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2. Ist Weimar gescheitert? Themen und Fragestellungen jenseits des Krisenparadigmas

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Von 1950 bis 1990 präsentierten aufeinanderfolgende Generationen von Historikern ihre Interpretationen der Geschichte der Weimarer Republik. Bei allen Unterschieden im Detail stimmten sie in einem Punkt überein: Die wichtigste Aufgabe des Historikers sei es zu erklären, wie es zum Versagen und letztendlich zur Zerstörung der Demokratie kommen konnte. Der Historiker Michael Stürmer sprach 1980 in diesem Zusammenhang, ein Wort des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard aufgreifend, von der Geschichte Weimars als einer „Krankheit zum Tode“.28 In einer etwas anderen Formulierung argumentierte Heinrich August Winkler, dass in Anbetracht der Ereignisse des Jahres 1933, die zu „den großen Katastrophen der Weltgeschichte“ zu rechnen seien, die Geschichtsschreibung über Weimar „notwendigerweise immer auch Trauerarbeit“ sein müsse.29 Der amerikanische Historiker Peter Fritzsche läutete mit einem 1996 veröffentlichen Beitrag eine Trendwende ein. „Did Weimar fail?“, „Ist Weimar gescheitert?“, fragte Fritzsche provokativ. Damit rief Fritzsche dazu auf, neue Fragen zu finden und neue Themen zu entdecken. Im Zentrum seines ebenso leidenschaftlichen wie wegweisenden Plädoyers für einen neuen konzeptionellen Zugang stand die Aufforderung, Weimars Geschichte nicht als vorherbestimmt und von ihrem Ende her zu schreiben, sondern als „ergebnisoffen“ zu verstehen.30 Sein Aufsatz wirkte als ein wichtiger Katalysator für bereits allerorten entstehende Überlegungen und zog eine Neubestimmung der Forschung nach sich. Von den vielen neuen Ansätzen, Fragen und Themen, die in direkter oder eher lockerer Bezugnahme auf Fritzsche seit Mitte der 1990er Jahre hervortraten, wollen wir im Folgenden fünf ansprechen.

Zunächst geht es, erstens, um eine Revision unseres Verständnisses der „Krise“ der Weimarer Republik. Der Krisenbegriff ist in Studien über die Weimarer Zeit allgegenwärtig. Gewöhnlich wird er benutzt, um eine Bündelung von Problemen zu beschreiben, die dann zum unaufhaltsamen Niedergang und Untergang der Demokratie führten. Hans-Ulrich Wehlers Verwendung des Begriffs in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Er unterscheidet eine „Krise des Kapitalismus“, eine „Staatskrise“ und eine „Gesellschaftskrise“, in der der charismatische Führer Hitler „die Errettung aus der Existenzkrise“ versprach und damit die ohnehin bestehende „Legitimationskrise“ der Republik weiter verschärfte. Dieses „Krisenknäuel“ besiegelte schließlich das bittere Ende der Republik.31 Was diese und viele andere Verweise auf die „Krise“ Weimars gemeinsam haben, ist die Verdinglichung des Begriffs: Er wird als eine objektive Messlatte verstanden, die immer nur eines impliziert, Niedergang und Verfall. Die kritische Revision dieses Verständnisses der „Krise“ fand auf verschiedenen Ebenen statt. Einige Historiker haben darauf hingewiesen, dass die Rede von „Krisen“ eine narrative Form ist, in der bestimmte Tendenzen des sozialen Lebens zu einer Erzählung verdichtet werden. Bei Kriminalitätsraten, Bevölkerungsstatistiken oder Arbeitslosenzahlen handelt es sich um objektive Daten. Aber sie lassen sich nur dann als Indizien einer „Krise“ verstehen, wenn sie in eine narrative Beschreibung des Verfalls und Zusammenbruchs eingebettet werden. Empirische Studien über Krisennarrative in Deutschland von 1918 bis 1933 haben gezeigt, dass die Zeitgenossen den Begriff „Krise“ häufig verwendeten, aber damit keineswegs stets nur pessimistische Aussichten auf die Zukunft verbanden.32

Im Einklang mit solchen Ansätzen erscheint auch die Semantik des Begriffs „Krise“ in einem neuen Licht. Dem traditionellen Sinn des Begriffs nach, der in der in Weimar oft benutzten Schreibung als „Krisis“ mitschwingt, bezeichnet er einen in seinem Ausgang offenen Moment, in dem Entscheidungen fallen, die zukünftige Entwicklungen festlegen. In seiner grundlegenden begriffsgeschichtlichen Studie über die Bedeutung von „Krise“ im Weimarer Diskurs hat Rüdiger Graf hervorgehoben, wie sehr die optimistische Auslegung des Begriffs und der mit ihm implizierten Erwartungen für die Zukunft diesen Diskurs dominierte. So kehrt Graf die Beschreibung einer durch „Krisen“ zum Scheitern verurteilten Republik um und öffnet den Blick auf etwas, das für die Zeitgenossen offensichtlich war: Sie konnten ihre Zukunft durch individuelles und kollektives Handeln verändern. Ein tiefer, die politischen Lager übergreifender Glaube an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft bestimmte das politische Denken der Weimarer Republik.33 In der traditionellen Geschichtsschreibung über die Weimarer Republik ist die Annahme einer fundamentalen Krise, die unabdingbar zum Niedergang führen musste, zu einer Binsenweisheit geronnen. Graf dagegen stellt fest: „Es ist schwierig, einen prominenten Autor, Politiker, Intellektuellen oder Journalisten der Weimarer Jahre zu finden, der das Wort Krise öffentlich in einer pessimistischen oder gar fatalistischen Weise benutze.“34 Diese Erkenntnisse zur Semantik des Krisenbegriffs in der Weimarer Republik stehen in einem starken Gegensatz zu den Einblicken, die Richard Overy in seiner maßgeblichen Studie über den öffentlichen Zukunftsdiskurs in Großbritannien in den 1920er und 1930er Jahren vermittelt. Sowohl die Diagnosen sozialwissenschaftlicher Experten als auch die öffentlich diskutierten Meinungen von Journalisten, Schriftstellern und Politikern zeigen eine tiefgreifende, angstbesetzte Besorgnis über die Zukunft. Der öffentliche Diskurs im Großbritannien der Zwischenkriegszeit war bestimmt von der Vorstellung, die gesamte Zivilisation befinde sich in einer gravierenden Krise.35 Wenn es ein westeuropäisches Land gab, das um 1930 der Obsession einer zum Niedergang führenden Krise verfallen war, dann war es Großbritannien, und nicht Deutschland.

Ein zweites wichtiges Feld der neueren Debatte bezieht sich auf die Weimarer Kultur. Wenn man von einer zum Untergang verurteilten Republik spricht, so geht damit zumeist die Glorifizierung von Weimars kulturellen Sternstunden einher. Der kulturelle Modernismus in den Metropolen scheint umso heller zu glänzen, je dunkler die politische Geschichte der Republik beschrieben wird. Die prägnante Vorstellung, die jungen, zur Avantgarde gehörenden Berliner hätten mit Jazz und Kokain das Nachtleben gefeiert, während die Nationalsozialisten die Macht an sich rissen, greift bei jedem historischen Jubiläum und in jeder neuen Filmproduktion das irreführende Bild der wilden, goldenen 1920er Jahre wieder auf. Solche Vorstellungen haben auch Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden, und zwar erstaunlicherweise ohne große Korrektur bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts hinein.36 Populäre Fernsehserien wie jüngst „Babylon Berlin“ erschweren folglich mit ihrer einseitigen Fokussierung auf das flamboyante Nachtleben in Berlin eher ein Verständnis der Weimarer Zeit, als es zu befördern.37 In letzter Zeit haben Historiker deshalb mit Recht dazu aufgefordert, den schwarz-weiß gemalten Kontrast zwischen einer „schlechten“ Politik und einer „guten“ Kultur zu überwinden und sich jenseits der Kategorien „Glanz und Verfall“ mit der Weimarer Republik zu beschäftigen.38 Was ist nötig, um unseren Blick auf die Kultur Weimars zu erweitern und uns von dieser problematischen binären Entgegensetzung zu lösen? Wichtig für einen neuen Zugang zur Kultur der Weimarer Republik ist es zunächst, sich von dem Fokus auf eine kleine Auswahl von herausragenden Künstlern und ihren ikonischen Werken zu lösen, also von einer Perspektive, die der Historiker Peter Gay mit seiner zuerst 1968 publizierten Studie begründet hat.39

Wenn wir uns von der Hochkultur wegbewegen, können wir uns auf Felder konzentrieren, die vormals oft übersehen worden sind. Wir brauchen eine kritische und stärker auf die Kontexte fokussierte Geschichte des zeitgenössischen Publikums sowohl für anspruchsvolle wie für populäre Kultur und deren Rezeption. Im Bereich der Literatur ist dafür die Berücksichtigung des Buchmarktes und der Rezeption von Büchern nötig und der Mechanismen, die zur Verbreitung und Rezeption bestimmter Genres und Autoren beitrugen.40 Für den Film gilt dasselbe. So war etwa Fritz Langs Film „Metropolis“ (1927), der in fast jedem Buch über Weimar erwähnt wird, an den Kinokassen ein Flop, der die Ufa an den Rand des Bankrotts führte. Die Bilder einer futuristischen Stadtlandschaft, die der Film zeigt und die heute als eine Ikone der 1920er Jahre gelten, haben die damaligen Kinobesucher ignoriert.41 Auch die vielbetonte Neuheit und Innovationskraft der Kunst in Weimar muss kritisch betrachtet werden. Das Bauhaus kann hier als Paradebeispiel dienen. Denn die Anregungen für das moderne Design und die Architektur seiner Gründer und Befürworter reichen bis zur Jahrhundertwende zurück, nämlich bis zu den Arbeiten des „Deutschen Werkbunds“. Nachdem Walter Gropius, Mies van der Rohe und andere führende Vertreter des Bauhauses in die USA emigrierten, gerieten die Anfänge und Vorläufer des Modernismus in der Architektur in Vergessenheit, nicht zuletzt aufgrund der klugen Selbstvermarktung von Gropius. Bis 1933 war das Bauhaus nur eine und nicht einmal die erfolgreichste der modernen Architekturschulen Deutschlands. Erst nach 1945 wurde es als eine der Ikonen der Weimarer Kultur gefeiert.42 In Vergessenheit geriet dabei im Übrigen auch, dass es in der Dessauer Zeit die von Gunta Stölzl und Lilly Reich geleitete Textilwerkstatt war, die durch die erfolgreiche Vermarktung ihrer Produkte und Designs maßgeblich zum wirtschaftlichen Überleben des Bauhauses beitrug.

Auch im Bereich der Kriegsliteratur lässt sich zeigen, dass beim alleinigen Fokus auf anspruchsvolle Texte in Vergessenheit geraten kann, was das Massenpublikum gelesen hat. Ernst Jünger verfasste mit „In Stahlgewittern“ (1920) ein bahnbrechendes Buch über den Ersten Weltkrieg und prägte eine Metapher, welche die Bedeutung der Fronterfahrung wie keine andere einfing. Obwohl „In Stahlgewittern“ eine zentrale Schrift in Jüngers Werk ist und in vielerlei Hinsicht als das bedeutendste deutsche Buch über den Ersten Weltkrieg gelten kann, war seine Verbreitung bis 1928/29 sehr begrenzt, als Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ das literarische Feld transformierte.43 Bevor die Verbreitung von Remarques Buch alle Rekorde brach, gehörten zwei kurze Pamphlete – ohne literarischen Anspruch und mit Sicherheit nicht zur Avantgarde zählend – zu den massenhaft verkauften Texten über den Krieg. Das eine hatte ein Lehrer verfasst, das andere ein anarchistischer Agitator und Journalist. „Charleville. Dunkle Punkte aus dem Etappenleben“ (1919) von Wilhelm Appens und „Etappe Gent“ (1921/1928) von Heinrich Wandt erreichten innerhalb kurzer Zeit sechsstellige Verkaufszahlen, denn sie legten aus einer linken Perspektive heraus den Finger auf einen Skandal, der viele deutsche Soldaten während des Krieges erzürnt hatte: die moralische Korruption der deutschen Offiziere, die sich im Etappengebiet in sicherer Distanz im Hintergrund hielten, weit entfernt von den Gefahren an der Front.44

Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Weimars Kultur nicht nur aus den Innovationen der Avantgarde bestand. Seit 1900 hatte sich eine kommerzielle Populärkultur entwickelt, zu der Kinos und massenhaft besuchte Sportveranstaltungen ebenso gehörten wie Groschenromane. Technologische Innovationen wie Rundfunk und Tonfilm erweiterten in der Weimarer Zeit das mediale Ensemble der Massenkultur, das nun Film, Radio, populäre Musik und die Tagespresse umfasste und durch Rezensionen, Werbung und die spartenübergreifende Vermarktung vonseiten der großen Medienkonzerne miteinander verbunden war. Für manchen der bildungsbürgerlichen Zeitgenossen repräsentierte das Spektakel der Massenmedien nur „schlechte“ Kultur, kommerzialisiert, ohne jedwede höhere Bedeutung und häufig sexualisiert, während die Kritiker aus dem linken Spektrum über den entpolitisierenden Effekt besorgt waren.45 Aber diese Klagen hatten keinen Einfluss auf die Popularität der verschiedenen Formen der Massenkultur. Populäre Literatur, Filme und andere Formen der kulturellen Massenproduktion müssen in unsere Vorstellungen der Geschichte Weimars eingeschlossen und die Medienlandschaft der Massenkultur sowie ihr Publikum in ihrer ganzen Breite analysiert werden. Darüber hinaus sollten wir das Bild vom „Tanz auf dem Vulkan“, das eine karnevaleske Ekstase als das Wesen der Kultur von Weimar suggeriert, hinter uns lassen.46 Diese Verallgemeinerung geht ganz einfach an den Grundtendenzen der Weimarer Kultur vorbei.

Ein drittes Feld der gegenwärtigen Debatte thematisiert den Ort und die räumliche Dimension der Geschichte Weimars, von der lokalen über die nationale Ebene bis hin zu globalen Verflechtungen. Historiker, die sich mit dem Deutschen Kaiserreich beschäftigen, sehen dasselbe als eine treibende Kraft der ersten Globalisierungswelle, die um 1880 begann. Migration, ein hohes Maß an außenwirtschaftlicher Vernetzung durch Exporte und Importe, die deutschen Kolonien in Afrika, Ostasien und im Pazifik sowie das weltweite Vordringen der deutschen Missionsgesellschaften sind nur einige Beispiele dafür, wie vor 1914 die Ebene des Nationalstaats mit globalen Prozessen verknüpft war.47 Der Erste Weltkrieg wie auch das im Anschluss daran ausgehandelte Friedensabkommen unterbrachen viele dieser Verknüpfungen in der Migration, im Handel und in der transnationalen Kommunikation. Dennoch kann die Zeit nach 1918 in Deutschland nicht einfach als eine Ära der Entglobalisierung bezeichnet werden. Obwohl die Handelsbestimmungen des Versailler Vertrags die deutsche Industrie von wichtigen Exportmärkten abschnitten, schafften es einige Schlüsselindustrien wie die chemische Industrie und der Maschinenbau schon 1929, das Exportvolumen der Vorkriegszeit zu übertreffen.48 Transnationaler Austausch bestimmte nicht nur die Wirtschaft der Weimarer Republik. Viele Industrielle, Gewerkschaftler und Journalisten waren bestrebt, dem Beispiel zu folgen, das die USA oder die Sowjetunion im Hinblick auf Rationalisierung und Gesellschaftsreform zu bieten hatten. Obwohl nur wenige Modelle der Amerikanisierung in der Zeit von 1919 bis 1933 praktisch umgesetzt wurden, zeigte besonders das breite Interesse an den USA als einem Vorreiter der Moderne, dass deutsche Überlegungen zur Reform der Gesellschaft Teil einer transnationalen Debatte waren.49

Ein weiteres Beispiel für intensiven grenzüberschreitenden Austausch ist die professionelle Zusammenarbeit von Experten, zum Beispiel der vielen europäischen Architekten und Stadtplaner, deren Ideen ihre deutschen Kollegen stark beeinflussten. So war zum Beispiel das für das Bauhaus so typische funktionale Design stark geprägt von der holländischen Künstlergruppe De Stijl, dessen Mitbegründer Theo van Doesburg von 1921 bis 1922 am Bauhaus lehrte.50 Transnationalismus war auch ein wichtiger Bestandteil der Friedensbewegung, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen. Für deutsche Pazifisten war es zunächst sehr schwierig, frühere Kontakte mit ihren französischen Gesinnungsgenossen wiederzubeleben, nicht überraschend angesichts der Gräueltaten, welche die deutsche Armee im August 1914 in Belgien und Nordfrankreich begangen hatte. Es gelang jedoch, gegenseitiges Vertrauen wiederherzustellen, und 1927 erhielten zwei der führenden Pazifisten, Ludwig Quidde und Ferdinand Buisson, gemeinsam den Friedensnobelpreis für ihren Beitrag zur deutsch-französischen Versöhnung und den neuen Geist der Verständigung, der 1925 den Vertrag von Locarno ermöglicht hatte.51

Während Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik in den globalen Wirtschaftsaustausch und in transnationale professionelle Netzwerke eingebunden blieb, gab es in zwei Bereichen deutliche Veränderungen: in der Migration und in der Hinterlassenschaft von Imperialismus und Kolonialismus.52 Deutschland war im Kaiserreich buchstäblich eine Gesellschaft in Bewegung, mit einem extrem hohen Grad an Binnenwanderung zwischen und in den Regionen, der Zuwanderung saisonaler Arbeitskräfte und der Auswanderung deutscher Staatsbürger. Zwischen 1880 und 1893, im Zuge der letzten großen Emigrationswelle des 19. Jahrhunderts, verließen 1,8 Millionen Deutsche ihr Land. Die Auswanderung in der Weimarer Republik erreichte ihren Höhepunkt 1923, als 115 000 Deutsche ins Ausland gingen. Insgesamt wanderten zwischen 1919 und 1932 nur circa 600 000 Deutsche aus, die meisten von ihnen zog es nach Nord-, Mittel- oder Südamerika.53

Im Vergleich mit dem Kaiserreich war die Veränderung bei der Einwanderung sogar noch deutlicher. Das Kaiserreich mit seiner florierenden Wirtschaft und kaum mechanisierten Landwirtschaft war in hohem Maße auf den Import von Arbeitskräften angewiesen. Im Jahre 1914 beschäftigte Deutschland rund 1,2 Millionen ausländische Arbeitskräfte. Während des Ersten Weltkrieges vermehrte die zwangsweise Deportation belgischer Zivilisten und der Zustrom von Kriegsgefangenen diese Zahl noch. Das Kriegsende im Winter 1918 veränderte diese Situation völlig. Die meisten Kriegsgefangenen und zivilen Arbeitskräfte kehrten in ihre Heimat zurück, und der republikanische Staat war daran interessiert, die permanente wie auch die saisonale Zuwanderung auf ein Minimum zu reduzieren.54 So gab es 1924 nur noch 170 000 ausländische Arbeitskräfte in Deutschland. Die Arbeitsmarktpolitik der Weimarer Republik war darauf ausgerichtet, inländischen Arbeitskräften Priorität gegenüber jenen aus dem Ausland einzuräumen. Zudem wurden die Grenzkontrollen im Vergleich zu 1914 verschärft. So erreichte die Immigration 1928 mit nur 236 000 ausländischen Arbeitskräften ihren Höhepunkt, von denen zudem etwa 100 000 nur eine zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis für saisonale Arbeit besaßen.55 Gewiss, ungefähr eine Million Deutsche aus den Gebieten, die durch den Versailler Vertrag an Polen und Frankreich fielen, zogen nach Deutschland.56 Außerdem erlebte Deutschland nach dem Sieg der Bolschewiken im Russischen Bürgerkrieg 1920 einen großen Zustrom von russischen Flüchtlingen. Allerdings zogen die meisten von ihnen in andere Länder weiter, und so waren 1925 nur noch 150 000 von ihnen in Deutschland.57 Nimmt man all dies zusammen, so besaß Deutschland während der Weimarer Republik eine sehr viel homogenere Bevölkerung als vor 1914. Ein- und Auswanderung spielten eine deutlich geringere Rolle als im Kaiserreich, und die Zahl der Ausländer war im Vergleich zur Zeit vor 1914 dramatisch abgesunken.

Zwischen 1884 und 1899 hatte Deutschland ein beträchtliches Kolonialreich in Afrika, Ostasien und im Pazifik aufgebaut, dem der Versailler Vertrag 1919 ein schnelles Ende bereitete. Deutschlands Kolonien wurden nach Kriegsende als Teil der Vertragsbestimmungen dem Mandat des Völkerbundes unterstellt. Der Verlust der Kolonien empörte viele Deutsche. Aber nur wenige von ihnen waren bereit, Organisationen beizutreten, die den kolonialen Revisionismus propagierten. Die bedeutendste von ihnen, die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG), erlitt einen Rückgang ihrer Mitgliederzahl von ungefähr 43 000 im Jahr 1912 auf nur 21 420 im Jahr 1933, während die Frauenliga der DKG ihre Mitgliedschaft immerhin auf 24 000 (1932) vergrößern konnte.58 Aber im Vergleich mit den Mitgliederzahlen und der breiten örtlichen Präsenz vieler anderer radikalnationalistischer Verbände hatte der organisierte Kolonialrevisionismus nur marginale Bedeutung. Manche Historiker argumentieren, dass der Blick auf politische Gruppen und Verbände die Bedeutung der ehemaligen Kolonien für die Weimarer Gesellschaft nicht angemessen einfangen kann. Vielmehr gelte es, die Verbreitung „kolonialer Fantasien“ – also kultureller Vorstellungen und Projektionen, die den Wunsch nach kolonialer Herrschaft kommunizieren – zu analysieren.59 Ein Medium für diskursive Repräsentationen dieser „kolonialen Fantasien“ waren die „Afrikabücher“, fiktionale und semibiografische Beschreibungen, in denen der Mythos von den loyalen Askari, den schwarzen Kolonialsoldaten, die ihren deutschen Herren in Treue dienten, den Kern der Erzählung ausmachte. Eine umfassende Untersuchung dieses Genres kommt zu der Einschätzung, dass bis zur Mitte der 1920er Jahre circa 100 Afrikabücher erschienen.60 Auch wenn einige von ihnen Bestseller wurden, muss die Relevanz dieser Publikationen im Kontext des gesamten deutschen Buchmarkts bewertet werden, auf dem allein 1925 rund 6000 Titel Erzählliteratur erschienen.61 Sowohl der Kolonialrevisionismus als auch koloniale Fantasien scheinen die große Mehrheit der Weimarer Zeitgenossen nicht interessiert zu haben.62 Wie dieser kurze Überblick zeigt, sollten die globale Einbettung und die transnationalen Beziehungen Deutschlands in der Zeit der Weimarer Republik nicht überschätzt werden. Sowohl die Nation als identitätsstiftender Raum als auch der Nationalstaat mit seiner Kapazität, das Leben von Millionen zu beeinflussen, hatten von 1918 bis 1933 eine weitaus höhere Relevanz als zur Zeit des hochgradig globalisierten wilhelminischen Kaiserreichs.63

Neben dem Blick auf globale Verflechtungen muss die Geschichte Weimars auch und gerade aus lokaler und regionaler Perspektive betrachtet werden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist die lange Tradition eines starken Föderalismus, die sowohl den Staat als auch die politische Kultur geprägt hat. Zwar führte die Weimarer Verfassung manche zentralisierenden Maßnahmen ein. Aber die Bedeutung regionaler Verschiedenheiten ging über die politische Dimension hinaus. Regionale kulturelle Unterschiede, selbst innerhalb einzelner deutscher Länder, trugen zur Bildung kollektiver Identitäten bei. Historische Traditionen, geografische Besonderheiten sowie kulturelle Sitten und Bräuche verstärkten Gemeinschaftssinn und prägten das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer kleinräumig definierten Heimat.64 Zur Historisierung Weimars ist es nötig, Deutschlands Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in ihren transnationalen, nationalen und lokalen Verflechtungen zu analysieren. Dabei ist besonders die Persistenz der kulturellen Orientierung an der lokalen Ebene, die Prägung Weimars durch die ländliche und kleinstädtische Provinz, stärker zu betonen, als dies bisher zumeist geschehen ist.

Neue Ansätze und Fragen gibt es – viertens – auch im Hinblick auf die politische Dimension der Weimarer Republik. Die konventionellen Darstellungen der Politikgeschichte von 1918 bis 1933 konzentrierten sich auf Entscheidungen, die Eliten und kleine Zirkel trafen, im Reichskabinett, in Parteizentralen und in Hinterzimmern. Im Zusammenhang damit wurde der Einfluss analysiert, den Lobbygruppen wie Industrielle und Arbeitgeberverbände ausübten.65 Aus einer solchen Perspektive geriet nicht nur die Relevanz von politischen Massenorganisationen und organisierten Bewegungen ins Hintertreffen. Auch die soziale Mobilisierung in anderen öffentlichen Bereichen, wie zum Beispiel am Arbeitsplatz, auf der Straße, im Verein oder in der Kneipe am Stammtisch, kam nur selten systematisch in den Blick. Politische Debatten fanden in der Weimarer Republik aber nicht nur in Parlamenten, Ministerien und auf Parteitagen statt. Die traditionelle Historiografie zur Weimarer Republik tendierte auch dazu, die performative Seite des politischen Prozesses, etwa die theatralischen Elemente von Politikerreden, die Zurschaustellung von Flaggen und anderen Symbolen, die visuelle Repräsentation politischer Gruppen entweder als letztlich sekundäre Dekoration der „echten“, realpolitischen Fragen oder als eine manipulative Fassade zu interpretieren, hinter der die machtpolitischen Interessen kaschiert wurden. Beide Perspektiven bleiben der Trennung von performativer Ausdrucksseite und allein relevantem politischem Inhalt treu. Neuere Ansätze in der politischen Kulturgeschichte lösen sich davon und zeigen, dass gerade symbolische Formen das Terrain darstellten, auf dem die politischen Prozesse und der Kampf um Macht tatsächlich stattfanden.66 Einige Aspekte dieses Perspektivenwechsels in der Politikgeschichte sollen hier näher erläutert werden.

Die neuen Ansätze erlauben einen frischen Blick auf das politische System, also auf die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, die der Politik ihren Rahmen geben, und auf die Institutionen, die ihr Rückgrat bilden. Dies ermöglichte eine neue Bewertung der Revolution von 1918/19. Zuvor stand oft das angebliche Scheitern der Revolution im Mittelpunkt. Heute wird die im November 1918 anhebende Umwälzung eher als durchaus erfolgreiches Beispiel einer zivilen Mobilisation gesehen, welche die mächtige Militärmaschine des Kaiserreichs zum Stillstand brachte. Das kollektive Handeln der Massen in der Armee und bei vielen über ganz Deutschland verstreuten lokalen Aufständen trieb die revolutionäre Umwälzung voran.67 Wichtig war auch der von den Revolutionären mit überwältigender Mehrheit getroffene Entschluss, die weitere Arbeit an der von ihnen angestoßenen Transformation durch freie und gleiche Wahlen für Männer und Frauen in eine Nationalversammlung zu überführen. Die Nationalversammlung ihrerseits verabschiedete eine Verfassung, die eine weitreichende Grundlage für fortschrittliche Reformen schuf. Kernstück der neuen Regierungsform war das Volk, auf dessen kollektivem Willen die Macht ruhte, und der Reichstag, auf den es diese durch Wahlen übertrug.68 Eine umfassende Analyse der parteiübergreifenden Integration der Reichstagsabgeordneten durch Rituale und verschiedene Formen symbolischer Interaktion zeigt nicht nur, dass innerhalb des Parlaments bis 1928 eine politische Kultur pragmatischer Kompromissbereitschaft vorherrschte. Zugleich gibt es auch gute Gründe für eine die Rolle des Parlaments im politischen Prozess Weimars stärker akzentuierende Neueinschätzung.69

Die Ansätze der politischen Kulturgeschichte mit ihrem Schwerpunkt auf Massenmobilisierung, performativer Politik und politischer Symbolik haben auch zu einer Neubewertung der Rolle jener Kräfte und Gruppen beigetragen, die mit ganzem Herzen hinter der Republik standen. Die oft wiederholte Aussage, Weimar sei eine „Republik ohne Republikaner“ gewesen, ist ebenso falsch wie langlebig. Journalisten und Autoren der radikalen Linken formulierten dieses Schlagwort schon in den Weimarer Jahren und richteten die darin enthaltene Kritik gegen die SPD, die ihnen nicht entschlossen genug agierte. Aber auch Politiker der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der SPD trugen zu diesem Urteil bei. In Memoiren, die sie im Exil oder nach 1945 verfassten, beklagten sie den Mangel an einer republikanischen Gründungserzählung und die fehlende Kollektivsymbolik der neuen Demokratie, die eine zentrale Rolle für den Niedergang der Republik gespielt hätten.70 Damit wollten sie von jenen Fehlern ablenken, die Liberale und Sozialdemokraten selbst zwischen 1918 und 1933 begangen hatten. Die Weimarer Republik als eine Demokratie zu interpretieren, die zwischen zwei politischen Extremen aufgerieben wurde, und den Republikanern einen nur geringen Handlungsspielraum einzuräumen, den sie dann auch noch falsch genutzt hätten, passte in das Narrativ der angeblich von Beginn an chancenlosen Republik. Neuere Studien haben gezeigt, dass republikanische Inszenierungen, darunter Feste, Gedenkfeiern, Rituale und Symbole, durchaus Beachtung fanden und populär waren. Als Beispiel seien hier die Bemühungen des Reichskunstwarts genannt, der für die republikanische Formgebung des neuen Staates verantwortlich war. Mit den von ihm organisierten jährlichen Feierlichkeiten zur Unterzeichnung der Weimarer Verfassung am 11. August machte er eine neue demokratische Festkultur populär, die über die Hauptstadt hinaus Anklang fand und den Alltag von Millionen von Menschen berührte. Lokale Konflikte wurden mit republikanischen Symbolen, Flaggen, Paraden und Gedenkveranstaltungen ausgetragen und verorteten damit die Republik in den alltäglichen Lebenswelten der Deutschen. Demokratische Symbole dienten nicht nur der Dekoration, sondern waren Kern lokaler Identitätsfindung und markierten die temporäre Besetzung des öffentlichen Raums durch die Demokraten. Die in letzter Zeit gewachsene Erkenntnis, dass deutsche Republikaner und ihre Organisationen, allen voran das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, nicht in der Minderheit waren, sondern eine deutliche Präsenz in der politischen Landschaft der 1920er und 1930er Jahre hatten und leidenschaftlich für die Republik eintraten, hat das Verständnis der Geschichte Weimars grundlegend verändert.71

Populäre Partizipation war in der Weimarer Republik in hohem Maße geschlechtsspezifisch konnotiert. Eine Zäsur bildete die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen durch die Revolution, das zum ersten Mal bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 zur Anwendung kam. Die Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen in Deutschland war progressiver als beispielsweise der Representation of the People Act 1918 in Großbritannien, wo nur Frauen über 30 Jahre wählen durften, die entweder ein Haus oder Grundstück besaßen oder deren Ehemann eines hatte. Das deutsche Frauenwahlrecht war zudem transformativ, denn es verlieh den Frauen Bürgerrechte, die in der Weimarer Verfassung verankert waren, und ermutigte ein dauerhaftes weibliches Engagement im politischen Bereich im weitesten Sinne. Dazu gehörten die Teilnahme an Wahlen und Parteimitgliedschaften, aber auch das Engagement in beruflichen Organisationen und im Alltagsleben, zum Beispiel durch die Beteiligung an politischen Diskussionen.72 Es wäre aber falsch, die neuen Rechte der Frauen als Beleg für ihre Unterstützung eines linken Aktivismus zu interpretieren oder gar Rückschlüsse auf ihre politischen Einstellungen zu ziehen. Bei den Wahlen auf Reichs- und Länderebene bevorzugten Frauen Parteien, die christliche Werte vertraten, wie zum Beispiel die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und das katholische Zentrum.73 Die linken und linksliberalen Parteien, die deutlich größeren Anteil an der Durchsetzung des Frauenwahlrechts hatten, profitierten an der Wahlurne davon nicht. Hätten bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 nur die männlichen Stimmen gezählt, hätten die sozialistischen Parteien SPD und USPD gemeinsam die absolute Mehrheit gewonnen. Betrachtet man nur die Gruppe der jüngeren Männer, die zwischen 1887 und 1898 geboren waren und 1912, bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Krieg, noch nicht wählen durften, wären SPD und USPD wahrscheinlich auf eine Zweidrittelmehrheit gekommen.74

Geschlechtsspezifische Strukturen waren nicht nur bei Partizipationsmustern und parteipolitischer Mobilisation, sondern auch im Hinblick auf Körper und Sexualität von enormer politischer Relevanz. Der Kampf gegen den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches, also die Forderung nach einer Entkriminalisierung der Abtreibung, war einer der beständigsten politischen Konflikte der Weimarer Republik. Er betraf das Alltagsleben vieler Frauen der Arbeiterklasse, von denen alljährlich Hundertausende illegale Abtreibungen durchführen lassen mussten, weil sie keine andere Möglichkeit hatten.75 Auch Vorstellungen und Praktiken von Männlichkeit waren politisiert. Rechte Parteien, besonders die NSDAP und ihr paramilitärischer Flügel, versuchten Maskulinität, die durch das Trauma des Krieges und die Verstümmelung vieler Männer an der Front angeschlagen war, neu zu definieren.76

Die Betonung dieser Neuansätze in der politischen Geschichte bedeutet keineswegs, dass eine Analyse von Interessengruppen und Parteien nicht mehr relevant ist. Sorgfältige Untersuchungen der Verbindungen zwischen Parteiorganisationen, politischen Bindungen und Praktiken auf lokaler Ebene und der Arbeit von Interessenverbänden sind weiterhin von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der Frage, warum die NSDAP die etablierten Parteien der nationalen Rechten erst herausfordern und dann verdrängen konnte.77 Aber die unablässigen Intrigen und Lobbyaktivitäten der radikalen Rechten konnten am Ende nur erfolgreich sein, weil sie sich mit der symbolischen Idee einer wahren „Volksgemeinschaft“ verbanden. Letztlich waren die Nationalsozialisten erfolgreicher als andere Parteien darin, dieses Zukunftsversprechen einer nationalen Gemeinschaft als ihr eigenes Projekt zu reklamieren.

Wichtige Neuansätze gibt es schließlich – fünftens – bei der Analyse der Gründe für den Aufstieg der Nationalsozialisten. Ältere Erklärungen für die Erfolge der NSDAP sind revidiert worden, so zum Beispiel die These, ein „Sieg der Gewalt“ auf der Straße habe den Nationalsozialisten zur Macht verholfen78 und habe zu einem „Bürgerkrieg“ in den letzten Jahren der Republik geführt.79 Tatsächlich war das Ausmaß politischer Gewalt in den Anfangsjahren der Republik, als die Regierung revolutionäre Umsturzversuche der radikalen Linken 1919/20 brutal unterdrückte, ungleich höher als an ihrem Ende.80 Auch die früher populäre Vorstellung, die Weimarer Republik sei zwischen den totalitären Parteien der extremen Linken und Rechten – KPD und NSDAP – zerrieben worden, die sich in ihrer Ablehnung der Demokratie gegenseitig bestärkten, findet keine Unterstützung mehr. Das liegt zum einen an der diesem Argument zugrunde liegenden Totalitarismustheorie, die in dieser Form nicht mehr überzeugen kann. Aber es gibt auch wichtige empirische Gründe, etwa den, dass Kommunisten und Nationalsozialisten nur in wenigen Orten und Regionen des Reiches direkt miteinander konkurrierten und gewaltsame Straßenkämpfe gegeneinander ausfochten.81 Eine andere Lesart erklärt den Erfolg der NSDAP mit dem Verweis auf ihre innovativen Propagandamethoden, die kraftvollen Slogans, die Poster und Reden hochrangiger Parteimitglieder.82 Der Erfolg der Nazipropaganda wird jedoch genauso wie ihr innovativer Charakter überschätzt. Besonders die Effekte großer Massenveranstaltungen lassen sich nicht eindeutig nachweisen.

Weitaus wichtiger für die Gewinnung von Wählern war der intensive Organisationsaufwand der nationalsozialistischen Partei auf lokaler Ebene. Hierarchisch strukturierte Ortszellen, bis hinunter zu Straßenzellen, die nur einige Häuserblocks umfassten, boten NSDAP-Mitgliedern die alltägliche Routine und Praxis einer politischen Organisation, ein Gefühl von Zugehörigkeit und manchmal einfach nur ein warmes Essen. Sie halfen der Partei dazu, sich in sozial höchst unterschiedlich strukturierten lokalen Gemeinschaften zu verankern, und ermöglichten eine rasche Mobilisierung.83 Ein wichtiger Aspekt dieser Vernetzung in der lokalen Sozialstruktur war es, die Akzeptanz und Unterstützung lokaler Meinungsführer zu gewinnen. In eng verflochtenen Dorfgemeinschaften auf dem Land ebenso wie in kleinen Städten machte es einen großen Unterschied, wenn protestantische Pastoren, Dorfschullehrer, Amtsvorsteher oder ortsbekannte Unternehmer sich zur NSDAP bekannten.84 All diese Aspekte lassen sich in einem generellen Argument bündeln, das zuerst am Beispiel der kleinen Universitätsstadt Marburg erarbeitet wurde: Die Nationalsozialisten konnten in höchst unterschiedlichen sozialen Kontexten nicht etwa deshalb Anhänger finden, weil sie diese von außen zu erobern suchten. Vielmehr gelang es ihnen, soziale Netzwerke von innen zu besetzen und schrittweise für ihre Ziele zu gewinnen, indem sie an etablierten Ritualen sozialer Interaktion teilnahmen und diese für sich nutzten, durch die Mitgliedschaft in auf den ersten Blick unpolitischen Vereinen oder durch Gespräche am wöchentlichen Stammtisch in der Kneipe.85

Schließlich ist die ideologische und symbolische Attraktivität relevant, die von der Idee der „Volksgemeinschaft“ ausging. Die meisten politischen Parteien in den 1920er Jahren benutzten diesen Begriff, auch die beiden liberalen Parteien und die SPD. Eine wichtige Ausnahme blieb die KPD, die es – von einem kurzen Kurswechsel im Jahr 1923 abgesehen – ablehnte, die Idee der nationalen Solidarität zu propagieren.86 Aber von allen Parteien gelang es der NSDAP am besten, ihre Vision von einer Erneuerung Deutschlands mit der Sehnsucht nach einer nationalen Gemeinschaft zu verbinden, die alle sozialen Unterschiede und Klassengegensätze zu überwinden schien. Ihre Auslegung der Volksgemeinschaft, die einen starken Führer forderte, erschien als die überzeugendste Lösung für die vermeintlichen Probleme Weimars und lieferte zugleich ein effektives Werkzeug zur Mobilisierung der Wähler.87 Die Betonung der Solidarität der Volksgemeinschaft durch die NSDAP war eng verbunden mit der Ausgrenzung der Juden als Außenseiter, die außerhalb der Volksgemeinschaft standen. Antisemitismus in Wort und Tat war in der Weimarer Republik weit verbreitet, wurde von vielen unterstützt und von den meisten entweder toleriert oder nicht effektiv bekämpft. Die diskursive Verwendung einer Sprache der Exklusion verschob die Grenzen des Sagbaren, wovon radikale Antisemiten profitierten.88 Dem Kampf gegen den völkischen, rassistischen Antisemitismus fehlte es an aufrichtigen, engagierten Unterstützern. So gelang es den Propagandisten des Antisemitismus, sozial höchst unterschiedliche Kreise anzusprechen, was ein wichtiger Grund für den Erfolg der Nationalsozialisten war. Dieser Erfolg basierte nicht allein auf der wirtschaftlichen Depression der späten 1920er Jahre, sondern auf einem komplexen Prozess der politischen Neuorientierung und der Neujustierung politischer Präferenzen, der bereits Mitte der 1920er Jahre einsetzte.89 Die Nationalsozialisten eroberten Deutschland nicht von außen, sondern lebten sich in die Strukturen der kleinstädtischen und ländlichen Geselligkeit von innen ein.

Aufbruch und Abgründe

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