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1. Neue Wählerinnen und Wähler

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Mit dem Verfassungswandel vom Kaiserreich zur Republik wurde die Staatsbürgerlichkeit im Deutschen Reich, soweit sie sich in der Wahlberechtigung manifestierte, erheblich ausgeweitet.7 Vor allem waren nun Frauen in gleicher Weise wahlberechtigt wie Männer, was die Wählerschaft – auch aufgrund des kriegsbedingten Frauenüberschusses – mehr als verdoppelte: 1919 stellten Frauen 54 Prozent aller Wahlberechtigten. Die Forderung nach dem Frauenwahlrecht war seit dem späten 19. Jahrhundert immer lauter geworden, und in Nordeuropa war sie auch noch vor dem Ersten Weltkrieg Realität geworden. Besonders die Sozialdemokratie hatte sie erhoben, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass ihr dieser Einsatz durch weibliche Stimmen honoriert werden würde.8 Mit der Revolution trat sofort und ohne große Diskussion das Frauenwahlrecht auf den Plan, und die provisorische Revolutionsregierung führte in einem ihrer ersten Akte im November 1918 das Frauenwahlrecht ein.9 Darauf folgten zahlreiche Publikationen der politischen Erziehung, die den Frauen politisches Engagement nahebringen und sie das Wählen „lehren“ wollten.10


Abb. 7.1: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 waren erstmals Frauen wahlberechtigt. Das Foto zeigt eine Gruppe von Wählerinnen vor einem Wahllokal in Berlin.

Das Wahlalter wurde von 25 auf 20 Jahre gesenkt, sodass eine erhebliche Verjüngung der Wählerschaft eintrat. Auch weil seit 1912 keine Wahl mehr stattgefunden hatte, waren nun schätzungsweise zwölf Millionen junge Erstwählerinnen und Erstwähler, die ihre jugendliche Sozialisation unter Kriegsbedingungen durchlaufen hatten, zur Wahl aufgerufen. Darunter waren etwas mehr als fünf Millionen Männer, viele von ihnen Kriegsveteranen.11 Zu diesen beiden großen neuen Gruppen kamen Hunderttausende Zuwanderer und Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Westen und Osten sowie deutschstämmige Flüchtlinge aus Russland. Bis Mitte der 1920er Jahre sollte auf diese Weise etwa eine Million Menschen nach Deutschland zuwandern – Menschen, die Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft hatten und somit wahlberechtigt waren.12 Damit erweiterte sich die Wählerschaft um das 2,5-Fache, von 14,4 Millionen bei der letzten Reichstagswahl vor dem Krieg 1912, auf 37,4 Millionen bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919. Weit mehr als die Hälfte der Wähler gab das erste Mal die Stimme ab. Bis 1933 sollte die Zahl der Wahlberechtigten auf 44,2 Millionen wachsen.13 In reinen Zahlen brachte die Weimarer Republik eine revolutionäre Ausweitung politischer Partizipation mit sich.

Diese Ausweitung war politisch nicht neutral. Allerdings gingen nicht alle Veränderungen in die gleiche Richtung.14 Den Zugewanderten wird man eher eine Neigung nach rechts unterstellen dürfen. Bei den Jungwählern wählte dagegen der weitaus überwiegende Teil links – von den Soldaten womöglich bis zu 75 Prozent – und viele auch die radikalere Variante, die USPD. Während jedoch die Jungwähler zunächst keine besondere Beachtung der Wahlstrategen fanden, standen die Frauen von Anfang an im Fokus aller Parteien und wurden mit einer eigenen Gruppenidentität angesprochen.15 Sie wählten deutlich überwiegend konservative Parteien, die DNVP und vor allem das katholische Zentrum.16 Das verstörte die linken Parteien zutiefst, besonders die DDP, die sich als „Frauenpartei“ verstand (was nicht bedeutete, dass sie den Frauen großen Einfluss in den Parteigremien zuzugestehen gedachte).17 Doch sozialistischer Klassenkampf und kultureller Liberalismus wirkten auf die Frauen weniger attraktiv als das Versprechen, die Tradition, die Familie und die Religion zu bewahren. Seit 1919 liegen, wenn auch nicht umfassend, nach Geschlechtern differenzierende Sonderauszählungen vor.18 Nach den Berechnungen Detlef Lehnerts wählten 1919 etwa 20 Prozent mehr Männer als Frauen SPD oder USPD, was heißt, dass etwa 40 Prozent der Frauen, aber mindestens 50 Prozent der Männer links wählten.19 In den 1920er Jahren reduzierte sich diese Differenz auf 10 bis 15 Prozent.20 Die neue Bedeutung von Frauen als politische Subjekte hatte auch Folgen für die parlamentarische Vertretung. Die Wahlen zur Nationalversammlung brachten fast 10 Prozent weibliche Abgeordnete. Das war im internationalen Vergleich ein Spitzenwert, und in Deutschland wurde er erst in den 1980er Jahren dauerhaft übertroffen. Im Verlauf der Republik sank dieser Anteil allerdings bis auf 4 Prozent im März 1933 – je weiter die Republik nach rechts rückte, desto weniger weiblich wurde ihre Volksvertretung.21

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