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Nationalismus und nationale Zugehörigkeit

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Erin R. Hochman

In einer Broschüre aus dem Jahr 1926 erklärte Gustav Radbruch, Mitglied der SPD und ein bekannter Rechtstheoretiker: „Die deutsche Nation endet nicht an den deutschen Grenzen, sie umfaßt die deutschen Minderheiten in allen Gebieten, die unser geschichtliches Schicksal von dem Gebiete des deutschen Reiches getrennt hat. Sie umschließt vor allem unsere Stammesbrüder in Deutsch-Oesterreich.“ Im Weiteren sprach er sich für einen „Anschluß“ Österreichs an Deutschland aus, ganz nach dem von ihm angestrebten Ziel „ein Volk, ein Reich“.1

Radbruchs Wortwahl, die man eher von einem Vertreter des rechtsradikalen Flügels als von einem sozialdemokratischen Politiker der Weimarer Republik erwartet hätte, ist auf den ersten Blick überraschend. Schließlich waren es die radikalen Rechten wie die Nationalsozialisten, die beständig ihre Entschlossenheit betonten, die Grenzen Deutschlands auszudehnen, um alle „Volksdeutschen“ in einem Staat zu vereinigen. Die Rede von „ein Volk, ein Reich“ klingt zunächst mehr nach einem Nationalsozialisten. Dieses Motto, dem später noch „ein Führer“ angehängt wurde, avancierte im Jahr 1938 im Umfeld der Annexion von Hitlers Geburtsland zu einem beliebten Slogan. Der „Anschluss“ erweiterte die Machtsphäre der nationalsozialistischen Diktatur und ermöglichte brutale antisemitische Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung Österreichs. Radbruchs Rhetorik scheint also Ausdruck eines antisemitischen, militaristischen und autoritären Nationalismus zu sein, den man gemeinhin mit den Nationalsozialisten im Besonderen und mit Deutschland im Allgemeinen assoziiert. Doch auch wenn Radbruch hier die gleiche nationale Sprache benutzte wie rechte Gruppierungen, verband er damit eine völlig andere Bedeutung als seine Gegner. Während die Nationalsozialisten der Weimarer Republik feindlich gegenüberstanden, weil sie die Demokratie für undeutsch hielten, hatte Radbruch seine Broschüre anlässlich des siebenjährigen Bestehens der Weimarer Verfassung geschrieben, die er damit ehren und feiern wollte. Seiner Auffassung nach waren es gerade deutscher Nationalgeist und Vaterlandsliebe, welche die demokratische Republik mit Leben erfüllten. Nicht nur die politische Basis seines Nationalismus, sondern auch seine Definition der deutschen Nation unterschied sich fundamental von jener der Nationalsozialisten. Weiter heißt es bei Radbruch im selben Absatz:

Nation ist uns [Republikanern] aber nicht eine Gemeinschaft der Abstammung und des Blutes, die es in Reinheit nicht gibt, sondern eine Gemeinschaft des geschichtlichen Schicksals und der lebendigen Kultur. […] Wie sollte nicht im Geiste einer Verfassung, die der Völkerversöhnung nachdrücklich gedenkt, viel mehr noch die Rassenversöhnung innerhalb des deutschen Volkes beschlossen sein, das festverankerte Bewußtsein, daß Deutsche verschiedener Abstammung dennoch Deutsche gleichen nationalen Geistes und Wertes sind!2

Zur Erläuterung: Radbruch sah auch in Menschen mit jüdischem, sozialistischem und Migrationshintergrund „Volksgenossen“, ein Verständnis von nationaler Zugehörigkeit, das die politische Rechte lautstark bestritt. Diese Kombination von Bewunderung für die demokratische Republik, einem Glauben an den deutschen Nationalismus, dem Ziel einer Vereinigung mit Österreich und einem sozial integrativen Verständnis von Zugehörigkeit zur deutschen Nation war nicht auf Radbruch beschränkt. Auch andere Mitglieder von SPD, linksliberaler DDP und dem linken Flügel des Zentrums teilten solche und ähnliche Vorstellungen. Diese „Republikaner“ – ein Ausdruck, den die Anhänger der Republik für sich selbst wählten – verstanden den deutschen Nationalismus als einen wesentlichen Bestandteil ihrer Legitimierung und Verteidigung des ersten genuin demokratischen Experiments auf deutschem Boden, sowie als zentralen Faktor für ihren Stolz und ihre Begeisterung über die Republik.

Radbruchs Broschüre ist nur ein Beispiel unter vielen, das zu einem Umdenken über den deutschen Nationalismus in der Weimarer Republik auffordert. Seitdem die Nationalsozialisten ihren genozidalen Krieg im Namen der deutschen Nation entfesselten, hat die geschichtswissenschaftliche Forschung den Ursprung ihres mörderischen Regimes im deutschen Nationalismus verortet. Diesen Argumenten zufolge war der deutsche Nationalismus schon von Beginn an antisemitisch, rassistisch und antidemokratisch, ein „schlechter“ Nationalismus, der auf ethnischen und rassischen Definitionen von nationaler Zugehörigkeit beruhte. Dem setzte die Forschung den „guten“, staatsbürgerlichen Nationalismus oder Patriotismus nach dem Zuschnitt der westlichen Demokratien entgegen, dem zufolge alle Staatsbürger als der Nation zugehörig verstanden wurden.3 Doch diese Unterscheidung sieht darüber hinweg, dass es nicht nur einen einzigen deutschen Nationalismus gab, vor allem nicht während der Weimarer Jahre. Zweifellos haben Konservative und radikale Rechte in der Weimarer Ära die rassistische, antisemitische, autoritäre und militaristische Spielart des deutschen Nationalismus im Kampf gegen die Demokratie, die Republikaner und die internationale Nachkriegsordnung benutzt. Die politische Rechte war aber nicht die einzige Stimme des deutschen Nationalismus während der Zwischenkriegszeit. Wie neuere Forschungen zeigen, schmiedeten Republikaner ihre ganz eigene Version des deutschen Nationalismus, um das neue politische System populär zu machen.4 Entgegen den Behauptungen ihrer Gegner betonten sie, dass sich Demokratie und Deutschland, Internationalismus und Nationalismus, Deutsche und Juden keineswegs gegenseitig ausschlössen. Diese Republikaner schufen einen deutschen Nationalismus, der demokratisch, friedlich und sozial integrativ war. Das folgende Kapitel will daher zeigen, dass es mehrere sich gegenseitig widersprechende Versionen des deutschen Nationalismus in der Weimarer Republik gab.


Abb. 6.1: Dieser vermutlich zu einer der beiden Reichstagswahlen des Jahres 1924 von der DNVP verbreitete Klebezettel spielt ungeniert auf der Klaviatur des rassistischen Ressentiments gegen schwarze Soldaten der französischen Besatzungstruppen im Rheinland, die Bolschewiki und Juden.

Dass Sinn und Zweck des deutschen Nationalismus umstritten waren, lag nicht nur am tumultartigen Charakter der Weimarer Demokratie. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, lange noch bevor ein deutscher Staat überhaupt existierte, wurde über die sogenannte „Deutsche Frage“ diskutiert. Zu dieser Zeit begann die über mehrere Freie Reichsstädte, Königreiche, Fürsten- und Herzogtümer verstreute deutschsprachige Bevölkerung eine Debatte darüber, welche Form eine zukünftige deutsche Nation haben sollte. Die Deutsche Frage umfasste Aspekte der Politik, Geografie und Bevölkerung: Welche Regierungsform würde am besten zu Deutschland passen? Wo sollten die Grenzen des deutschen Nationalstaats verlaufen? Wer sollte zur deutschen Volksgemeinschaft gehören? Solche Fragen wurden zum ersten Mal ernsthaft während der Revolution von 1848/49 angegangen, als deutschsprachige Vertreter aus ganz Mitteleuropa sich im Frankfurter Parlament zur Bildung eines vereinigten Deutschlands versammelten. Die Abgeordneten stritten über eine das österreichische Kaiserreich einschließende großdeutsche oder eine von Preußen dominierte kleindeutsche Lösung ohne Österreich. Sie diskutierten auch über die vom neuen Staat zu garantierenden Rechte und seine konstitutionelle Grundlage.5 Letztlich blieben ihre Bemühungen ergebnislos, da die Revolution von der Habsburgermonarchie und den preußischen Hohenzollern niedergeschlagen wurde. Viele Aspekte der Deutschen Frage sollten später von dem preußischen konservativen Aristokraten Otto von Bismarck gelöst werden, der Preußens Machtsphäre auszudehnen gedachte. Mittels dreier Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zwischen 1864 und 1871 schmiedete Bismarck einen kleindeutschen, größtenteils autoritär regierten, Staat. Zwar schuf er den Reichstag mit Abgeordneten, die durch ein allgemeines Männerwahlrecht eingesetzt wurden, doch die Macht im Staat blieb in den Händen des Kaisers.

Während Bismarck die Deutsche Frage hinsichtlich der Grenzen und der politischen Verfasstheit auf seine Weise gelöst hatte, gab es auch nach der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 weiterhin ausgedehnte Diskussionen über die Frage der Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft. Bismarck versuchte die Macht der Konservativen im neuen Staat zu festigen, indem er seine Gegner zu „Reichsfeinden“ erklärte. Er behauptete, dass die größere Loyalität der Katholiken zum Papst und die Hinwendung der Sozialisten zur internationalen Arbeiterklasse unpatriotisch seien. Beide Gruppen bestritten Bismarcks Zuschreibung heftig.6 Auch wenn sich viele Deutsche mit jüdischem Hintergrund offen zu ihrem Deutschtum bekannten, machten sich immer mehr Konservative einen pseudowissenschaftlichen Rassismus zu eigen, der Juden ebenso wie Schwarze Menschen aufgrund vermeintlich unveränderlicher Rassenunterschiede aus der deutschen Volksgemeinschaft ausschloss.7 Erschwerend für die Beantwortung der Frage nach der Zugehörigkeit zur deutschen Nation kam der Begriff der „Kulturnation“ hinzu, der auch die deutschsprachige Bevölkerung jenseits der Grenzen des Deutschen Reichs einschloss.8 So hatte Bismarck Deutschland zwar „vereinigt“, doch seine innere Einigkeit war weiterhin schwer zu fassen, und Diskussionen über die Frage, wer Deutscher sei, dauerten an.

Zunächst schien der Erste Weltkrieg der ungelösten Frage nach nationaler Zugehörigkeit ein Ende zu setzen. Immerhin hatte Kaiser Wilhelm II. erklärt, er kenne keine Parteien oder Konfessionen mehr. Diese Proklamation weckte in der Bevölkerung die Hoffnung, der Krieg würde die politischen, religiösen und sozialen Spaltungen überbrücken, die das Kaiserreich so geplagt hatten, und auf diese Weise eine alle Deutschen ungeachtet ihres Hintergrundes umfassende, vereinigte „Volksgemeinschaft“ schaffen. Als sich der Krieg hinzog, die Opfer immer größer wurden und die alten Spaltungen wieder auftauchten, wich dieses Einheitsgefühl einer wachsenden Desillusionierung. Die politische Rechte machte sich radikale nationalistische Ziele zu eigen, beispielsweise die Forderungen nach umfangreichen Annexionen und der Ausweisung „Nicht-Deutscher“ aus den eroberten Gebieten, und dämonisierte gleichzeitig vermeintliche „innere Feinde“. Im Unterschied dazu lehnten SPD, Zentrum und die linksliberale Vorgängerpartei der DDP annexionistische Kriegsziele ab und forderten, das „Volk“ müsse eine größere Rolle in der Politik spielen. Diese gegensätzlichen nationalen Ziele wurden in die Nachkriegszeit hineingetragen, als Deutsche unterschiedlicher politischer Ausrichtung eine wahre „Volksgemeinschaft“ zu schaffen suchten. Der Begriff der Volksgemeinschaft, dessen Popularität durch den Krieg stark zugenommen hatte, wurde auch nach November 1918 weiterhin von rivalisierenden politischen Gruppierungen völlig unterschiedlich verstanden.9

Die nationale Idee spielte eine Schlüsselrolle in den politischen und kulturellen Kämpfen, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entbrannten. Internationale Entwicklungen trugen zu dieser Konfliktstellung bei. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung, die Schaffung von nur vermeintlich national homogenen Nationalstaaten nach dem Zerfall der großen Vielvölkerstaaten im Herzen Europas und die Bildung des Völkerbunds zementierten die Bedeutung des Konzepts der Nation für die internationale und innenpolitische Politikgestaltung.10 Die Nachwirkungen des Krieges verliehen darüber hinaus der Deutschen Frage und all ihren Aspekten in Deutschland selbst eine neue Dringlichkeit. Verschwunden waren die kleindeutschen Grenzen und das von Bismarck geschaffene monarchische System. Die Revolution von 1918 und die neu gezogenen Grenzen in Mitteleuropa boten den Deutschen verlockende Möglichkeiten, neue Ideen darüber, welches politische System, welche Grenzen und Bevölkerungen am besten zu Deutschland passten, zu entwickeln und umzusetzen. Jeder der hier folgenden Abschnitte nimmt zunächst in den Blick, wie die Gegner der Republik diese Aspekte der Deutschen Frage beantworteten, und wendet sich dann den Lösungsvorschlägen der Republikaner zu.

Aufbruch und Abgründe

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