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2. Revolutionäre Mobilisierungen

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„Kein anderes Ereignis in der deutschen Geschichte hat so viele Beteiligte an sich binden und die nationale Bühne so komplett ausfüllen können wie die Novemberrevolution“, urteilt der Historiker Peter Fritzsche.27 Die Revolution erzeugte eine staatsbürgerliche Energie, die die Beobachter in Erstaunen versetzte. Für Ben Hecht, den gut vernetzten Deutschland-Korrespondenten der „Chicago Daily News“, schien jeder Tag so viel Aufregung zu bieten wie „der Vorabend von Präsidentschaftswahlen zuhause … alles drehte sich um Politik, Revolution, Anti-Revolution“.28 Der Tagebuchschreiber Victor Klemperer dachte ähnlich. Die Revolution „war immer da, vom Morgen bis zum Abend“, notierte er.29 Aktivisten wie die umtriebige Toni Sender in Frankfurt arbeiteten rund um die Uhr und gaben ihre Gesundheit für die revolutionäre Sache.30 Erschöpft nach den monatelangen Unruhen, sprach der renommierte Soziologe Max Weber im März 1919 von der „allgemeinen eitlen und vielgeschäftigen Neigung, überall mit dabei sein zu müssen“.31 Die Menschenmengen auf den Straßen zeugten Anfang November 1918 von einer Periode intensiver politischer Mobilisierung und Auseinandersetzung, die über die gesamte Dauer der neuen Republik hinweg ihren Widerhall finden sollten. Die Rätebewegung, entstanden aus den Arbeitskämpfen der Kriegszeit, blühte auf und breitete sich über das gesamte Land aus. Sie nahm dabei beständig neue Formen an und gewann neue soziale Anhängergruppen. In Heidelberg gehörte Weber selbst schon frühzeitig zu den enthusiastisch Mitwirkenden. Die Ausrufung der Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung im Dezember 1918 setzte nimmermüde Kampagnen auf allen Seiten des politischen Spektrums in Gang. Neben den formalen Institutionen des öffentlichen Lebens wurden auch der Alltag und der soziale Raum zunehmend politisiert. In den Stadtzentren wimmelte es von demobilisierten Soldaten, die darauf warteten, dass der Staat ihr Opfer beim Wiederaufbau in der Nachkriegszeit anerkannte. Hoffnungen und Vorahnungen, geweckte und enttäuschte Erwartungen sollten den Kurs der deutschen Revolution massiv und in unberechenbarer Weise beeinflussen.

Anfang November 1918 lag die Macht auf der Straße. Die revolutionären Massen waren die Speerspitze einer populären Mobilisierung gegen Militarismus und Autokratie. Von ihnen gibt es weit weniger Geschichten als von den Scharen, die im August 1914 den Kriegsausbruch mit Jubelstürmen feierten.32 Beeindruckend ist aber die Menge an visuellen Zeugnissen. Die Menschenmengen vom November 1918 waren sozial diversifizierter, und ihr Erscheinen wirkte weniger einstudiert und patriotisch gefärbt. Fotografien und Zeitungsberichte zeugen von organisierten Radikalen, streikenden Arbeitern, Matrosen und Soldaten, Frauen, Teenagern und neugierigen Zuschauern aus allen Bevölkerungsschichten.33 Diese Massen inszenierten die Novemberrevolution als politisches Theater und Spektakel. Unter Missachtung der kriegsbedingten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit eigneten sie sich den öffentlichen Raum an, wobei der Übergang zwischen Beteiligten und Beobachtern fließend und kaum wahrnehmbar war.34 Polizei- und Militäreinheiten legten fast durchgängig deutlichen Unwillen an den Tag, die Menschenmengen zu zerstreuen, was den Zusammenbruch der staatlichen Autorität nur zu gut widerspiegelte. Niemals zuvor in den Jahrzehnten ungestümer politischer Kundgebungen hatten sich Demonstranten so frei bewegt auf der Prachtstraße des Kaiserreiches, Unter den Linden in Berlin. Überall in Deutschland wurden Rathäuser, Polizeistationen, Gefängnisse, Kasernen, Zeitungsbüros, Bahnhöfe und Telegrafenstationen zu Knotenpunkten der Darbietung und Inszenierung der Volkssouveränität. Vor allem aber symbolisierten die Menschenmassen den Sieg einer sozialen Protestbewegung, im Unterschied zum bloßen Transfer politischer Macht auf der Grundlage der Oktoberreformen. Dies erklärt die Beunruhigung, die sie bei dem Rat der Volksbeauftragten, den Nutznießer der Revolution, hervorriefen. Ebert und Scheidemann, die beide die breit gefächerten Institutionen der SPD durchlaufen hatten, bereitete die unberechenbare Politik auf der Straße Kopfschmerzen. In seinem allerersten „Aufruf an die deutschen Bürger“ mahnte Ebert am 9. November: „Verlaßt die Straßen!“35 „Ruhe und Ordnung“ war die Losung der MSPD-Revolution. Dennoch bezog die neue Regierung ihre populistische Legitimität aus der Erinnerung an die Menschenmengen vom November 1918. Die Straße sollte ein entscheidender Ort des politischen Engagements und der Auseinandersetzung bleiben. Die nervösen Medien verfolgten genauestens die Ruhe im städtischen öffentlichen Raum und nahmen sie als ein Barometer für Ordnung oder „Anarchie“.36 Vor allem radikale Linke erkannten dies als eine Möglichkeit, um Druck auf die Regierung Ebert auszuüben.


Abb. 1.1: Die Mitglieder des Arbeiterrates der AEG in Hennigsdorf bei Berlin posieren Ende 1918 für ein Gruppenfoto.

Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnete das Verhältnis zwischen Regierung und Rätebewegung, die ebenfalls Anspruch auf die demokratische Volkssouveränität erhob. Der Rat der Volksbeauftragten begrüßte die am 9. November ausgesprochene Unterstützung des Groß-Berliner Vollzugsrats. Doch insbesondere die drei Delegierten der Mehrheits-SPD hegten tiefes Misstrauen gegen die Rätebewegung, die sie für einen russischen Import und der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung fremd hielten.37 Die Existenz der Räte verschlechterte außerdem die Beziehungen zwischen der MSPD und den bürgerlichen Gruppierungen, die in ihnen bestenfalls eine Verschwendung öffentlicher Gelder und schlimmstenfalls ein Instrument der Leninistischen Klassendiktatur sahen. Die MSPD hatte sich die Einberufung einer demokratischen, verfassunggebenden Versammlung auf ihre Fahnen geschrieben, sobald die Demobilmachung eine solche zuließ, was eine sozialistische Mehrheit eher unwahrscheinlich machte. Aus dieser Sicht schien es kaum plausibel, dass die Räte mehr als ein reines Übergangsinstrument bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung durch die Nationalversammlung sein würden. Jahrzehntelang haben Historiker darüber gestritten, ob dies eine verpasste Gelegenheit für die junge Republik darstellte.38 So gesehen hätte der strategische Einsatz der Räte möglicherweise eine umfassendere Demokratisierung von Wirtschaft und Verwaltung zur Folge haben können. Diese Debatten haben eine unschätzbare Fülle empirischer Studien nach sich gezogen. Viele von ihnen ergehen sich allerdings in kontrafaktischen Spekulationen, was die synchrone Bedeutsamkeit und Integrität der Revolution von 1918/19 als einem momentan gelebten historischen Ereignis schmälert. Im Folgenden soll die Rätebewegung stattdessen als eine Form revolutionärer Mobilisierung der Zivilgesellschaft gesehen werden.

Als die Revolution am 9. November in Berlin begann, hatten sich bereits in jeder Stadt im Westen Deutschlands und bis weit in den Süden hinein Arbeiter- und Soldatenräte gebildet.39 Besonders aktiv war die Rätebewegung in Bayern, dem zweitgrößten deutschen Flächenstaat. In ganz Bayern reagierten Aktivisten der Arbeiterbewegung enthusiastisch auf die Einladung von Ministerpräsident Kurt Eisner in seiner Ansprache zur Amtseinführung: „Bewahrt die Ruhe und wirkt mit an dem Aufbau der neuen Welt!“40 Eisner, risiko- und experimentierfreudiger als Ebert, wusste, dass die Revolution Spektakel und charismatische Persönlichkeiten benötigte. Begeistert schwärmte er Theodor Wolff am 22. November vor, die bayerische Revolution sei ein „prachtvolles Schauspiel“.41 Mehr als jeder andere Politiker seiner Zeit begriff Eisner das propagandistische Potenzial der Rätebewegung als eine Inszenierung der Transformation. Er setzte die bayerischen Räte als pädagogische Instrumente einer direkten, substanziellen Demokratie in Szene, welche den schalen Formalismus des „bürgerlichen Parlamentarismus“ ergänzen und letztlich ablösen würden.42 Binnen zwei Wochen nach seinem Triumph in München erreichte die Rätebewegung jede Stadt und wohl auch den größten Teil aller Dörfer und Gemeinden in Bayern.43 In der Provinz kam die Bevölkerung, eingeladen von linken Aktivisten, auf öffentlichen Plätzen zusammen, um in Versammlungen Arbeiterräte zu bilden. Dies wurde manchmal feierlich und sogar mit Musik begangen. Fast immer gab es mahnende Reden, die den historischen Moment mit erhebenden und hymnischen Worten priesen und, typisch für die deutsche Revolution, zu „Ruhe und Ordnung“ aufriefen.44 In einer Abstimmung per Zuruf wählte man die Mitglieder der Räte, die oft Veteranen der Arbeiterbewegung und vertraut mit Gremienarbeit waren. Es muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die Mehrheit dieser ersten Generation der Räte-Aktivisten, selbst derjenigen in Bayern, die schnellstmögliche Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung unterstützte.

In ganz Deutschland wurden kurz nach den Arbeiterräten auch Soldatenräte gebildet, wenn dies nicht schon in örtlichen Garnisonen geschehen war.45 Anders als im Nachbarstaat Österreich, wo die beiden Rätetypen als eigenständige Einheiten erhalten blieben, schlossen sie sich in Deutschland in der Regel zu Arbeiter- und Soldatenräten zusammen. Die Arbeitervertreter der Räte ließen sich in Rathäusern und Bezirksämtern nieder, beflaggten ihre neue Arbeitsstätte mit der roten Fahne und machten sich an die Organisation von Arbeitslosenhilfe und gerechter Lebensmittelverteilung zur Lösung lokaler sozialer Probleme. Die Soldatenräte waren im Gegenzug für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung verantwortlich. Unabhängige Sozialdemokraten und mehrheitssozialdemokratische Aktivisten der Rätebewegung stritten weiterhin hitzig über die Burgfriedenspolitik der Kriegszeit, arbeiteten aber für gewöhnlich kameradschaftlich zusammen, um die noch aus dem Kaiserreich stammenden administrativen Altlasten zu beseitigen.46 Bei ihrem andauernden Kampf gegen das Horten von Lebensmitteln und Schwarzmarktgeschäfte stellten die Räte die Einhaltung der existierenden Richtlinien sicher, wobei sie den Ärger, den dies bei manchen erzeugte, sichtlich genossen. Sie erstellten Listen mit leer stehendem Wohnraum zur Verbesserung der problematischen Wohnsituation in den Städten, deren Bevölkerung zunächst durch die Kriegswirtschaft und danach im Zuge der Demobilisierung stark angewachsen war. Die örtliche Presse publizierte ihre Mitteilungen und Ankündigungen, oft an prominenter Stelle. Der Historiker Francis L. Carsten hat geurteilt, dass diese alltäglichen Aktivitäten der Räte zwar sehr „nützlich“, aber „völlig unpolitisch“ gewesen seien.47 Diese Einschätzung gründet sich auf ein äußerst enges, staatsbezogenes Verständnis des Politischen. Denn die deutsche Revolution bestand aus beidem: fiebernden Aktivitäten von unten und dramatischen Szenen der hohen Politik. Max Weber feierte den staatsbürgerlichen Geist der Heidelberger Arbeiter- und Soldatenräte, die „ihre Sache ganz vorzüglich und ohne alles Gerede gemacht“ hatten.48 Der Topos des unnahbaren wilhelminischen Bürokraten war den Räten ein Anti-Vorbild. Sie boten Sprechstunden an, die von Rat- und Hilfesuchenden förmlich überschwemmt wurden.49 Örtliche Honoratioren und Verwaltungen behandelten sie zunächst äußerst brüsk. Die Eliten der Städte und Gemeinden – angefangen bei gewählten Amtsträgern und Beamten über Offiziere der Armee bis hin zu Priestern, Pastoren und Zeitungsredakteuren – hatten während des Krieges ungeachtet der bedrohlichen materiellen Lage fast überall im Reich die Bevölkerung mit Durchhalteparolen zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen angefeuert. In diesem Sinne war die Rätebewegung von unten eine Fortsetzung der politisierten Friedensbewegung der Kriegszeit. Nach der Auflösung der monarchischen und, wie es schien, auch der militärischen Macht sahen sich diese lokalen Eliten mit der nüchternen Forderung auf Volkssouveränität konfrontiert. Um die in den Städten bisher durch ein restriktives, an Einkommen oder Besitz gebundenes Wahlrecht zementierte bürgerliche Hierarchie aufzubrechen, statteten die Räte neue politische Akteure mit Befugnissen aus. In einer „verkehrten Welt“ übertrugen sich so der Charakter und die Dynamik der lokalen Aufstände gewissermaßen auf die Räte.50 In Hamburg hatte beispielsweise die Regierungsgewalt bisher in den Händen reicher, auf Lebenszeit gewählter Senatoren gelegen, obwohl es in der Hansestadt eine starke Arbeiterbewegung gab. Am 12. November marschierte der neue Arbeiter- und Soldatenrat in den Senat ein und entließ kurzerhand dessen Mitglieder mit vorgehaltener Waffe. Die Senatoren wurden darüber informiert, dass „alle Brücken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit verbrannt“ seien.51

In der Praxis erzwangen die angeschlagenen öffentlichen Finanzen der Stadt Hamburg jedoch bald den Rückzug von einem solchen revolutionären Maximalismus. Der Senat wurde unter Beteiligung von vier Vertretern des Arbeiter- und Soldatenrates mit Vetorecht wieder einberufen. Die Beaufsichtigung anstelle der völligen Beseitigung lokaler Institutionen avancierte bald zu einer häufigen, in ganz Deutschland angewandten Strategie der Räte. Obgleich dies zur Enttäuschung der radikaleren Teile der Rätebewegung beitrug, sollte der politische Symbolismus der Beaufsichtigung nicht übersehen werden. In Frankfurt saß beispielsweise die junge Toni Sender als Delegierte des Arbeiter- und Soldatenrates im völlig überalterten Ältestenrat der Stadt. Sie war außerdem als Vertreterin der USPD in den Frankfurter Stadtrat gewählt worden, dessen während der Kriegszeit meist gähnend leerer Besucherbereich nun oft vor Menschen wimmelte – ein weiteres Zeichen der durch die Revolution hervorgerufenen zivilgesellschaftlichen Aufbruchsstimmung.52 Die Arbeiter- und Soldatenräte konnten im Prinzip aufsässige oder unbequeme Beamte entfernen, doch das Ausmaß der Entlassungen unterschied sich je nach Region erheblich. Der Rat der Volksbeauftragten und die einzelnen Länderregierungen waren bemüht, die öffentliche Verwaltung so wenig wie möglich zu beeinträchtigen und Entlassungen und Amtsniederlegungen auf ein Minimum zu beschränken. Der Kampf war besonders ungleich im konservativen Ostpreußen, wo nur 15 der 105 Landräte aus ihrem Amt entfernt wurden.53 Noch trüber sah es in den Teilen des Rheinlandes aus, die am 1. Dezember 1918 unter den Bedingungen des Waffenstillstands von alliierten Truppen besetzt worden waren. Die militärischen Besatzungsmächte erkannten die rheinischen Arbeiter- und Soldatenräte nicht an. Trotz des vollmundig verkündeten Kriegsziels der Alliierten einer Demokratisierung Deutschlands arbeiteten ihre Offiziere ausschließlich mit Vertretern des wilhelminischen Verwaltungsapparates zusammen. Amerikanische Armeeangehörige beriefen sich darauf, dass ihnen dies Zugang „zu hochkompetenten Beamten“ verschaffe, im Gegensatz zu „Beauftragten der Arbeiterräte, die während der Hysterie der Revolution ausgewählt worden“ seien.54 Die französische Armee, die schon die Arbeiter- und Soldatenräte in Elsass-Lothringen aufgelöst hatte, fuhr ebenfalls einen harten Kurs gegen die Räte in ihrer Besatzungszone. Die Kommunistische Internationale kam zu dem bitteren Schluss, dass „die Alliierten die Revolution in den besetzten Gebieten strangulieren“.55 Die weitreichenden, durch die Furcht vor einem radikalen, „bolschewistischen“ Rätesystem ausgelösten Interventionen der Alliierten blieben während der gesamten Revolutionszeit ein strukturelles Hindernis.

Die deutsche Rätebewegung unterschied sich auch hinsichtlich ihrer organisatorischen Vielfalt von ihrem russischen Vorläufer. Während sich die agrarischen Regionen in Russland nur langsam auf das Sowjetsystem einließen, entstanden in Deutschland in rascher Folge Bauernräte auf dem Land. So bildeten sich in Oberschlesien und Bayern, Regionen, in denen es eine Tradition des bäuerlichen Populismus gab, spontan unabhängige radikale Bauernräte.56 Weit verbreiteter waren allerdings die durch den Bund der Landwirte protegierten Bauernräte, die als konservatives Gegengewicht gegen die städtischen Gewerkschaften und die Arbeiterräte fungieren sollten und die eher defensiv und antidemokratisch eingestellt waren.57 Als stärker engagiert erwiesen sich die in vielen Städten und Gemeinden entstehenden Bürgerräte der Mittelschichten, die bei den wieder auflebenden politischen Auseinandersetzungen die Interessen des Bürgertums vertraten. Ihr Tenor war antisozialistisch, aber nicht unbedingt antirevolutionär. In ihrer Eigenständigkeit gegenüber traditionellen, patrizischen Institutionen der bürgerlichen politischen Kultur hatten die Bürgerräte fast etwas Rebellisches.58 Trotzdem hielten viele Aktivisten der Arbeiterbewegung, für die die Räte kein Privileg, sondern ein Instrument zur Emanzipation darstellten, die Mobilisierung von bürgerlichen Berufsinteressen durch die Bürgerräte für abgeschmackt. Bei einer Ansprache vor dem Plenum der Berliner Arbeiterräte am 19. November warnte der Vorsitzende der Revolutionären Obleute, Richard Müller: „Genossen, seit Euch dessen gewahr! Neben Hausbesitzerräten fehlen nur noch Millionärsräte. Solche Räte brauchen wir nicht.“59

Eine soziale Gruppierung blieb demgegenüber in der Rätebewegung stark unterrepräsentiert: die Frauen. Während des Krieges waren deutsche Frauen als Lehrerinnen, Krankenschwestern, Postbeamtinnen und Straßenbahnschaffnerinnen, aber auch im Wohltätigkeits- und Fürsorgebereich zunehmend sichtbar geworden.60 Selbst wenn man zugesteht, dass Polizei und Bürokratie in ihren Berichten der Beteiligung von Frauen an inneren Unruhen besondere Aufmerksamkeit schenkten, gibt es keinen Zweifel, dass Frauen während des Krieges bei öffentlichen Unzufriedenheitsbekundungen über die soziale Situation die Hauptrolle spielten.61 Frauen standen an der Spitze der in Bedrängnis geratenen deutschen Friedensbewegung und waren sowohl als Streikende und als Gewerkschaftsvertreterinnen bei Streiks und Arbeitskämpfen aktiv.62 Die Einführung des Frauenwahlrechts, seit Langem von der SPD gefordert, war zweifellos die wichtigste transformative Maßnahme der Revolution. Mit einem Schlag bekam die im Entstehen begriffene deutsche Demokratie eine neue Wählerbasis mit rund zwei Millionen mehr weiblichen als männlichen Wählern. Am 17. November 1918 hielten der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht und die SPD eine feierliche Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche ab.63 Die ehrwürdige Stätte der Nationalversammlung der Revolution von 1848 signalisierte, dass nun endlich ein emanzipatorisches Ziel der vorherigen Revolution erreicht war. Die sozialistische Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“ jubelte, die deutschen Frauen seien nun „die freiesten auf der Welt“.64 Den Münchner Frauenrechtlerinnen Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg erschien der Aufbruch der Revolution rückblickend wie „ein schöner Traum“, und sie erinnerten sich an „Winterwochen voller Arbeit, Hoffen und Glück“.65 In weiten Teilen konzentrierte sich ihre Arbeit auf die politische Weiterbildung von Frauen als Vorbereitung auf die Wahlen zur Nationalversammlung. Auf Eisners nachdrückliches Eintreten hin richtete das bayerische Ministerium für Soziale Fürsorge ein Referat für Frauenrechte ein. In Braunschweig wurde Minna Faßhauer zur Volkskommissarin für Volksbildung ernannt und war damit Deutschlands erste weibliche Regierungsministerin.66 Die Sozialistinnen Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, herausragende Intellektuelle der radikalen Linken, waren einflussreiche Verfechterinnen einer zweiten, sozialen Revolution. Auf der politischen Rechten propagierten Frauen konservative und maternalistische Werte.67 In den meisten deutschen Ländern waren Frauen bis 1908 von der formalen Politik ausgeschlossen gewesen und wurden nun oft immer noch wie Eindringlinge in eine männliche Sphäre behandelt. Am 19. November riss Heymann die Besucher eines voll besetzten Münchner Bierkellers von den Stühlen, als sie vor Kräften warnte, welche die hart erkämpfte Gleichstellung der Frau wieder zurückdrängen wollten.68 Die Rede der Wissenschaftlerin und Sozialreformerin Dr. Rosa Kempf wurde durch Zwischenrufe unterbrochen, als sie im folgenden Monat als erste Frau vor dem revolutionären Provisorischen Nationalrat Bayerns sprach. Sie berichtete, an Sitzungen teilgenommen zu haben, die regelmäßig in gewaltsamen Auseinandersetzungen endeten, und fürchtete, dass ein Klima der Bedrohung Frauen abschrecken würde, sich mehr an der Revolution zu beteiligen.69 Auch die 37 weiblichen Delegierten der Nationalversammlung erlebten im Februar 1919 einen sehr unterschiedlichen Empfang durch ihre männlichen Kollegen.70 Mit 8 Prozent stellten sie hier immerhin mehr Vertreterinnen als in der vermeintlich radikalen Rätebewegung. Auf dem ersten Reichsrätekongress im Dezember 1918 waren nur zwei der 489 Delegierten Frauen.

Aufbruch und Abgründe

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