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3. Weitere Formen der Volksvertretung: Föderalismus und direkte Demokratie

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Die zentrale Spannung im Weimarer Verfassungssystem lag im Verhältnis von Reichspräsident und Parlament – zwischen einheitlicher Exekutive und pluralistischer Parteipolitik oder, wie die Kritiker des Reichstags es ausdrückten, zwischen Aktion und endloser Debatte. Zwei weitere die staatliche Organisation betreffende Aspekte der Verfassung verdienen ebenfalls Beachtung: Föderalismus und direkte Demokratie. Beide gingen aus dem revolutionären Umbruch von 1918/19 hervor. Bei der Revolution ging es grundlegend um Föderalismus. Das alte Regime ergab sich aus einem Vertrag zwischen den Machthabern der einzelnen deutschen Staaten, die meisten von ihnen Erbmonarchen. Ein wichtiger Zweig der vorrevolutionären deutschen Verfassungstheorie betonte die ursprüngliche und fortbestehende Souveränität der Staaten im Kaiserreich. Die deutsche Verfassungswirklichkeit sah mit der faktischen Zentralisierung der militärischen Führung in Preußen schon vor dem Krieg und dem Aufbau zentralisierter Verwaltungsstrukturen sowie der Gesetzgebung nach 1890 freilich anders aus. Der Erste Weltkrieg beschleunigte diese Zentralisierungstendenzen.28 Die Logik der Revolution schien den Souveränitätsansprüchen der Bundesstaaten entgegenzuwirken. Doch nun nahm die deutsche Bevölkerung für sich in Anspruch, den neuen Zentralstaat zu bilden. Zumindest ging Preuß davon aus, dass die revolutionäre Nation die Länder auf rationalere Weise neu ordnen und zum Beispiel Preußen, das durch sein Militär, sein riesiges Staatsgebiet und seine Bevölkerungsstärke das Kaiserreich dominiert hatte, zerteilen würde.29

Die Monarchen der ehemaligen Bundesstaaten waren während der Revolution zur Abdankung gezwungen worden. Nach der Revolution blieb allerdings die Idee der Länder – niederstufige, demokratisch gewählte Einheiten mit eigenen Regierungs- und Verwaltungssystemen – bestehen. Preuß hatte nicht mit der dauerhaften Macht ihrer Verwaltungsapparate gerechnet, die nicht aufgehört hatten zu funktionieren. Mit dem Misstrauen der Bevölkerung der einzelnen Länder gegenüber Plänen, Teile ihres Landesgebiets an andere Länder abzutreten oder ein neues Land zu gründen, hatte er ebenso wenig gerechnet. Und nicht zuletzt überraschte ihn das Beharren der Landesregierungen, sei es der radikalen Linken oder der autoritären Rechten (im Falle Bayerns gab es beides!), auf den verfassungsmäßigen Rechten der Länder. Die Länder hörten auch nach dem Ende der Monarchien nicht auf, Orte der politischen Identifikation zu sein. Ihre Grenzen blieben bis auf wenige Ausnahmen die gleichen wie im Kaiserreich.30

Gleichzeitig schränkte die neue Verfassung die Kompetenzen der Länder drastisch ein.31 Sie verlangte von jedem Land eine demokratische Verfassung, die ebenso wie die Verfassung der Republik (Art. 17) auf dem Grundsatz des Verhältniswahlrechts beruhte und sicherstellte, dass die Länder nicht weiterhin bestimmte gesellschaftliche Gruppen vom Wahlrecht ausschließen, eine Monarchie aufrechterhalten oder eine Diktatur errichten konnten. Alle Länder führten ein Einkammersystem ein, in dem der Landtag die Regierung wählte (das heißt ohne ein direkt gewähltes Staatsoberhaupt). Die Weimarer Verfassung gewährte keinem Land besondere Privilegien als Bedingung für dessen Beitritt, wie es 1871 bei den Verhandlungen zur Schaffung eines vereinten Deutschlands in einigen Fällen geschehen war. Anstatt die den Ländern vorbehaltenen Gesetzgebungsbereiche aufzuzählen, führte die Verfassung nun die Gesetzgebungsbefugnisse auf Reichsebene auf und bekräftigte den Grundsatz „Reichsrecht bricht Landrecht“ (Art. 13). Während die Länder weiterhin sowohl Gesetze erließen als auch anwendeten, räumte die Verfassung den Reichsorganen eindeutig das Recht ein, zur Vereinheitlichung der deutschen Rechtsordnung zu intervenieren, Reichsgerichte zu schaffen und direkt zu verwalten, darunter auch einen neuen Staatsgerichtshof, der über Konflikte zwischen Reich und Ländern entschied (Art. 14, 103, 107, 108).

Die eingeschränkte Autorität der Länder zeigte sich im neuen Reichsrat, der den alten Bundesrat ablöste. Der Reichsrat war eine Art Versammlung von Beamten, welche die Weisungen der einzelnen Landesregierungen ausführten.32 Um zu verhindern, dass Preußen den Reichsrat dominierte, bestimmte die Verfassung, dass kein Land mehr als 40 Prozent der Gesamtdelegierten benennen durfte und dass die Hälfte der preußischen Delegierten von preußischen Provinzialverwaltungen benannt werden musste (Art. 61, 63). Die politische Rolle des Reichsrates war stark begrenzt. Er war im Kern eine administrative Institution, deren Recht zur Ausübung eines aufschiebenden Vetos bei der Reichstagsgesetzgebung (Art. 74) eher dazu diente, den Reichstag zu behindern, als zur Gesetzgebung beizutragen.

Gleichwohl behielten die einzelnen Länder ein erhebliches Ausmaß an Macht, darunter den größten Teil der Verantwortung dafür, die innere Sicherheit zu wahren. Die Landesregierungen konnten Notverordnungen nach Artikel 48 Absatz 4 erlassen, auch wenn entweder der Reichstag oder der Reichspräsident ihre Aufhebung verlangen konnten. Die Aufsicht auf Reichsebene wurde jedoch durch die Schwäche der Reichsregierung eingeschränkt. Diese verließ sich zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf die Verwaltung und Polizei der Länder, während sie sich bei der Verteidigung der Republik gegen rechte Gruppen nicht auf die nationale Armee verlassen konnte, selbst wenn ein solcher Fall den Reichspräsidenten dazu veranlassen sollte, den Notstand auszurufen. Als Bayern, ein großes Land mit eigener Verwaltung und Polizei, sich 1922 nach der Ermordung Walther Rathenaus weigerte, die gegen die extreme Rechte gerichteten Gesetze anzuwenden, konnte das Reich wenig tun, selbst wenn es von Artikel 48 Gebrauch gemacht hätte, um die Einhaltung der Reichsgesetze zu fordern: Die Anwendung dieser Gesetze oblag bayerischen Richtern, und die bayerische Polizei setzte die Gesetze mit grundsätzlicher Voreingenommenheit gegen die Linke und zugunsten der Rechten durch, wie die nachsichtige Behandlung Adolf Hitlers nach seinem Putschversuch zeigte. Im Gegensatz dazu konnte Ebert in den kleineren Ländern Sachsen und Thüringen die Reichswehr zur Niederschlagung der Kommunistischen Partei entsenden.33

Die politische Realität gab den größeren Ländern also weitaus mehr Macht, als aus der Verfassung selbst ersichtlich ist. Tatsächlich ermöglichte diese Realität es Preußen, zum Hüter der Republik zu werden, selbst als die Wähler sich antirepublikanischen Parteien zuwandten und die Reichsregierung versuchte, die Verfassung auszuhöhlen. Gleichzeitig verhinderte die Struktur des Reichsrats jedoch, dass Preußen zu einer stärkeren Quelle der Stabilität in der Reichspolitik werden konnte. Und über allem schwebte das Problem, dass Preußen über 60 Prozent des Territoriums und der Bevölkerung Deutschlands umfasste, eine Art Staat im Staate. Das Föderalismusproblem beschäftigte die Reformer während der gesamten Lebensdauer der Weimarer Republik, und zwar auf bisweilen überraschende Weise.34 Ein überzeugter Demokrat wie Hans Nawiasky argumentierte für Bayern, dass die neue Verfassung auf einem Vertrag mit den alten Bundesstaaten beruhe, eine Konstruktion, welche die Rechte der Länder stärken sollte; sein Argument stimmte auch mit den partikularistischen Zielen der konservativen bayerischen Regierung überein. Diese extreme Lesart war zweifellos unzutreffend, doch erfasste Nawiasky einen grundlegenden Teil der Weimarer Verfassung: die Vorstellung, dass sowohl der Zentralstaat als auch das Land unter derselben Verfassung stehen. „Souverän“ in eigentlichen Sinn waren beide nicht, da beide dem Gesetz unterstanden. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums vertrat der Konservative Carl Schmitt die Auffassung, starke Landesrechte stünden nicht im Einklang mit dem nationalen, mithin einheitlichen Charakter der Weimarer Verfassung, eine Sichtweise, die auch der Position des Demokraten Hugo Preuß entsprach.35

Diese theoretischen Positionen gerieten im Juli 1932 ins Blickfeld, als die Papen-Regierung per Notverordnung des Reichspräsidenten die von einer pro-republikanischen Koalition gebildete preußische Übergangsregierung zerschlug. Nicht nur ersetzte der von Hindenburg ernannte neue Reichskanzler Franz von Papen die Regierung durch einen Kommissar, sondern auch die preußischen Delegierten im Reichsrat wurden abgesetzt, was sich direkt auf die reichsweite Vertretung des Landes auswirkte. Zudem wurden die meisten Polizeichefs ausgetauscht, um sicherzustellen, dass die Polizei der politischen Richtung des Zentralstaates anstandslos folgen würde. Die Rechtfertigung hierfür war fadenscheinig: Reichspräsident Hindenburg hatte ein Verbot der SA ausgesetzt und damit eine Welle der Gewalt in ganz Deutschland ausgelöst. Nun warf er der preußischen Regierung vor, die Gewalt nicht eindämmen zu können und die Kommunistische Partei zu unterstützen, eine Partei, die von der republikanischen Koalition klar abgelehnt wurde. In erster Linie ging es hier zwar um die Machenschaften von Papens und Hindenburgs, aber auch um tiefergehende Fragen des Föderalismus: für und gegen das Recht der Gerichte auf Überprüfung der Exekutivgewalt, für und gegen die Rechte der Länder und nicht zuletzt um das Verhältnis von Verfassung und konstituierten Organen des Zentralstaates.36

Die direkte Demokratie stellte ein weiteres Strukturprinzip der Weimarer Verfassung dar. Obwohl in der Praxis von begrenzter politischer Bedeutung, trug das Vorhandensein direktdemokratischer Instrumente dazu bei, der Weimarer Verfassung den Ruf der demokratischsten Verfassung ihrer Zeit zu verleihen. Unter bestimmten Voraussetzungen konnte eine Volksabstimmung durchgeführt werden, um über strittige Angelegenheiten zu entscheiden, wie etwa die Billigung neu gezogener Landesgrenzen (Art. 18); die Abstimmung über ein Gesetz, wenn sich der Reichspräsident dafür entschied, ein vom Reichstag gebilligtes Gesetz dem Volk vorzulegen (Art. 73 Abs. 1); die Forderung nach einer Volksabstimmung über ein vom Reichstag abgelehntes Gesetz, wenn mindestens 30 Prozent der Reichstagsabgeordneten für das Gesetz gestimmt hatten (Art. 73 Abs. 2); die Beilegung einer Streitigkeit zwischen Reichstag und Reichsrat auf Anordnung des Reichspräsidenten (Art. 74 Abs. 3); die Zustimmung zu einer Verfassungsänderung des Reichstags, wenn der Reichsrat dies verlangte (Art. 76); und die Abstimmung über ein von der Bevölkerung eingebrachtes Gesetz, wenn der Reichstag es ablehnte (Art. 73 Abs. 3).37 Mit Ausnahme der letztgenannten Bestimmung verlangten alle diese Regeln, dass ein vom Volk direkt oder indirekt gewähltes Organ (Reichspräsident, Reichstag, Reichsrat) das Verfahren einleitete: Sie gingen also weder wirklich direkt vom „Volk“ aus noch erfolgten sie automatisch, auch nicht im Fall von Verfassungsänderungen. Mit Ausnahme der letztgenannten wurde zudem während der Weimarer Republik keine dieser Regeln tatsächlich angewandt.

Was Volksentscheide über Volksbegehren betrifft, so kamen nur zwei tatsächlich zur Abstimmung. Die Volksabstimmung von 1926 über die Enteignung des Eigentums der ehemaligen deutschen Fürstenhäuser warf die Frage auf, was mit dem Eigentum der Hohenzollern und anderer Herrscherhäuser geschehen sollte, das vor der Revolution quasi mit dem Staat identisch, nun jedoch privat geworden war. Die Sozialdemokraten und Kommunisten forderten die entschädigungslose Enteignung der ehemaligen Fürsten und erfuhren hierbei ein gewisses Maß an Unterstützung von Politikern des Zentrums und der Demokratischen Partei. Ein erfolgreicher Volksentscheid erforderte eine positive Mehrheit von mindestens der Hälfte aller qualifizierten Wähler, ein großes Quorum, das eine erhebliche Hürde für Volksbegehren darstellte. Eine massive Kampagne von rechts rief zum Boykott der Abstimmung auf. Obwohl die Wählerinnen und Wähler den Volksentscheid mit einer Mehrheit von mehr als zehn zu eins unterstützten, taten dies nur 39,3 Prozent der Wahlberechtigten, sodass er scheiterte. Eine zweite, von der Kommunistischen Partei unterstützte Volksabstimmung im Jahr 1928 versuchte den Bau eines Panzerkreuzers zu blockieren und damit zugleich die Unterstützung für die Sozialdemokraten zu untergraben. Der Kommunistischen Partei gelang es, alle Parteien gegen sich aufzubringen, und sie war letztlich nicht einmal in der Lage, genügend Unterschriften für eine Abstimmung zu sammeln. Die dritte Volksabstimmung über das sogenannte „Gesetz gegen die Versklavung der deutschen Nation“ (Freiheitsgesetz), wurde 1929 von den Nationalsozialisten und der rechtsextremen DNVP initiiert und forderte ein Ende aller Reparationszahlungen. Die Petition erhielt kaum genug Stimmen, um eine Volksabstimmung zu rechtfertigen, und wieder einmal nahmen die Gegner einfach nicht an der Volksabstimmung selbst teil. Etwa 15 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung stimmten tatsächlich ab und befürworteten die Forderung nachdrücklich – sie lieferten jedoch nicht genügend Stimmen, um diese zum Gesetz werden zu lassen.38 Ein letztes wichtiges Beispiel für direkte Demokratie ist die Wahl des Reichspräsidenten. Doch wie bereits erwähnt, brachten die beiden Reichspräsidentenwahlen in der Weimarer Republik kein klares, vom Volk erteiltes Mandat für den Wahlsieger hervor, sondern eher noch mehr Uneinigkeit. Die Stimme des Volkes war also entweder schwach oder gespalten.

Aufbruch und Abgründe

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