoboumenoi, Gottesfürchtige, die von einem offiziellen Übertriff zum Judentum absahen, aber Inhalte des jüdischen Glaubens, etwa die monotheistische, bildlose Gottesverehrung oder ethische Prinzipien jüdischen Lebens anerkannten und sich zu eigen machten. Diese Gruppe ist von derjenigen der Proselyten, die den Übertritt mit der Beschneidung verbunden hatten, zu unterscheiden.11 Es ist zu vermuten, dass es überwiegend Frauen waren, die als Proselyten oder Phoboumenai den Anschluss an die örtliche Synagoge suchten.12 Daher war die Frage der Beschneidung ohnehin nur die Ausnahme.

Nach M. Hengel haben die Hellenisten, die sich der antiochenischen Gemeinde angeschlossen haben, eine vorgängige Praxis des Diasporajudentums fortgeführt, nämlich die Gottesfürchtigen nicht unter Androhung des Ausschlusses vom Heil zur Beschneidung zu zwingen.13 Diese Sicht entspricht einem breiteren Konsens in der Forschung. G. Bornkamm hat bereits gesagt:

„Die Mission der Diasporasynagoge verfuhr nach einigermaßen liberalen Grundsätzen und begnügte sich damit, die ‚Gottesfürchtigen‘ aus der heidnischen Bevölkerung, die sich zur Gemeinde hielten, auf das monotheistische Glaubensbekenntnis, ein Minimum von rituellen Geboten […] und auf die sittlichen Grundforderungen des Gesetzes zu verpflichten, ohne ihnen jedoch die Beschneidung und damit den Eintritt in den Stand des als volles Glied des jüdischen Volkes geltenden ‚Proselyten‘ zuzumuten“.14

Wenn die Bedingungen des Übertritts für den ProselytenProselyten im ersten Jahrhundert n. Chr. bereits relativ fixiert waren – Beschneidung, Tauchbad, Opferdarbringung15 –, dann hätte die heidenchristliche Mission in Hinblick auf die Phoboumenoi die Beschneidung nicht gefordert, die Taufe jedoch in zunehmend verchristlichter Interpretation und die Gabe, die möglicherweise mit der paulinischen KollekteKollektenaktion in einem Zusammenhang steht,16 zur Geltung gebracht. Die Anforderungen an die Phoboumenoi zur Konversion wären gleichsam minimalisiert und letztlich auf den Glauben an Gott in Jesus Christus konzentriert worden. Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum wäre also denkbar gewesen auf der Grundlage von Phoboumenoi, die als judaisierte Heiden der christlichen Mission am ehesten zuneigten.

Freilich ist die Notwendigkeit der Beschneidung innerhalb des Judentums nur vereinzelt in Frage gestellt worden. Liberalere Einstellungen, auf die Philo und Josephus sich beziehen (s.o.), haben nach unserer Kenntnis das Beschneidungsgebot wohl im Einzelfall umgangen, aber doch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die hellenistische Reform z.Z. des Antiochus IV. Epiphanes ist durch die Makkabäer wirksam zurückgewiesen worden. Es müssen daher für die Entscheidung der von Antiochia ausgehenden Mission zusätzliche Argumente beigebracht worden sein, um den Zustand des Beschnittenseins bzw. Unbeschnittenseins für indifferent zu erklären.

Betrachten wir erneut die drei Formeln aus antiochenischer Tradition. In 1 Kor 7,19$1Kor 7,19 und Gal 5,6$Gal 5,6 wird die Abwertung des Zustandes des Beschnittenseins mit einer veränderten Gewichtung innerhalb der Tora vorgetragen. Eben nicht dieser Aspekt des Zeremonialgesetzes gilt etwas, sondern das Beachten der ἐντολαὶ θεοῦ. Ja das Beschneidungsgebot wird faktisch aus den „Geboten Gottes“ ausgeklammert, da es ihnen gegenübergestellt wird. Es wird hiermit die Einheit der Tora aufgespalten. Verstehen wir Gal 5,6 als einen Kommentar zu dieser Stelle, so ist deutlich, dass jetzt das Liebesgebot die ἐντολαὶ θεοῦ zusammenfasst. Es ist hier bereits angelegt, was in der paulinischen Theologie eine klare Explikation erfährt: Das Liebesgebot ist die entscheidende Zusammenfassung der Tora, auf die die heidenchristliche Gemeinde verpflichtet wird.17 Hierin folgt die heidenchristliche Mission Vorgaben des hellenistischen Diasporajudentums, wenn auch die Antithese gegen die Beschneidung (als Teil des Zeremonialgesetzes) hier so nicht zu vernehmen ist.

Diese Antithese aber gilt es zu erklären. „Antiochia stolpert nicht zufällig ins Heidenchristentum. Nein, es vollzieht, theologisch durchdacht, einen folgenschweren Schritt, nämlich die Lösung vom Judentum“.18 Die dritte Formel der antiochenischen Gemeinde, die Paulus in Gal 6,15$Gal 6,15 zitiert, stellt in ihrer Antithese dem Zustand des Beschnitten- bzw. Unbeschnittenseins den Begriff der καινὴ κτίσις gegenüber. Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu erweisen, ob es Paulus war, der an dieser Stelle den Begriff der NeuschöpfungNeuschöpfung in die Antithese eingetragen hat, oder ob er die Antithese insgesamt so aus der Tradition der antiochenischen Gemeinde übernommen hat. Für die letztere Annahme spricht, dass der Begriff bei Paulus nur hier und in 2 Kor 5,17$2Kor 5,17 verwendet worden ist, also eher am Rand der paulinischen Sprache steht. Dieser schmale Befund macht die Erklärung dessen, was der Begriff besagt, nicht leicht. Die Arbeit von U. Mell19 hat von daher mit Recht die Traditionsbildung des FrühjudentumsFrühjudentum20 als Interpretationshilfe herangezogen und gezeigt, dass hier gleichfalls der Begriff in antithetischer Verwendung, in kosmischer Ausweitung, in eschatologischer Akzentuierung, in soteriologischer Ausrichtung und in begrifflicher, nicht metaphorischer Fassung erscheint. Dieser weitgehenden Kongruenz steht ein Unterschied gegenüber: In (1 Kor 7,19; Gal 5,6 und) 6,15$Gal 6,15 ist die Wirklichkeit der Neuschöpfung radikal präsentisch gedacht, nicht aber mehr Gegenstand zukünftiger Erwartung. Die Interpretation der Gegenwart als Zeit der Neuschöpfung gründet – was jedoch auf der Ebene der paulinischen Redaktionsstufe erst ganz deutlich erkennbar ist – im Blick auf Christus. Daher heißt es da, wo die antiochenischen Traditionen in Taufaussagen überführt werden: Alle sind einer in Christus Jesus (Gal 3,28$Gal 3,28), wir sind alle in einen Leib hineingetauft worden (1 Kor 12,13$1Kor 12,13), alles in allem ist Christus (Kol 2,12$Kol 2,12). 2 Kor 5,17 benennt Christus als den heilvollen Ort nach der eschatologischen Wende. Schon in Gal 5,6 ist dieses „in Christus“ zur Begründung des Verzichts auf die Beschneidung genannt, und es hat von hier aus wohl auch nachträglich Einzug in die HSS zu Gal 6,15 gefunden. So sind es wohl schöpfungstheologische, am Begriff der καινὴ κτίσις hängende Überlegungen, zum anderen christologische Gründe, die zu einer Antithese gegen eine Wertigkeit des Standes der Beschnittenheit bzw. Unbeschnittenheit geführt haben. Dass mit der TaufeTaufe „in Christusin Christus“ hinein im hellenistischen Christentum der Ort gefunden wurde, der beide Begründungen in sich vereinte und von daher den Akt der Beschneidung überflüssig machte, ist evident, allein ist es problematisch, diese Inerpretation bereits für die frühe Zeit der antiochenischen Mission zugrunde zu legen. Die schöpfungstheologische Kritik an der vorgängigen Beachtung der trennenden Differenz zwischen dem Stand des Beschnitten- bzw. Unbeschnittenseins wird in den genannten TauftraditionenTauftradition klar bezeugt, insofern sie sogar die Aufhebung der schöpfungsmäßigen Differenzierung von Mann und Frau ansagen. Ob man zusätzlich Diskussionen in den gemischten Gemeinden zur Frage, weshalb das Judentum vor Abraham, also zur Zeit der Schöpfungsordnung, unbeschnitten war, voraussetzen darf, ist ungewiss, aber nicht auszuschließen. 21 Die christologische Kritik ist in ihrer Begründung schwerer zu fassen. Es ist ja keine notwendige Folgerung, dass das Christusgeschehen den Abrahambund aufhebt. Das Judenchristentum hat diese Konsequenz bekanntlich nicht gezogen. Fraglos aber ist das Christusgeschehen bereits in frühster Zeit als eine nicht partikulare, auf Israel begrenzte, sondern als eine universale, auch Heiden betreffende Wirklichkeit verstanden worden.22 Die Notwendigkeit eines unterscheidenden Zeichens zwischen Israel und den Völkern war hinfällig geworden. Was BundBund ist und wer dazugehört, wird nicht über den Beschneidungsbund definiert, sondern über die Christuszugehörigkeit. Beide Begründungen stehen einem Festhalten des Beschneidungsgebots kritisch gegenüber. Dennoch wird auch hier anzunehmen sein, dass das Gewicht des Faktischen, nämlich die Existenz unbeschnittener Christen erst im Vorfeld des und im Anschluss an den Apostelkonvent, nachträglich nach Begründungen des neuen Verhaltens hat suchen lassen. Die Existenz des Judenchristentums erinnert beständig daran, dass dieser Weg nicht zwingend war.

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