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Etappen zum neuen Bild der Vorgeschichte

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Wenn im Folgenden der Begriff Vorgeschichte (auch Urgeschichte im Sinne Johann Gottfried Herders oder Prähistorische Archäologie) verwendet wird, so im Sinne von Hermann Müller-Karpe als „vorderer Abschnitt“ der Menschheitsgeschichte und nicht als geschichtsloser Abschnitt vor einer durch Schriftquellen belegten Geschichte. Nachdem die europäische Welt in der Zeit der Entdeckungen, die in einem von ihr dominierten weltumspannenden Kolonialismus gipfelte, in vielen Teilen der bisher unbekannten Welt scheinbar unberührten Völkern mit unterschiedlichem kulturellem Habitus begegnete, begann die neuzeitliche Suche nach den Ursprüngen der Menschheit, besonders nach der Menschwerdung. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein galten aber noch die der antiken und der jüdisch-christlichen Chronologie verhafteten Vorstellungen von einem geringen Alter des Menschengeschlechtes. Dieses schätzte man bis zum 18. Jahrhundert auf nur ca. 4000 v. Chr. Erst im Jahrzehnt zwischen 1850 und 1860 gab es auf mehreren Gebieten einen revolutionären Umbruch, der zum radikalen Umdenken zwang.

Frühe archäologische Funde

Im Winter 1853/1854 sank der Seespiegel im Schweizer Mittelland und gab die Reste auf einstmals dauerhafte Siedlungen frei, die als aus Holz errichtete „Pfahlbauten“ bekannt wurden. Da sie aus vielen Teilen der Welt überliefert sind und zum Beispiel in Südostasien noch heute angelegt beziehungsweise bewohnt werden, galten sie als eine uralte globale Wohnform. Aus dem Feuchtboden wurden vor allem steinzeitliche und bronzezeitliche Funde geborgen, wie Keramik, Stein- und Metallgegenstände, aber auch Reste von organischen Materialien, wie Textilien, Holz und Knochen. Von überragender Bedeutung für die prähistorische Kultur- und Wirtschaftsgeschichte waren jedoch die Belege für frühe Haustiere und Kulturpflanzen im steinzeitlichen Milieu, das Sir John Lubbock (1834–1913) im Jahre 1865 als „neolithisch“ bezeichnete und somit gegen die seit dem Jahre 1832 im nordfranzösischen Sommetal bei Amiens durch den Zollinspektor Jacques Boucher de Crèvecoer de Perthes (1788–1868) gefundenen geschlagenen Steingeräte, darunter die Faustkeile, technologisch und zeitlich abgrenzte, die er „paläolithisch“ nannte. Ihr hohes, „antediluviales“ Alter wurde erst um 1860 anerkannt. Die Entdeckung der „Pfahlbauten“ (heute Feuchtbodensiedlungen) war zugleich die Geburtsstunde der heute blühenden Archäozoologie und Archäobotanik als integrale Bestandteile einer modernen Archäologie im Kontext der historischen Ökosystemforschung.

Von nachhaltiger Wirkung, wenngleich noch über Jahrzehnte umstritten, war die Bergung von urtümlich wirkenden Menschenknochen im Jahre 1856 im Neandertal bei Düsseldorf durch Johann Carl Fuhlrott (1803–1877), die der hinzugezogene Bonner Anthropologe Hermann Schaaffhausen (1816–1893) zugleich als eine frühe Menschenform bestimmte. Der über den möglicherweise fossilen Charakter der Skelettteile entbrannte Streit geriet zugleich in das Fahrwasser der durch Charles Robert Darwin (1809–1882) im Jahre 1859 mit seinem epochalen Werk »On the Origins of Species by Means of Natural Selections or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life« begründeten Evolutionslehre als neuem revolutionärem Paradigma, das die Vorstellung von einer übernatürlichen Schöpferkraft ablöste, wenngleich sie bis heute – und heute wieder verstärkt – als fundamentalistisch-religiös geprägter Neokreationismus oder als intelligent design weiterlebt beziehungsweise offenbar wieder Auftrieb erhält. Wenn Darwins Abstammungstheorie von Pflanzen und Tieren richtig war, musste auch das Lebewesen Mensch den gleichen Gesetzen unterliegen. Das bis zu Darwin weitgehend gültige, von Georges Cuvier (1769–1832) formulierte Dogma, dass es keine fossilen Menschen gegeben habe, war nicht weiter haltbar, denn ab den 1860er Jahren mehrten sich zu viele eindeutig aus eiszeitlichen Befunden stammende Menschenreste in ihrem gesicherten archäologischen Kontext, so dass das hohe Alter der Menschheit wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft zu bestreiten war.

Den vorläufigen Schlussstein bildete die Entdeckung der altsteinzeitlichen Kunst, als man zwischen den Jahren 1860 und 1870 mehrfach auf fossilen Knochen Einritzungen eines in Europa mit der Eiszeit ausgestorbenen Tieres identifizierte und als im Jahr 1879 die achtjährige Tochter Maria des Don Marcelino Sanz de Sautuola die prächtigen naturalistischen Wandmalereien in der Höhle von Altamira (Provinz Santander, Spanien) entdeckte. Sie wurden erst im Jahre 1902 für echt gehalten!

Fossile Funde früher Menschen

Rückzugsgefechte der Gegner der Evolutions- und Deszendenztheorie zogen sich zwar noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hin, aber die weiteren Erfolge der Prähistorischen Archäologie in der Erforschung der frühesten Menschheitsgeschichte, darunter zunehmend weitere Funde früher fossiler Menschenarten, wie vom Homo ergaster/Homo erectus, vom Homo neanderthalensis und vom eiszeitlichen Homo sapiens bewiesen das hohe Alter der Menschheit, das man damals allerdings nur auf ca. 600.000 bis 500.000 Jahre schätzen konnte. Dies war der bis etwa 1960 gültige Forschungsstand. Die Tür in die weitere Tiefe der Menschheit wurde dann auf dem afrikanischen Kontinent, in Südafrika und Ostafrika, aufgestoßen, als man mit den Australopithecinen, die ab ca. 4 Millionen Jahren belegt sind, erste ständig aufrecht gehende menschenartige Lebewesen – berühmt wurde Lucy, eine Vertreterin von Australopithecus afarensis mit einem Alter von ca. 3,8 bis 2,9 Millionen Jahre – und in Ostafrika mit Homo rudolfensis und Homo habilis trotz anhaltender Diskussionen eindeutig den bis dahin bekannten Menschenformen vorangehende Arten auffinden konnte, denen sogar urtümliche Werkzeuge, die aus Geröllen zurechtgeschlagene pebble tools zugewiesen werden konnten. Aus der Gegend von Makaamiltalu in Hadar (Äthiopien) liegt mit 2,3 Millionen Jahren derzeit das älteste gemeinsame Vorkommen von einem Menschenfund und einfachen Geröllgeräten vor, die dem Technokomplex des Oldowan zugerechnet werden (die Referenzschicht aus dem ostafrikanischen Rift Valley, die Schlucht von Olduvai, wurde auf ca. 1,7 Millionen Jahre datiert). Mittlerweile konnten durch den Fund eines menschlichen Unterkiefers vom Malawi-See (von einem ca. 2,5 bis 1,9 Millionen Jahre alten Homo rudolfensis) sowie durch die ältesten von Menschen (vom Homo habilis?) intentional hergestellten Werkzeuge von Gona (Awash-Becken, Äthiopien) der Beginn der Menschwerdung auf ca. 2,6 bis 2,3 Millionen Jahre bestimmt werden. So konnte innerhalb nur eines halben Jahrhunderts das Alter des Menschen um fast zwei Millionen Jahre zurückverlegt werden! Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht abzusehen, denn gerade im ausgehenden Tertiär und beginnenden Quartär gibt es noch riesige Fundlücken in der Überlieferung von fossilen Knochen, deren Füllung in der Lage wäre, die Herauslösung des Menschen aus der Gattung der hominidae, oder populärer gesagt, die Ablösung vom Menschenaffen zeitlich festzulegen. Sie muss nach unterschiedlichen Vorstellungen vor etwa acht Millionen Jahren eingesetzt haben.

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