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2. Die Inflation: Die stille Vermögensrevolution

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Ab 1923 etablierte sich der Begriff Inflation im breiten Sprachgebrauch, nachdem man zuvor meist von Teuerung gesprochen hatte. Ihre Folgen waren von Anfang an umstritten. Für den Hamburger Bankier Max Warburg war Deutschland „a country divided into three classes of society: one that suffers and goes under in decency; another that profiteers cynically and spends recklessly; and another that writhes in desperation, and wishes to destroy in blind fury whatever is left of a government and a society that permits such conditions“.40 Solche Bilder von zur Schau gestelltem Luxus, besonders der Neureichen einerseits und Armut der großstädtischen Bevölkerung mit verarmten Bürgern, Kriegskrüppeln, Wohnungslosen und Prostitution andererseits waren weit verbreitet und prägen unseren Eindruck dieses Jahres bis heute, genauso wie die Geldscheine mit einem hohen nominalen Wert, der kaum noch ausreichte, um etwas zu kaufen. Aber das war nur die eine Seite der Medaille. Tatsächlich florierten noch bis in die erste Jahreshälfte 1923 nicht nur Industrie und Handel, sondern auch die Künste. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, Kneipen, Cafés, Kinos und Theater waren gut besucht, und Freizeitvergnügen wie Sport und Wandern erlebten infolge des Achtstundentags eine Blüte. Das Geld, das es nicht lohnte für morgen zu sparen, saß locker und wurde schnell umgeschlagen.

Dieses widersprüchliche Bild der Zeit ist bis heute in der Literatur zu finden und hat mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Phänomen Inflation zu tun. Insbesondere Wirtschaftshistoriker haben sich kritisch mit – überlieferten – negativen Beurteilungen der Wirkungen der Inflation auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang die schwierige wirtschaftliche Ausgangslage des Landes nach vier Jahren Krieg ins Gedächtnis gerufen. Die Industrieproduktion lag 1920 nur wenig über der Hälfte und das deutsche Volkseinkommen bestenfalls bei zwei Dritteln der Vorkriegszeit.41 Auch ohne Reparationen waren die aufzubringenden Kriegsfolgelasten enorm. Die Geldentwertung hielt die Wirtschaft in Gang und ging zugleich einher mit einer Vermögensumverteilung. Der Staat hatte zwar Schulden angehäuft, die sich aber infolge der Geldentwertung real, das heißt gerechnet in Goldmark oder in Dollar, verminderten. Am Ende der Inflation waren die öffentlichen Haushalte weitgehend entschuldet. Anders formuliert: Die Geldentwertung hatte wie eine Vermögenssteuer gewirkt, die ein breites Publikum, wenngleich nicht alle im gleichen Maße, aufgebracht hatte.

Ähnlich gestärkt kamen viele Unternehmen aus der Inflationszeit. So betrug das Verhältnis von Nominalkapital im Jahr 1913 zu dem im Jahre 1924 in der Eisen- und Stahlindustrie 100:134, im Bergbau 100:136, in der chemischen Industrie sogar 100:227. Anders sah es im Bereich von Banken und Handel aus, wo das Verhältnis nur 100:30 betrug.42 Industrie, Handel und Bankgewerbe waren also sehr ungleich betroffen; Versicherungen und Banken hatten massiv Kapital verloren. Tausende von kleinen und mittleren Unternehmen in allen Branchen gingen 1924 Bankrott. Die Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion, der Verlust früherer Import- und Exportmärkte ebenso wie die Beschränkungen des Versailler Vertrags stellten für alle Unternehmer eine große Herausforderung dar. Der Schleier der Inflation legte sich über Geschäftsbilanzen, was eine gesicherte Rechnungsführung erschwerte und viele, auch ineffiziente, Betriebe über Wasser hielt, also sogenannte „Inflationsblüten“ hervorbrachte. Unternehmer, die Zugang zum Kreditmarkt hatten, nicht zu konservativ wirtschafteten, in anderen Worten eine Inflationsmentalität ausbildeten, konnten sich bis Ende 1923 zu lächerlich geringen Zinsen mit Geld eindecken, um es später entwertet zurückzubezahlen. Der Ruhr-Industrielle Hugo Stinnes, der seit dem Krieg einen verschachtelten Konzern im Bereich der schwer- und elektrotechnischen Industrie aufbaute, gilt bis heute als skandalhaftes Beispiel dafür, wie sich günstige Finanzierungsmöglichkeiten in Verbindung mit der Entwertung von Schulden wirtschaftsstrategisch nutzen ließen. Tatsächlich gab es eine Vielzahl von oft erstaunlich jungen Unternehmern, viele davon self-made men, die Stinnes in nichts nachstanden.43

Arbeiter, Angestellte und breite Schichten des Bürgertums, darunter Beamte, Ärzte und Rechtsanwälte, waren wirtschaftlich fast alle schlechter gestellt als vor dem Krieg. Dafür waren die Wochen- und Monatslöhne, nicht unbedingt die Stundenlöhne verantwortlich; mit dem Achtstundentag verkürzte sich aber die Wochenarbeitszeit. In einer vergleichsweise günstigen Position befanden sich all diejenigen, die in Gewerkschaften organisiert und in der (groß-)industriellen Produktion tätig waren. Die große Gruppe der Bergarbeiter, die mit der Reichsknappschaft 1923 auch eine eigene privilegierte öffentliche Sonderversicherung erhielt, ist dafür ein Beispiel. Den Gewerkschaften gelang es, für ihre Mitglieder Teuerungszuschläge herauszuhandeln.44 Das hat Historiker dazu bewogen, von einem Inflationskonsens zu sprechen.45 Damit gemeint ist, dass sich so etwas wie eine Inflationsmentalität ausbreitete und sich Individuen, Wirtschaftsgruppen und der Staat mit der Geldentwertung arrangierten.

Ein spezifisches Charakteristikum der Inflation war die Nivellierung von Einkommen, die schon im Krieg einsetzte und sich danach verstärkte. Konkret hieß das, dass sich die Einkommen beispielsweise der besser verdienenden höheren Angestellten und Beamten sowie der Facharbeiter denen der schlechter bezahlten Gruppen annäherten. In allen Berufsgruppen hatten die früher höheren Einkommensgruppen die größten finanziellen Einbußen aufzuweisen. Dabei sticht vor allem in der Nachkriegsinflationszeit wiederum in allen Branchen die vergleichsweise bessere Einkommensentwicklung der Frauen hervor. Gerade Angestellte und Beamte betrachteten diese Nivellierung der Einkommen als eine Form der sozialen und wirtschaftlichen Proletarisierung und als Bedrohung des Mittelstandes, was zweifellos die negative Beurteilung der Inflationszeit erklärt. Diese Nivellierung betraf mehr als jede andere Gruppe die Besitzer von Kapitalvermögen. Es ist eine Binsenweisheit, dass Inflationen Geldvermögen, darunter Sparvermögen, Staatsanleihen, Versicherungen und Stiftungsvermögen, vernichten. Dazu bedurfte es nicht der Hyperinflation.46 Für diejenigen Personen, die von erspartem Vermögen lebten, bedeutete diese Entwertung eine dramatische Form der – stillen – Vermögensenteignung. Die sogenannten Kapitalkleinrentner, darunter sehr viele Frauen, galten den Zeitgenossen als Inbegriff der Inflationsverlierer. Diese Personengruppe war aber nur die Spitze des Eisbergs, denn betroffen waren breite Schichten des Bürgertums, darunter nicht zuletzt bildungsbürgerliche Schichten wie Ärzte, Rechtsanwälte und Vertreter anderer freier Berufe. Der Ökonom und Universitätsprofessor Werner Sombart, der sich wie wenige andere in der Vorkriegszeit einen Namen mit historischen Analysen des modernen Kapitalismus gemacht hatte, verlor infolge von unglücklichen Fehlentscheidungen große Teile seines Vermögens.47 Das provozierte allenthalben Ressentiments. Der liberale Ökonom Moritz J. Bonn meinte rückblickend, die Geschäftswelt habe mit der Inflation „a capitalist variant of communist expropriation“ entwickelt: „They robbed not their class enemies, but the broad mass of their own supporters“.48 Hinter solchen und vielen ähnlichen Äußerungen kann man Verteilungskonflikte und -kämpfe in einer ohnehin nach Klassen, Statusgruppen und politischen Orientierungen fragmentierten Gesellschaft erkennen. Sie verweisen zugleich auf Erfahrungsverluste und veränderte Erwartungshorizonte seit dem Krieg, die regelmäßig einhergingen mit idealisierenden Beschreibungen der „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig),49 also der Zeit vermeintlicher Sicherheiten vor dem Krieg.

Mit Blick auf die Zeit der Hyperinflation konstatieren viele Autoren und Zeitgenossen eine aus den Fugen geratene, „verkehrte Welt“, einen „Hexensabbat der Entwertung“ (Elias Canetti).50 Ein gutes Beispiel ist der Romanist und Tagebuchschreiber Victor Klemperer, der sich trotz seiner lang ersehnten Berufung auf eine Professur in Dresden im Jahr 1920 in den Strudel der Inflation gezogen sah. Seine beständigen Auslassungen im Tagebuch über Geld, wirtschaftliche Schwierigkeiten, eigene, zunächst kleine, dann größere Spekulationsgeschäfte mit Devisen und Aktien, nicht zuletzt sein fast obsessives Schreiben über Essen und Preise, darunter auch Beschreibungen von Exzessen von „Gewinnlern“, erschienen ihm selbst „jämmerlich“ (und verschwanden im Übrigen schlagartig nach der Währungsreform, um dann nach 1930 erneut aufzutauchen). Bei all den täglichen wirtschaftlichen Frustrationen genoss der Wissenschaftler aber auch die kleinen Erfolge eigener Spekulationsgeschäfte, die ihn selbst überraschten und ihm und seiner Frau über die Runden halfen: „Selbst den Schuß Bohème unserer [unsicheren] Lebenshaltung u[nd] die Unsicherheit der Gesamtlage empfinde ich als Reiz und Genuss“, notierte er 1923.51

Wie viele Zeitgenossen bemerkte auch Klemperer, dass sich das Alte nicht länger zu bewähren schien: „Die Zeit ist aus den Fugen“, 52 lautete die scheinbar triviale Formulierung. Sie kann als Metapher für die Erfahrung einer Moderne gelesen werden, in der sich Werte verflüssigten. Dazu zählte das wertlose Papiergeld, das eben nicht mehr auf dem Goldstandard fußte, was unter anderem die viel gescholtenen Inflationsgewinnler mit ihrer Geschäftsmoral auszunutzen vermochten. Die sogenannten Rentiers, die ebenso wie „viele geistige Arbeiter“ – der Ökonom Alfred Weber sprach von „Rentenintellektuellen“ – von ihrem angesparten Vermögen lebten, erschienen als ein Anachronismus in der modernen Erwerbsgesellschaft.53 Neue soziale Leitfigur waren die Angestellten, ihre Freizeitkultur mit Sport, Kino und Weekend. Neue Formen machten sich in allen Bereichen breit. So erlebte die künstlerische Avantgarde gerade in den frühen 1920er Jahren unter den Bedingungen der Inflation eine Blüte.54 Viele ihrer Vertreter mochten den üblichen Kleingeist der alltäglichen Welt des Geldes ins Visier nehmen. Aber auch Kunstwerke, ähnlich wie Aktien, Münzen und andere Wertgegenstände, stießen bei der Flucht in Sachwerte auf große Nachfrage. Künstler wie George Grosz warfen ihre Kunstmappen für jede Käufergruppe passend, signiert oder unsigniert, mit oder ohne Hand-Koloration, auf billigem und auf edlem Papier auf den Markt. Klemperer berichtet über einen Universitätskollegen, der Kunst und Bücher als „seine Dividenden-Anlage“ kaufte und für Hundertausende Mark Bücher auf das Schönste binden ließ, „[a]lles mit Geschmack und Bildung. Aber ein bitteres Gefühl über dieses maßlose industrielle Verdienen bleibt doch unüberbrückbar“. Das war eine Moderne, in der, wie es schien, „everything solid melts into air“.55 Rückblickende Betrachtungen auf die Inflation haben dieses Bild verfestigt.


Abb. 2.2: Dieses Foto von Willy Römer zeigt die Besetzung des Rheinlandes durch französische Posten am Deutschen Eck 1923.

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