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Die deutsche Revolution 1918/19

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Christopher Dillon

Am Sonntag, dem 10. November 1918, feierte das einflussreiche liberale „Berliner Tageblatt“ den Sturz von Kaiser Wilhelm II. als „die größte aller Revolutionen“.1 Der Volksaufstand der Soldaten und Zivilisten hatte wie zuvor die Herrscherhäuser in den anderen deutschen Staaten auch die preußischen Hohenzollern abgesetzt. Die politische Macht lag nun bei dem rein sozialistisch besetzten Rat der Volksbeauftragten, den je drei Parteiveteranen der MSPD und der USPD leiteten. Nur eine Woche zuvor, so der Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, Theodor Wolff, gab es noch „einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der so verzweigt, so ineinander verfächert, so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien.“ In Szenen, die an die großen Gemälde der Französischen Revolution erinnerten, war dieser Apparat an einem einzigen Samstagnachmittag hinweggefegt worden. „Niemals zuvor“, frohlockte Wolff, sei „eine so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille in einem Anlauf“ genommen worden.2

Wolffs Einschätzung mag angesichts der nachfolgenden Ereignisse etwas überschwänglich erscheinen. Die deutsche Revolution von 1918/19 sollte nicht nur die Erwartungen ihrer glühendsten Befürworter bald zunichte machen, sondern auch ganze Historikergenerationen enttäuschen, die sich vor allem auf Mängel und verpasste Gelegenheiten fixierten.3 Doch die historische Einschätzung hat sich in jüngster Zeit zunehmend differenziert, und die Historiker tendieren mittlerweile dazu, das Ausmaß der 1918/19 erreichten Veränderungen gebührend zu bewerten. Die deutsche Revolution brachte einen Waffenstillstand, die Republik, eine parlamentarische Demokratie und die erste sozialistische Regierung eines hochentwickelten Industriestaates. Im Vergleich mit der tumulthaften Nachkriegsgeschichte Ost- und Mitteleuropas spielte sich diese Transformation relativ friedlich ab. Der folgende Beitrag bezieht nicht nur diese bedeutenden Errungenschaften mit ein, sondern ist auch ein Plädoyer dafür, besonderes Augenmerk auf die synchrone Dimension des revolutionären Geschehens zu richten, es als ein im Augenblick erlebtes und in seinem Ausgang ungewisses Ereignis zu sehen. In den ersten Novemberwochen des Jahres 1918 bezweifelte kaum eine Zeitung oder ein Kommentator, gleich welcher politischen Provenienz, dass eine wahrhaft historische Revolution stattgefunden habe.4 Die Revolution entfachte die politische Fantasie ihrer Befürworter und mobilisierte über die Grenzen von Klasse, Geschlecht und Generation hinweg. Sie wurde weithin, positiv wie negativ, als ein tiefer politischer, gesellschaftlicher und kultureller Einschnitt erfahren. Eine Einschätzung der Revolution in diesem Sinne muss die Durchdringung der Gesellschaft, die Zerschlagung überkommener Autoritätsmuster, die Erzeugung neuer kollektiver Zugehörigkeiten und Antipathien sowie die komplexe und umstrittene Hinterlassenschaft der Revolution für das Projekt der Weimarer Republik in den Mittelpunkt stellen.

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