Читать книгу Psychologie. Eine Einführung - Gillian Butler - Страница 12

[32]Das Verfahren der Sinneswahrnehmung

Оглавление

Einer der grundlegendsten Vorgänge sinnlicher Wahrnehmung besteht darin, Objekte von ihrer Umgebung zu unterscheiden. Werfen Sie einen Blick auf den Rubin’schen Becher (Abb. 5). Sie werden entweder einen Pokal oder zwei Silhouetten sehen, aber nicht beide Bilder gleichzeitig. Wenn Sie auf den Pokal blicken, verschwinden die Silhouetten, doch wenn Sie die Silhouetten als Figuren sehen, dann wird der Pokal zum Hintergrund.


Abb. 5: Rubin’scher Becher

Ein weiteres Verfahren versetzt uns in die Lage, wichtige Dinge vor weniger wichtigen Dingen wahrzunehmen: In Abb. 6 sehen wir H vor S, obwohl beide gleich gut sichtbar sind. Das Gehirn entscheidet also ebenso wie unsere Augen darüber, was wir sehen, und die beteiligten Verfahren scheinen dazu ausgebildet zu sein, die Eindrücke unserer Sinne zu entwirren. Psychologen vertreten die Hypothese, dass dieses Verfahren mehrere zentrale Schritte umfasst. Sinneseindrücke (Sensationen) werden an das Gehirn weitergeleitet, welches dann bereits bestehendes Wissen benutzt, [33]um ein Modell dessen, was wahrgenommen wurde, zu konstruieren: »Das könnte Jane sein.« Das Modell sagt uns, was wir zu erwarten haben, und befähigt uns dadurch, Vorhersagen zu treffen (z. B. darüber, wie Jane aussieht, geht und wie ihre Stimme klingt). Zutreffende Vorhersagen bestätigen unsere Erwartungen, während unzutreffende Vorhersagen neue Informationen zur Verfügung stellen, die das innere Modell aktualisieren. Dieser Vorgang läuft weiter, kontinuierlich unsere Wahrnehmungen verfeinernd und aktualisierend (»Oh, es ist Jane, aber sie sieht jetzt älter aus«), während Sinneseindrücke und Erwartungen zusammenwirken, um uns Schlussfolgerungen über die Welt zu liefern. Diese Abläufe geschehen die ganze Zeit, doch werden wir uns ihrer am leichtesten dann bewusst, wenn wir mit Wahrnehmungsschwierigkeiten konfrontiert sind, wie etwa im Falle der Wahrnehmung einer uneindeutigen Gestalt oder einer Illusion, oder auch dann, wenn bedeutungsvolle Signale wie im Falle von Jane unklar oder unbeständig sind. Normalerweise geschieht dies alles, ohne dass wir mehr darüber wissen als die daraus resultierende »Illusion«, in direktem Kontakt mit der externen Realität zu stehen.


Abb. 6: Erst sehen wir H, dann S.

Eine ebenso interessante wie umstrittene Theorie über die Funktionsweise des Gehirns besagt, dass es eine Form der Bayes’schen Inferenz verwendet. Das Bayes’sche Theo[34]rem wurde erstmals 1763 der Öffentlichkeit präsentiert, blieb dann aber für mehr als ein Jahrhundert unbeachtet. Es ermöglicht uns, den Wert eines neuen Stücks Information im Kontext der aktuellen Erwartungen oder Überzeugungen genau zu messen, und liefert eine rechnerische Grundlage für die Annahme, dass sinnliche Wahrnehmung ein Produkt jener Schlussfolgerungen ist, die wir ziehen, wenn wir sensorische Information mit vorhergehendem Wissen kombinieren (in diesem Falle also vorheriges Wissen über Jane ergänzt um Wissen über subtile Zeichen des Alterns).

Dieses Modell geht davon aus, dass das, was wir wahrnehmen, davon abhängt, was wir bereits wissen. Drei Quellen des Wissens könnten hier gemeinsam oder jeweils getrennt beteiligt sein: Lernen (von Kindheit an lernen wir schnell); Wissen, das durch Millionen von Jahren der Evolution biologisch in das Gehirn »eingeschrieben« wurde und daher möglicherweise angeboren ist; sowie eine angeborene Veranlagung dazu, über bestimmte Dinge etwas zu lernen. Wenige Tage alte Babys bevorzugen es, Gesichter anstelle anderer, ähnlich komplexer Reize anzuschauen. Ein bestimmter Teil des Gehirns (die Fusiform Face Area) scheint dazu vorprogrammiert zu sein, Wahrnehmungen von Gesichtern zu verarbeiten. Gesetzt den Fall, dass wir erwarten, ein Gesicht zu sehen, es aber noch nicht in unserem Blickfeld aufgetaucht ist, kann in diesem Teil des Gehirns neuronale Aktivität nachgewiesen werden. Dasselbe geschieht auch dann, wenn wir uns nur vorstellen, ein Gesicht zu sehen. Es könnten dann alle drei Vorgänge beteiligt sein. Sehen Sie sich nun das Bild der zwei Dominosteine in Abb. 7 an. Sie werden fünf konvexe Stellen sowie eine konkave im obersten Stein sehen, während im untersten Stein [35]nur zwei konvexe Stellen zu beobachten sind. Drehen Sie aber die Seite kopfüber, und die konvexen Stellen werden sich mit den konkaven vertauschen. Die wichtigste Hypothese in Bezug auf diesen Fall fußt auf einer evolutionären Beobachtung als Grundlage: Über Millionen von Jahren entwickelten wir die Veranlagung, zu lernen, dass die Quelle des Lichts (die Sonne) von oben kommt. Deshalb werden konvexe Gegenstände oben hell und unten dunkel sein und wird für konkave Gegenstände genau das Gegenteil gelten. Dieses Wissen, oder diese Regel, bestimmt das, was wir wahrnehmen. Drehen Sie die Seite seitwärts und keine der beiden Interpretationen wird vorherrschen.


Abb. 7: Die Domino-Illusion

Dass wir das, was wir wahrnehmen, sinnvoll ordnen, erfolgt so natürlich und mühelos, dass man kaum glauben [36]mag, welch enorme Leistung es darstellt. Computer können zwar programmiert werden, Schach zu spielen, doch sie so zu programmieren, dass sie selbst nur rudimentäre Wahrnehmungsfertigkeiten besitzen, wie beispielsweise das gesprochene Wort in geschriebene Form zu übertragen, ist weitaus schwieriger. Untersuchungen mit Hilfe von bildgebenden Verfahren im zentralen Nervensystem zeigen, dass manche Zellen mehr auf Bilder von Linien mit einer bestimmten Ausrichtung oder Länge reagieren, während andere Zellen eher einfache Formen oder Oberflächen aufdecken. Werden wir mit solch spezialisierten Detektoren geboren oder entwickeln sie sich erst im Laufe des Lebens? Personen, die blind geboren wurden, jedoch als Erwachsene ihr Augenlicht erlangten (zum Beispiel nach der operativen Entfernung von angeborenen Linsentrübungen), haben große Probleme mit der visuellen Wahrnehmung und machen weiterhin Fehler beim Sehen. Die Vorgänge, die für andere automatisch geworden sind, gehen für diese Personen nach wie vor mit einem gewissen Rätselraten einher, und es bleibt mit Anstrengung verbunden, visuelle Information mit der Information anderer Sinne zu kombinieren.

Um den Prozess des Wahrnehmens zu verstehen, ist es einfacher, den Fokus jeweils auf einen einzelnen Sinn zu richten, doch das Gehirn operiert die meiste Zeit mit gleichzeitig eingehenden Eingangsreizen unterschiedlichster sinnlicher Modalitäten (Sehen und Hören; Sehen, Berührung, Geruch und Geschmack usw.). Die verschiedenen Quellen der Information müssen eingeordnet werden, wenn sie uns eine zusammenhängende, kohärente Repräsentation der Welt, die sich mit der Wirklichkeit deckt, liefern sollen. Diese Quellen schließen Körperempfindungen [37]ebenso wie Informationen der Sinnesorgane mit ein. Dies zeigt uns, dass körperliche Empfindungen und emotionale Zustände ebenfalls eine wichtige Rolle im Wahrnehmungsvorgang spielen. Tatsächlich können wir unmittelbar feststellen, ob wir das Geräusch, das wir hören, oder die Person, die wir kommen sehen, mögen oder nicht mögen, da das Gehirn laufend affektive Vorhersagen tätigt. Selbst bevor wir Jane erkennen, empfinden wir möglicherweise eine Art Wärme – oder Furcht –, während sie näher kommt. In der Tat können wir jegliche Quelle vorhergehenden Wissens dazu verwenden, Vorhersagen über das, was wir wahrnehmen, zu generieren. Dazu gehört auch semantisches Wissen, wie zum Beispiel über sichtbare Zeichen des Alterns. Die Gehirnaktivität, die der Wahrnehmung zugrunde liegt – und möglicherweise Bayes’sche Inferenz gebraucht –, erlaubt es uns daher, Informationen von den unterschiedlichen Sinnesorganen, innerlichen Körperzuständen und von unserem Wissen über die Welt in den Wahrnehmungsprozess einzufügen.

Psychologie. Eine Einführung

Подняться наверх