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3. Koalitionsbildung und politische Fragmentierung

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Die Einbeziehung der Direktwahlen in die Analyse von Koalitionsbildung und politischer Fragmentierung im Weimarer Deutschland ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Auf diese Weise kommen insbesondere die Ergebnisoffenheit der Weimarer Republik und die Möglichkeit verschiedener, nebeneinander existierender Zukunftsvisionen stärker in den Blick, welche ansonsten oft überlagert werden von den bekannten zeitgenössischen (und auch später noch benutzten) Narrativen einer „überforderten Republik“ oder einer Demokratie, die sich „übernommen“ und zu viele alternative Zukünfte zur Wahl gestellt habe.84 Direktwahlen torpedierten etablierte Parteiallianzen, die Verknüpfung von „hoher“ und „niedriger“ Politik und die eingespielten Strukturen indirekter Repräsentation. Gleichzeitig boten sie aber auch kein hinreichendes, emotional befriedigendes Ventil für politische Unzufriedenheit. Sie bestätigten lediglich die tiefen politischen Gräben innerhalb der deutschen Bevölkerung entlang verschiedener, sich überlappender Achsen. Manche von diesen waren ideologisch, andere parteipolitisch, manche hatten mit dem Krieg zu tun, andere nicht, manche waren national, andere lokal, manche materiell, andere rein symbolisch. Doch keine der plebiszitären Initiativen, nicht einmal der Slogan der Referendumskampagne von 1926 – „das Volk gegen die Prinzen“ – konnte die Republik, und was sie repräsentierte, positiv definieren.

Otmar Jung hat argumentiert, der hohe Anteil an Ja-Stimmen beim Volksentscheid 1926 habe mit einem Schlag den „Tod des monarchischen Gedankens“ in Deutschland gebracht und damit die symbolische Bedeutung – möglicherweise auch die praktischen Konsequenzen – des Hindenburg’schen Präsidentschaftswahlsieges 1925 in gewisser Weise aufgeweicht.85 Dem ist sicher zuzustimmen. Trotzdem lässt sich der Volksentscheid andererseits nicht schlichtweg als eine linkspopulistische, sozial-progressive oder gar prorepublikanische Kampagne bezeichnen. Die Koalition zugunsten der entschädigungslosen Enteignung der Fürsten war einmalig und hochkomplex und stellte keine Grundlage für eine breitere politische Zusammenarbeit oder gemeinsame politische Werte dar. Neben passionierten Republikanern schloss sie auch viele gemäßigte und rechtsgerichtete Wähler ein, die lediglich verärgert über die währungsreformbedingte „Entwertung“ ihrer eigenen Vermögen waren, ganz zu schweigen von denjenigen, die sich bei Parlamentswahlen gewöhnlich enthielten, um ihrer Verachtung gegenüber allen Weimarer Parteien Ausdruck zu verleihen, dies aber bei dieser Direktwahl nicht konnten.86 Mit anderen Worten: Ungeachtet der Erklärungsversuche auf nationaler Ebene von links und rechts, zeigt die Kampagne etwas sehr viel Tiefgreifenderes für ein kulturelles Verständnis der Weimarer Republik, dass nämlich der Versuch, wie Jung es ausdrückt, „die Kombinationen und Aversionen aus dem parlamentarischen Bereich in den plebiszitären Raum zu verlängern“, zum Scheitern verurteilt war.87

Selbstredend gab es neben dem plebiszitären und dem parlamentarischen auch andere „Räume“, die in den 1920er Jahren sichtbare Anzeichen einer sogar noch stärkeren politischen Fragmentierung aufwiesen. Am bedeutsamsten in diesem Zusammenhang war die Sphäre der politischen Gewalt, die ihren eigenen performativen, kommunikativen, räumlichen und symbolischen Regeln folgte.88 Das beste Beispiel für das Wiederaufflammen der Gewalt nach dem Winter 1928/29 waren die äußerst brutalen Gefechte zwischen Linksradikalen und preußischer Polizei in den Berliner Bezirken Wedding und Neukölln vom 1. bis zum 3. Mai 1929, die als „Blutmai“ bekannt wurden.89 Politische Gewalt und Rechtsverletzungen griffen auch auf ländliche Gegenden über: Mitglieder der Landvolkbewegung, eine „Selbsthilfe“-Gruppe unzufriedener Landwirte, die im Januar 1928 in Schleswig-Holstein gegründet wurde und sich von hier auf andere Teile des ländlichen Norddeutschlands ausdehnte, attackierten Steuerprüfer und verübten gelegentlich Bombenanschläge auf Amtsgebäude.90 Sowohl Blutmai als auch Landvolkbewegung waren regionalspezifische Phänomene, doch sie nahmen die allgemeinere Krise der Jahre 1930 bis 1933 vorweg, als verfassungsrechtliche und gesetzliche „Grenzüberschreitungen“ zum Hauptparadigma der Regierungen und zum Daseinszweck (fast) jeder politischen Aktion wurden.91 Bereits vor 1930 spielten diese Überschreitungen eine wichtige Rolle bei der zunehmenden Fragmentierung innerhalb der DNVP und seines ländlichen Bündnispartners, dem Reichslandbund, in einen „gemäßigten“ und einen „extremen“ Teil. Dies machte ein für alle Mal die Hoffnung zunichte, die DNVP möge sich zu einer den britischen Tories ähnlichen Partei entwickeln.92 Grenzüberschreitungen unter den Antifaschisten zementierten die nun fast unüberwindliche Spaltung zwischen SPD und KPD und förderten die Ablösung von Gruppierungen wie der KPD-O von der Kommunistischen Partei. Letztere lehnte die harte Linie des KPD-Vorsitzenden Thälmann gegenüber der sozialdemokratischen „Linken“ und den Freien Gewerkschaften ab, teilte aber dessen Überzeugung, dass die zukünftige Revolution nur durch den „bewaffneten Aufstand des Proletariats“ und einen „erbitterte[n], grausame[n] Bürgerkrieg“ zu erreichen sei.93

Doch all dies führte keineswegs unweigerlich in die staatspolitische Sackgasse der 1930er Jahre oder zu einem vollständigen „Scheitern“ der Weimarer Verfassung.94 Das schlechte Abschneiden der Kampagne gegen den Young-Plan beim Volksentscheid 1929 ist ein deutliches Zeichen für die selbst zu dieser Zeit noch bestehenden Grenzen der außerparlamentarischen radikal-nationalistischen Mobilisation. Das massenhafte Schwenken der republikanischen Flagge, wie beispielsweise im August 1930 bei den öffentlichen Feierlichkeiten zum endgültigen Abzug der Alliierten Truppen aus dem Rheinland, zeugt demgegenüber von der prorepublikanischen Haltung eines großen Bevölkerungsteils.95 Die Unterstützung der extremen Linken war keineswegs flächendeckend und beschränkte sich auf bestimmte Regionen. Der größte Teil der deutschen Arbeiterklasse stand weiterhin hinter der SPD, selbst nach den Enttäuschungen über die Große Koalition und die anschließende Tolerierung des Brüning’schen Sparkurses durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Im Oktober 1928 vermeldete die Bezirksleitung der hessischen KPD in einem geheimen Bericht, linksgerichtete Fabrikarbeiter in Frankfurt und Offenbach hätten zwar mit Enttäuschung über die Unterstützung der sozialdemokratischen Minister für den Bau des Panzerkreuzers A reagiert, doch könnten sie „diesen einen Fehler verzeihen“ und seien nicht für die kommunistische Sache zu gewinnen.96 Während des Jahres 1929 blieben Visionen einer republikanisch-demokratischen Zukunft weiterhin stark, und die Stimmung im Bürgertum Anfang 1930 ähnelte der 1923/24, als die pragmatische Auffassung dominierte, der Zusammenbruch der deutschen Währung müsse nicht auch den Zusammenbruch der Verfassung bedeuten. Bis zum Wahlerfolg der Nationalsozialisten im September 1930 war die politische Hauptalternative zur sozialen Demokratie, wie McElligott argumentiert, eine „auf konservativer und traditionaler Macht basierende Stabilität“97, eine Stabilität, die viele Deutsche und Politiker in den Jahren von 1924 bis 1930 anstrebten, auch wenn sie nicht vollständig erreichbar war.

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